# taz.de -- Theaterstück über gezüchtete Menschen: Todgeweihte in der Pubertät
       
       > Die Braunschweiger Adaption des Romans „Alles, was wir geben mussten“
       > erzählt höchst intensiv von humanen Klonen, die medizinisch ausgebeutet
       > werden.
       
 (IMG) Bild: Stiller Schmerz: Szene aus dem Stück „Alles, was wir geben mussten“ in Braunschweig
       
       Eine Treppe führt nach oben ins Freie. Flucht ist also möglich für die
       Freundesclique im leeren Schwimmbecken. Eine Flucht nach draußen, wo auch
       Kindergeschrei zu hören ist. Aber niemand klettert einfach mal raus. Alle
       verharren in der Versenkung wie Gefangene. Sitzen entgeistert in der Ecke,
       hängen derangiert an der Leiter, schleichen an den Wänden entlang oder
       tigern im Kreis herum, als wären sie hospitalisierte Zootiere.
       
       Drei Darsteller:innen von Heranwachsenden aus dem Roman „Alles, was wir
       geben mussten“ des englischen [1][Literaturnobelpreisträgers Kazuo
       Ishiguro] hat Regisseurin Felicitas Brucker auf der kleinen Bühne des
       Staatstheaters Braunschweig versammelt. Wie in der Vorlage tritt Kathy
       (Nina Wolf) als Protagonistin hervor, macht sich als Ich-Erzählerin
       kenntlich und beginnt ihre Lebenserinnerungen in eine Kamera zu sprechen –
       bald steigen die Kolleg:innen ein, um die Rückblickszenen auch zu spielen.
       
       Nach dem Schulabschluss müssen sie so lange als Betreuer ihresgleichen
       arbeiten, bis sie selbst Betreuung brauchen. Denn alle gehören zu einer
       Gruppe humaner Klone, gezüchtet als Ersatzteillager der Menschheit. Ihnen
       werden auf betuchte Nachfragen von Kranken die Eingeweide entnommen oder
       Körperteile amputiert.
       
       Grausamer ist die kapitalistische Instrumentalisierung des lebenstragenden
       Körpers kaum darzustellen. Gibt es doch längst nicht mehr nur das Blut als
       umsatzstarkes Produkt, der ständig steigende Bedarf an Transplantationen
       hat den globalen Organhandel kommerziell einträglich gemacht mit teilweise
       mafiösen Strukturen.
       
       Autor wie Regie lassen nun aber keinen bösen Kapitalisten der
       Reproduktionsmedizin auftauchen, auch ein strubbelhaarig verrückter
       Professor fehlt im Stückpersonal als Sinnbild der moralischen erodierenden
       Biotechnologie, die Erbgut lebendiger Wesen manipuliert und dupliziert.
       
       Statt auf die mahnend gruselnde Science-Fiction-Dystopie zu setzen, widmet
       sich Felicitas Brucker höchst präzise dem Erwachsenwerden als Einübung
       vorgefundener Regeln und Hierarchien. Dabei ist das Schwimmbecken keine
       Erfindung der Bühnenbildnerin. Es fungiert bereits im Roman als Rückzugsort
       der Jugendlichen und funktioniert nun trefflich als symbolischer Ort
       unbehausten Daseins sowie für ein Gefühl der Ausweglosigkeit und Bedrohung.
       
       Die abgeschottet lebensfeindliche Anmutung passt auch prima zum
       Handlungsraum Eliteinternat. So wie auf einem Bio-Bauernhof glückliche
       Schweine im echten Matsch vor der Stalltür gezüchtet werden, um später als
       Schlachtopfer den Konsument:innen einen Fleischgenuss mit reinem
       Ökogewissen zu ermöglichen, haben bei Ishiguro ethisch besorgte
       Bürger:innen die Klonaufzucht nach bildungsbürgerlichen Standards
       ausgerichtet, um später einmal ihre neue Leber mit gutem sozialen Gewissen
       anfordern zu können.
       
