# taz.de -- Verdrängung von Gewerbemietern: Mieten gefährden Ihre Gesundheit
       
       > Ungebremst steigende Gewerbemieten bedrohen zunehmend auch Arztpraxen und
       > Apotheken in Berlin – insbesondere die wichtige hausärztliche Versorgung.
       
 (IMG) Bild: Protest gegen die drohende Verdrängung einer Substitutionspraxis in Kreuzberg im November 2021
       
       Kitas und Kinderläden, autonome Zentren, Kultureinrichtungen – immer mehr
       solcher sozialen Einrichtungen in Berlin sind von Verdrängung bedroht. Denn
       die Mieten der Gewerbeflächen, auf die sie angewiesen sind, werden nicht
       vom Mietspiegel oder der Mietpreisbremse begrenzt. Und zunehmend ist von
       den Auswirkungen offenbar auch die medizinische Versorgung betroffen.
       
       Andrea Diebel ist eine von sehr wenigen Neuropsychologinnen in Berlin –
       laut eigener Aussage die einzige im Stadtteil Moabit. Ihre Praxis liegt
       dort in der Oldenburger Straße 30 – noch jedenfalls.
       
       Denn seit Diebels Einzug dort im April 2015 erhöhte der Vermieter die Miete
       um 20 Prozent. Außerdem zog 2018 eine junge Familie in die Wohnung über der
       Praxis, was den Praxisbetrieb in dem Altbau ohne Trittschalldämpfung
       schwierig macht. Denn Diebel arbeitet viel mit Gesprächstherapie und
       Konzentrationsübungen. Ihre PatientInnen sind etwa Menschen, die einen
       Schlaganfall hinter sich haben und ihre Gehirne neu trainieren müssen.
       
       Diebel bat die Hausverwaltung mehrfach um Unterstützung beim Umgang mit dem
       Lärm. Nachdem auf diesem Wege nichts zu erreichen war, klagte sie im April
       2021, um eine Schalldämpfung zu erwirken. Ihren Mietvertrag hatte die
       Ärztin kurz zuvor fristgerecht verlängert. Dennoch kündigten ihr kurz
       darauf, im Juni 2021, ihre VermieterInnen zum Dezember. Es habe einen
       formellen Fehler bei der Verlängerung ihres Mietvertrags gegeben, so die
       Begründung. Einen Fehler, der laut Diebel von den EigentümerInnen selbst
       verschuldet wurde. Der Ausgang des Verfahrens sei ungewiss, teilt der
       Anwalt der Ärztin auf taz-Anfrage mit.
       
       Das Problem der Neuropsychologin ist ein grundlegendes: Arztpraxen können
       um die immer teureren Gewerbeflächen in der Innenstadt zusehends genauso
       wenig mit gewinnorientierten Unternehmen konkurrieren wie Kitas oder
       soziale Einrichtungen. Vor allem für Praxen mit wenig Umsatz – etwa die
       klassischen HausärztInnen – sind die hohen Mieten eine Belastung. Diebel
       erklärt, ihre Recherche habe ergeben, dass sie für eine ähnliche Fläche in
       der Umgebung den doppelten Preis zahlen würde, wenn sie nächstes Jahr
       umziehen müsste.
       
       Auch andere Praxen kämpfen mit den hohen Mieten. So wurde kürzlich der
       Substitutionsambulanz in der Kochstraße gekündigt, weil der öffentliche
       Träger die Gewerbemieteinheit zu „marktüblichen Preisen vermieten“ möchte,
       sagte [1][Norbert Lyonn von der Substitutionsambulanz] der taz. Besonders
       für Praxis-Neueröffnungen sind die immer weitersteigenden Gewerbemieten ein
       Problem. Wer heute eine Praxis gründen möchte, hat es schwer, einen
       bezahlbaren Raum zu finden. Dabei ist mit der seit 2011 stark angewachsenen
       Anwohnerzahl nicht nur Wohnraum knapp, sondern auch ärztliche Versorgung:
       Berlin braucht eigentlich mehr ÄrztInnen, und das nicht nur am Stadtrand.
       
       Stefan Klein, Geschäftsführer der Kiezgewerbe UG, einer Initiative gegen
       Gewerbeverdrängung in Kreuzberg, berichtet der taz von mindestens drei
       Fällen in den vergangenen zwei Jahren, in denen Praxen und Apotheken
       geschlossen wurden, weil aufgrund zu hoher Mieten keine BetreiberInnen mehr
       gefunden wurden. Noch wenigstens acht ähnliche Fälle haben sich in den
       vergangenen Wochen bei der taz gemeldet.
       
       Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin, Burkhard
       Ruppert, klagt, dass gerade in den Bezirken Marzahn, Lichtenberg und
       Treptow immer weniger Hausärztinnen Fuß fassen könnten. Um einer
       medizinischen Unterversorgung vorzubeugen, unterstützt die KV inzwischen
       Neuniederlassungen von HausärztInnen in diesen Bezirken mit bis zu 60.000
       Euro.
       
       Ein großes Problem bei der Erfassung der Entwicklung ist, dass es keine
       Daten zu Gewerbemieten gibt. Es ist also besonders schwer, hier
       systematische Verdrängung festzustellen. Aus diesem Grund fordere die
       Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK) schon lange ein
       Gewerbemietenkataster, also eine Datenbank für Gewerbemieten, so
       IHK-Pressesprecherin Claudia Engfeld. Weder gibt es einen Vergleich noch
       eine Regelung. Die Gewerbemieten bleiben weiterhin von jeder
       Mietpreisbremse ausgeschlossen, ihre Entwicklung nach oben ist damit offen.
       Auch Kündigungsschutz genießen die Gewerbe kaum – für soziale Einrichtungen
       oder eben ÄrztInnen-Praxen eine verheerende Regelung.
       
       ## Grüner Gesetzentwurf gescheitert
       
       Canan Bayram, Bundestagsabgeordnete der Grünen mit Wahlkreis in
       Friedrichshain-Kreuzberg, hatte bereits im Oktober 2020 einen
       Gesetzesentwurf für ein neues Gewerbemietrecht im Bundestag vorgeschlagen.
       Ihr Entwurf ist allerdings gescheitert. Die Hoffnung war damals eine neue
       Koalition im Wahljahr 2021. Im Koalitionsvertrag der Ampel kommt das Wort
       Gewerbemiete jedoch nicht einmal vor.
       
       Was eine Unterversorgung mit ÄrztInnen-Praxen für Berlin bedeuten könnte,
       macht die Pandemie deutlich. Seit Mai 2021 klagen HausärztInnen, dass sie
       mit der zusätzlichen Belastung durch das Impfen überfordert seien. Viele
       Patienten warteten wochenlang auf einen Termin. Die Grüne Canan Bayram sagt
       auf taz-Anfrage: „Ich kämpfe dafür, dass wir in dieser Legislaturperiode
       nach über hundert Jahren endlich ein Gewerbemietrecht in Deutschland
       bekommen, das kleine Gewerbetreibende und soziale Träger schützt.“ Aber ob
       ein so schwieriges Thema durchzubringen ist, wenn es im Koalitionsvertrag
       nicht einmal vorkommt?
       
       26 Dec 2021
       
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