# taz.de -- Der Hausbesuch: Ihre Ziele vor Augen
       
       > Das Ehepaar Kopotev hat seine russische Heimat verlassen, um andernorts
       > das Glück zu suchen. Sie sind am Bodensee gelandet, mit neuen
       > Zukunftsplänen.
       
 (IMG) Bild: Ob die Kinder auf dem Bett hüpfen dürfen ist bei den Kopotevs ein Streitthema
       
       Wer in einem fremden Land ankommen möchte, brauche viel Disziplin, meint
       Dmitry Kopotev. Seine Frau meint, es könne auch undisziplinierter was
       werden.
       
       Draußen: Schmale Gassen kreuzen sich in der Konstanzer Altstadt –
       Inselgasse, Rheingasse, Tulengasse, Klostergasse. Man läuft nicht mehr als
       fünf Minuten durch das kleine Labyrinth, und schon steht man auf der Alten
       Rheinbrücke, unter der der Fluss aus dem Bodensee weiter fließt. Die
       Wohnhäuser im Gassengewirr sind so dicht nebeneinander, dass der eine weiß,
       wann der andere duscht und welches Lied er dabei singt.
       
       Drinnen: Die Wohnung wirkt nur groß, weil Bad, Küche und die drei Zimmer um
       den Korridor in der Mitte herum liegen und alle Türen offen stehen. Es
       kommt wenig Licht durch die kleinen Fenster im ersten Obergeschoss; die
       dicke Holzbalkendecke im Wohnzimmer macht die Wohnung noch dunkler. Und es
       ist laut, weil die beiden Kinder Krach machen und auf dem Bett der Eltern
       herumspringen. Sie werden erst still, nachdem sie ihr Tablet bekommen.
       
       Kindererziehung: Anna Kopoteva (32) und Dmitry Kopotev (33) streiten sich
       oft, wenn es um die Erziehung der Kinder geht. Sie wollen es „richtig“
       machen. Er ist streng, sie locker. Er bestraft die Kinder, sie nicht. „Wir
       leben doch nicht im Gefängnis“, sagt Anna. „Wenn die Kinder sich schlecht
       benehmen und auf meine Forderungen nicht reagieren, müssen sie bestraft
       werden“, wendet Dmitry ein. Dann bekommen die Kinder kein Tablet.
       
       Das Familienoberhaupt: „Die Kinder wollen nicht mit Papa allein zu Hause
       bleiben“, erzählt Anna, weil sie bei ihr auf dem Bett hüpfen dürfen. „Ich
       bin lärmempfindlich. Ich kann das nicht aushalten“, sagt er. Kinder müssten
       lernen, wo Grenzen verlaufen. Aber verstehen Kinder diese Zusammenhänge?
       Und ist Bestrafung ein nachhaltiges Mittel? An solchen Fragen verzweifelt
       Dimitry selbst. „Trotzdem. Auch ich habe meine Grenzen“, sagt er.
       
       Die Zukunft visualisieren: Und trotzdem will Dmitry mehr Kinder. Auf einer
       Wandtafel hängt das Foto einer Familie im Sonnenuntergang. Zwei Kinder sind
       in den Armen der Eltern, und zwei weitere stehen daneben. „Wir wollen eine
       große Familie werden“, sagt das Paar. Das Bild erinnere sie daran.
       
       Inspiration: In diesem Haus ist alles geplant. Die großen Ziele und Wünsche
       sind visualisiert. Auf der Wandtafel hängen auch Bilder von Dingen, die sie
       besitzen wollen – einen Tesla, zwei Motorräder, eine Yacht, ein Segelboot.
       Einige Fotos verraten, dass ihre Traumreise durch die Nordwest-Passage
       gehen soll. Und, klappt das mit den Plänen? Es gehe um Inspiration, meint
       das Paar. „Im Alltag kann man schnell vergessen, was der Sinn des Lebens
       ist und was man in seinem Leben erreichen will“, sagt Dmitry. „Mir ist es
       wichtig, das Größere im Blick zu behalten. Dafür stehen diese Bilder.“
       
       Das nächste Haus: Die Bilder der Ziele, die sie erreicht haben, entfernen
       sie von der Wand. Wie das von der eigenen Wohnung. Denn bald zieht die
       Familie nach Radolfzell am Bodensee um. Sie haben dort eine
       5-Zimmer-Neubauwohnung gekauft. Das neue Leben in der neuen Wohnung hat
       noch nicht einmal begonnen, da hängen sie schon das Bild eines großen
       Öko-Hauses mit Garten auf.
       