       Die Schüler:innen sind durch die Abwesenheit von Familie und Außenwelt
       stark auf sich selbst zurückgeworfen. Die etwas kapriziöse Ruth (Larissa
       Semke) sucht mangels Eltern besonders dringlich nach ihrem Original, dessen
       Gene sie besitzt. Aber der Alltag der pädagogischen Anstalt scheint
       banal-normal, die Adoleszierenden necken und inszenieren sich, probieren
       Gesten und Zitate von Filmstars aus, entwerfen träumend Ich-Möglichkeiten
       und mobben Außenseiter wie den fragilen Tommy (Robert Prinzler).
       
       Tommy gehorcht nicht dem strengen Erziehungsstil und hat auch keine Lust,
       sich dem Zwang zu unterwerfen, für eine ominöse Madame ständig neue
       künstlerische Äußerungen zu produzieren. In einer Galerie werden diese
       ausgestellt – als Erinnerung und Beweis für die beseelte Existenz der
       geklonten Wesen. Das legt die Aufführung nahe: Auch wenn Kinder nicht auf
       dem Küchentisch der leiblichen Eltern, sondern im Reagenzglas gezeugt
       werden, Klone sind Menschen wie du und ich.
       
       Aus den Internatskindern werden pubertäre Jugendliche, sie verlieben sich,
       haben ersten Sex, eifersüchteln, lästern über Lehrer, denken an Selbstmord
       oder machen Zukunftspläne, wollen beispielsweise Meeresbiologin oder
       Polarforscher werden. Aber ihnen ist anderes bestimmt. Sie wissen das und
       bleiben allein unter ihresgleichen im Schwimmbecken, zunehmend verunsichert
       in ihrer unerfüllten Sehnsucht, das Meer, die Welt, das Leben zu entdecken.
       Mit verstörender Spielintensität taucht das Ensemble in die Rollen ein und
       nimmt die anrührend aussichtslose Coming-Of-Age-Story schonungslos ernst.
       
       Die Verkörperungen von stillem Schmerz funktionieren in der
       Live-Spielsituation des Theaters viel eindringlicher als in Mark Romaneks
       Verfilmung des Stoffes (2010). Wirken die verlorenen Teenie-Charaktere doch
       so herzlich offen, neugierig und erwartungsfroh sinnsucherisch,
       gleichzeitig aber müssen sie Verdrängungsweltmeister ihrer Situation sein,
       um nicht in Depressionen zu verfallen. So entwickelt die Bühnenhandlung
       einen tragischen Sog – in den Tod. Weil das euphemistisch „Spenden“
       genannte Ausgeweidetwerden geduldet, ja, sogar als Ehre, soziale Tat, als
       Pflichterfüllung empfunden wird.
       
       Diesem Zwiespalt zuzuschauen, der jede Lebensäußerung dämpft und
       verdunkelt, macht traurig und wütend. Denn es drängt die Frage: Warum
       wehren die sich nicht? Man möchte geradezu auf die Bühne stürmen und Kathy,
       Tommy, Ruth wachrütteln. So schnell sind sie einem in ihrer Hilflosigkeit
       ans Herz gewachsen. Und genau darum geht es hier wohl. Da die
       Rahmenbedingungen halbwegs okay sind, also alle ohne materiellen Mangel zu
       kultivierten Menschen herangezogen werden, akzeptieren sie den Status quo
       und damit auch ihren viel zu frühen letalen Abgang, anstatt ins Ungewisse
       zu revoltieren.
       
       Brucker inszeniert die Sozialpsychologie der trägen Masse, die durch
       anerzogene Gewöhnung ein System der Unterdrückung, Ausbeutung bis hin zur
       Selbstaufgabe als selbstverständlich hinnimmt und durch Widerstandsverzicht
       bestätigt. So bekommt die Romanadaption einen höchst politischen Dreh – in
       dieser packenden, vor abgründig stummer Verzweiflung vibrierenden
       Inszenierung.
       
       20 Nov 2021
       
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