# taz.de -- Offener Brief zur Fluchtpolitik der EU: Politisch instrumentalisiert
       
       > Die Lage der Geflüchteten an der polnisch-belarusischen Grenze ist
       > inhuman. Dieser Brief ist ein Appell an Europa, sich nicht zu einem
       > rechtsfreien Raum zu entwickeln.
       
 (IMG) Bild: Sicherheitsleute in Belarus bewachen die Ausgabe humanitärer Hilfsgüter an Geflüchtete
       
       Dies ist ein offener Brief der Autorin Dorota Dakowska. Sie ist Politologin
       an der Sciences Po Aix en Provence und hat den Offenen Brief initiiert, den
       mitterweile mehr als 200 Wissenschaftler*innen aus 20 Ländern
       unterzeichnet haben, darunter Naika Foroutan, Steffen Mau, Gesine Schwan,
       Laurence Burgorgue-Larsen, Jean-Yves Carlier, Emilio De Capitani, François
       Héran, Elspeth Guild, Steffen Mau, Guillaume Sacriste, Wojciech Sadurski
       u.a.. 
       
       [1][Hier lesen Sie die französische Originalversion und die Liste der
       Unterzeichner:innen]. 
       
       ***
       
       Für einen kurzen Moment erregte die [2][Situation an der
       polnisch-weißrussischen Grenze] die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Die
       Bilder von Tausenden von Flüchtlingen aus dem Irak, Syrien, Jemen und
       anderen Ländern, die von Präsident Lukaschenko angelockt und unter
       unmenschlichen Bedingungen an der Grenze auf weißrussischer Seite
       zusammengepfercht wurden, lösten europaweit Empörung aus.
       
       Es wurden entsprechende geopolitische Analysen vorgelegt, auch wurden
       einige politische, zum Teil auch repressive Antworten formuliert
       (Sanktionen, Militarisierung der Grenzen). Doch bis heute geht das
       humanitäre Drama auf beiden Seiten der Grenze unaufhörlich weiter, und es
       wurde bislang keine angemessene Antwort darauf gefunden.
       
       Seit September 2021 befinden sich die Flüchtlinge, denen es gelungen ist,
       über die polnisch-weißrussische Grenze in die EU zu gelangen, in einem
       gefährlichen, militarisierten Gebiet, zu dem weder Ärzte noch Journalisten
       oder NGOs Zugang haben. Im Białowieża-Wald, einem der letzten verbliebenen
       Urwälder Europas, sterben Männer, Frauen und Kinder an Unterkühlung, Durst
       und fehlender medizinischer Versorgung.
       
       Die polnischen Grenzschutzbeamten ignorieren ihre Asylanträge und weisen
       sie systematisch an der belarussischen Grenze zurück. Diese Praxis der
       Zurückweisung ist selbst in Krisenzeiten verboten. Sie verstoßen gegen die
       [3][Genfer Flüchtlingskonvention] von 1951 (Artikel 33), die Europäische
       Menschenrechtskonvention (Artikel 3) und ihr Protokoll Nr. 4 (Artikel 4),
       die [4][Charta der Grundrechte der Europäischen Union] (Artikel 18 und 19)
       – allesamt verbindliche rechtliche Instrumente, die die Europäische Union
       und ihre Mitgliedstaaten eigentlich einhalten müssen.
       
       ## Zehnmal wieder zurückgeschickt
       
       Einige Familien, die von belarussischen Soldaten gezwungen wurden, die
       Grenze zu überqueren, wurden [5][mehr als zehn Mal zurückgeschickt] oder
       voneinander getrennt, was ein unerträgliches menschliches Leid erzeugt. Am
       19. November forderte die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja
       Mijatović, Zugang für humanitäre Hilfe und internationale Unterstützung
       ein, und sie bekräftigte die Dringlichkeit, diesen systematischen
       Menschenrechtsverletzungen ein Ende zu setzen.
       
       Nichtregierungsorganisationen wie die [6][Grupa Granica] oder Human Rights
       Watch haben ausführliche Berichte über diese Menschenrechtsverletzungen
       veröffentlicht. Der Europaabgeordnete Pietro Bartolo, auch bekannt als der
       „Arzt der Migrant:innen“ von Lampedusa, berichtete von „massiven
       Verletzungen der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der
       internationalen Abkommen“, „einer Atmosphäre des Terrors“ und „einer
       humanitären Katastrophe“.
       
       Die Europäische Kommission reagierte am 1. Dezember 2021, indem sie (auf
       der Grundlage von Artikel 78 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise
       der Europäischen Union) vorschlug, dass der Rat Dringlichkeitsmaßnahmen
       beschließt, um die betroffenen EU-Staaten in die Lage zu versetzen, die
       aktuelle „Krise“ an der polnisch-weißrussischen Grenze zu bewältigen.
       
