# taz.de -- Kunsttipps der Woche: Kosmische Umkehrbrille
       
       > Nothingness 2.0 mit Ruben Grilo. Das Duo PPKK lenkt mit Videokunst zur
       > Archenhold-Sternwarte die Perspektive auf den transatlantischen
       > Sklavenhandel.
       
 (IMG) Bild: Ruben Grilo, Installationsansicht „Lasers & HowTo's“
       
       „Almost nothing“ soll Mies van der Rohe zu seinem eigenen Gebäude, der
       Crown Hall auf dem IIT-Campus in Chicago, gesagt haben. Sein Ausspruch von
       einem „beinahe Nichts“ hat den deutsch-amerikanischen Architekten nicht nur
       mehr zum Heros der Moderne erhoben, es ist in der Kunst ein geflügeltes
       Wort geworden für Schlichtheit trotz Komplexität, für den guten Geschmack.
       „Almost nothing“ denkt man auch in Ruben Grilos Ausstellung in der
       [1][Future Gallery], hier kommt aber das Nichts in Begleitung eines
       Ratlos-Smileys daher: So viel Gebläse und Gekabel und trotzdem „beinahe
       nichts“ zu sehen! Neun Laser projizieren flirrend je eine kleine
       Shrek-grüne Zeichnung an die Wand, vier großformatige Prints zeigen
       undefinierte leere Innenräume, die wenig erkennbaren Motive wie
       Parkettboden oder Fensterrahmen sind blurry.
       
       Grilo gibt der viel beschworenen Nothingness in der Kunst – derzeit widmet
       die AdK ihr eine ganze Ausstellung – eine anti-ästhetische Wendung: das
       innere Nichts, das im letzten Jahr der Pandemie nach Monaten der
       Kontaktbeschränkungen und des harten Lockdowns, wie Grilo ihn in Spanien
       erlebt hatte, zu einem psychischen Zustand wurde, endet hier in entleerten
       digitalen Gesten:
       
       Die Laser projizieren händische Zeichnungen. Abstrakte Muster ohne
       Bedeutung, die Ruben Grilo allein aus der Erinnerung der Bewegung möglichst
       exakt zu reproduzieren versuchte. Diese rein geistige Übung übertrug er zu
       einer absurden Übung der Maschine. Was wiederum wie ein vorprogrammiertes
       Template eines Illustrationsprogramms wirkt, nämlich die Interieurs an der
       Wand, sind von individueller Autorschaft. Grafikerinnen, die auf den
       Philippinen zu einem schlechten Freelance-Lohn Anleitungen für DIY-Projekte
       der Online-Plattform wikiHow illustrieren, fertigten sie an.
       
       Die scheinbar emanzipatorischen, Community-orientierten Rezepte für
       diverseste Dinge wie Stinkbomben oder Sahnesaucen von wikiHow sind ein
       Business und dies fuhr in Zeiten der allgemeinen Lockdown-Langeweile zur
       Hochkonjunktur auf. Doch anstatt noch mehr Inhalte illustrieren zu lassen,
       beauftragte Grilo die sechs Grafiker:innen damit, im gewohnten
       wikiHow-Stil einfach nur Leere darzustellen. Die individuelle, gefühlte
       Nothingness wird in Ruben Grilos Ausstellung „Lasers and How To’s“ zur
       Nothingness 2.0, inklusive digitaler Lieferketten.
       
       ## Der Treptower Park aus anderer Warte
       
       An einer kuriosen Konstruktion auf dem Dach einer Villa im Treptower Park
       trifft lokale Geschichte auf den Äther. Die „Himmelskanone“, das längste
       Linsenfernrohr der Welt, ließ der Astronom Simon Friedrich Archenhold
       erstmals 1896 anlässlich der Berliner Gewerbeausstellung im Park aufbauen.
       Archenhold, dessen Familie später unter den Nationalsozialisten wegen ihres
       jüdischen Hintergrunds verfolgt und ermordet wurde, war auch Begründer der
       gleichnamigen Archenhold-Sternwarte.
       
       Sie hat Krieg und DDR-Zeit überdauert und ist heute ein verwunschenes
       Kabinett der Theorien und Modelle um das, was außerhalb des Irdischen
       liegt. Das Online-Projekt „The Sky was the Limit“ macht diesen besonderen
       Ort zum Schauplatz von vier künstlerischen Filmproduktionen. Zwei davon
       sind mittlerweile frei streambar.
       
       Philipp Modersohn, den man eher für seine Bildhauerarbeiten kennt, dreht in
       einem heiter ironischen Clip das phallusartig aufgerichtete Teleskop auf
       dem Dach zu einem spiralförmigen Erdbohrer um und lässt Spektren der
       Erdzeitalter als riesige Würmer durch das heutige Berlin tänzeln.
       Historische und rekonstruierte Fassaden der Stadt versinken dann in der
       Verhältnislosigkeit angesichts fröhlich sich windender Millionenjahre.
       
       Das Duo PPKK (Schönfeld & Scoufaras) hingegen sorgt für einen kosmischen
       Kurzschluss mit dem Jahr 1896. Es ist das Jahr der Berliner
       Gewerbeausstellung, eine Demonstrationsschau des Kaiserreichs, in der auch
       lebende Menschen aus kolonisierten Gebieten wie Objekte gezeigt wurden.
       Zeitgleich veröffentlichte der US-amerikanische Menschenrechtler W.E.B. Du
       Bois seine kritische Abhandlung über den transatlantischen Sklavenhandel,
       und der Psychologe George M. Stratton erfand für die innere Reflexion eine
       Brille, durch die alles verkehrt herum wahrgenommen wird.
       
       PPKK ließen Performer:innen vor Teleskopen der Sternwarte mit
       Ausrichtung auf ein Sternensystem, das aufgrund der Lichtjahre-weiten
       Entfernung ein Bild von 1896 widergibt, aus jener Umkehrbrille Passagen von
       W.E.B. Du Bois vorlesen. Ihr Video ist ein ikonoklastisches
       Austreibungsritual der Geschichte. Zwei an den Nerven zerrende, irrwitzige,
       auf den Kopf gestellte Stunden, während derer man auch mal eine queere
       Mutter Gottes auf der Himmelskanone zu sehen meint, die holprig über
       Lizenzen privater Sklavenhändler für die verheerende Atlantikpassage
       referiert.
       
       2 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://futuregallery.org/lasers-and-howtos/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sophie Jung
       
       ## TAGS
       
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