       Anstatt jedoch den grundlegenden Charakter des Asylrechts zu bekräftigen,
       zielt dieser Vorschlag darauf ab, die polnischen, litauischen und
       lettischen Behörden zu ermächtigen, das beschleunigte Grenzverfahren auf
       alle Asylanträge anzuwenden. Auf diese Weise wird die Wahrscheinlichkeit,
       dass die Asylanträge der Schutzbedürftigen geprüft werden, noch weiter
       gesenkt und die Legalisierung von Massenabschiebungen unterstützt.
       
       ## Nur Demokratie kann uns schützen
       
       Es muss jedoch klar betont werden, dass es sich bei den Ereignissen, die
       wir derzeit an der polnisch-weißrussischen Grenzen erleben müssen, nicht um
       eine „Migrationskrise“ handelt. Die wenigen tausend Menschen an der Grenze
       sind eine kleine Gruppe, deren Anwesenheit politisch instrumentalisiert und
       dramatisiert wird. Obwohl diese Situation keinen erwiesenen „Notfall“
       darstellt, bedroht die Einrichtung der No-Go-Zone das tägliche Leben und
       die wirtschaftliche Existenz von Zehntausenden von Bewohnern des
       Grenzgebiets.
       
       Dieser Vorschlag der EU-Kommission ist eine Bedrohung für alle EU-Bürger.
       Die Unterstützung der illegalen Maßnahmen autoritärer Regierungen gibt
       ihnen freie Hand, gesetzlose Zonen auf dem Kontinent zu errichten. Die
       Europäische Union, die auf Rechtsstaatlichkeit und die Verteidigung der
       Grundrechte gegründet wurde, kann diese Grundsätze nicht einfach aufgeben.
       
       Nichts Geringeres als die Zukunft der EU steht demnach im Białowieża-Wald
       derzeit auf dem Spiel. Wir fordern den Rat der Europäischen Union auf, auf
       die Legalisierung dieser Ausnahmen von der Einhaltung der Verträge zum
       Schutz der Menschenrechte zu verzichten. Wir fordern angemessene und vor
       allem humane europäische Antworten auf die humanitäre Krise und die
       sofortige Aktivierung von Mechanismen zum Schutz gefährdeter Personen und
       zur Achtung des Asylrechts.
       
       Hier geht es nicht darum, einem bestimmten Land Moralunterricht zu
       erteilen. Natürlich kann eine ganze Reihe von EU-Ländern für ihre
       Versäumnisse auf dem Gebiet der Grundrechte kritisiert werden. Jedes Land
       hat das Recht, seine Grenzen zu kontrollieren. Doch angesichts illegaler
       und unmenschlicher Praktiken, die immer weiter fortbestehen und zunehmend
       auch institutionalisiert werden, ist es dringend notwendig, die
       universellen und grundlegenden Regeln der Rechtsstaatlichkeit zu
       bekräftigen.
       
       Wir, die Bürger der Europäischen Union, müssen diese Regeln bekräftigen und
       verteidigen, denn in einer Demokratie kann uns nur das Recht vor
       willkürlichen Entscheidungen schützen.
       
       19 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.revuedlf.com/droit-ue/leurope-ne-doit-pas-devenir-une-zone-de-non-droit/
 (DIR) [2] /Krise-an-belarussisch-polnischer-Grenze/!5816447
 (DIR) [3] https://www.fluechtlingskonvention.de/
 (DIR) [4] https://www.europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf
 (DIR) [5] /Tote-an-polnisch-belarussischer-Grenze/!5802600
 (DIR) [6] https://www.grupagranica.pl/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dorota Dakowska
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Schwerpunkt Krisenherd Belarus
 (DIR) EU-Grenzpolitik
 (DIR) Schwerpunkt Europe's Far Right
 (DIR) Ukraine
 (DIR) Syrien
 (DIR) Schwerpunkt Krisenherd Belarus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Bestandsaufnahme der EU: Im europäischen Zwischenland
       
       Die EU ringt um Stabilität. Am Ende der Pandemie zeigt sich, dass wir
       aufeinander angewiesen sind. Das ist eine Chance für engere Zusammenarbeit.
       
 (DIR) Burschtyn in der Ukraine: Leise rieselt der Dreck
       
       In der ukrainischen Stadt Burschtyn ist der Schnee schwarz. Verdächtigt
       wird ein Kohlekraftwerk, die Betreiber weisen jede Verantwortung von sich.
       
 (DIR) Migration über Belarus in die EU: Kein Vor und kein Zurück
       
       Der Syrer Wael wollte über Belarus nach Deutschland emigrieren. Dann
       schloss Polen die Grenze. Für seine Familie hat das weitreichende Folgen.
       
 (DIR) Polnisch-belarussische Grenze: „Die Situation ist unerträglich“
       
       Die Lage in der Grenzregion von Polen und Belarus bleibt angespannt.
       Berichte über volle Lager und versuchte Grenzdurchbrüche halten an.