       Fragen: Wie wird man reich? „Reich zu werden allein ist kein Ziel und
       deswegen bringt es nichts, daran zu denken. Geld ist nur eine Ressource, um
       eigene Ziele zu realisieren“, sagt Dmitry. „Man muss seine Ziele
       detailliert aufschreiben und präzise definieren“, erklärt er. Deswegen hat
       er auf einer anderen Wandtafel geschrieben: 1.800 Euro Rente. „Ich habe
       diese Summe schon erreicht, wenn ich meinen Job so weiter mache“, sagt er.
       Doch er hat noch andere, noch höhere Ziele.
       
       Auswandern: Sie beide waren Mitte zwanzig, als sie ihre russische Heimat
       verlassen haben. Erst zogen sie nach Finnland. „Wir dachten, Moskau ist nah
       und wir können jederzeit unsere Familien besuchen“, sagt Anna. Dann zogen
       sie in die Niederlande, wo Dmitry einen besseren Job bekam. Seit 2014 wohnt
       die Familie nun am Bodensee.
       
       Kosmos: Dmitry ist Mikroelektronik-Ingenieur bei „Hyperstone“, einem
       High-Tech-Unternehmen in Konstanz. Der Kosmos ist seine Welt. Und Phobos,
       einer der beiden Monde des Planeten Mars, ist seine Inspiration. Das Bild
       hängt ebenfalls an der Wand. Daneben ein weiteres, worauf zwei Ingenieure
       in weißen Kitteln einen Satelliten montieren. Die Bilder erinnern ihn an
       ein weiteres Ziel: bei „Airbus“ einen Job bekommen.
       
       Deutsche Bahn: Anna Kopoteva hat Touristik studiert. Sie sitzt hinter dem
       Schalter am Bahnhof und verkauft Tickets. Sie wolle nicht ihr ganzes Leben
       bei der Deutschen Bahn arbeiten. „Viele meiner Kolleginnen und Kollegen,
       die lange am Bahnschalter gearbeitet haben, haben Burnout bekommen“, sagt
       Anna. „Ich muss da bald raus.“ Man brauche starke Nerven mit den Kunden. Es
       seien fast immer die älteren Leute, die nicht so gerne digital unterwegs
       seien, und die kämen oft zu ihr. Sie arbeitet in Teilzeit, wegen der
       Kinder. Und sie ärgert sich: „Wenn die Kitas um 16 Uhr zumachen, wie sollen
       beide Eltern da 40 Stunden pro Woche arbeiten gehen?“
       
       Buchweizen: Sie sei allerdings gerne mit den Kindern zu Hause und lese
       ihnen dann russische Bücher vor. Sonst gibt es in ihrer Wohnung nicht viel,
       was an Russland erinnert. Auch keinen Wodka. Aber gerösteten Buchweizen.
       Ihr Mann bestelle immer wieder mal zehn Kilo im Internet. „Und alles isst
       er allein“, sagt Anna und lacht. Die anderen Familienmitglieder essen das
       traditionelle russische Körnergericht nicht so gerne.
       
       Der russische Pass: Sie hätten sich viel Mühe gegeben, sich zu integrieren.
       Sie wollten nicht nur in russischen Kreisen bleiben, sagt das Paar. Doch
       ihre russischen Pässe wollen sie nicht abgeben. Anna hat neben der
       russischen auch eine estnische Staatsangehörigkeit. Bei ihr stellt sich die
       Frage nicht, ob sie ihren russischen Pass abgibt; Estland ist in der EU.
       Aber ihr Mann muss diese Entscheidung in den nächsten Jahren treffen. „Ich
       fühle mich, als ob ich auf zwei Stühlen sitze. Ich bin nirgendwo zu Hause,
       nicht in Russland und nicht hier“, sagt er. Es sei für ihn emotionell
       wichtig, Russe zu sein.
       
       Sich abgrenzen: „Prioritäten setzen“, sagt Dmitry. Mit diesem Motto hat er
       mit seiner Frau damals das Land für eine bessere Zukunft verlassen. Ihm sei
       klar gewesen, dass die Kontakte zu Verwandten und Freunden verloren gehen
       würden. „Ich habe dafür keine Zeit. Ich kann nicht alles in meinem Leben
       haben.“ Deshalb hat er sich auch von den sozialen Medien abgemeldet. Seine
       Frau ebenfalls. „Das kostet zu viel Zeit“, sagt sie. Und auf noch mehr
       verzichten sie: auf Kaffee, Alkohol, Getränke mit Eis und Gespräche über
       Politik und Religion. Warum? Weil all das negative Auswirkungen auf sie
       habe. Inzwischen ernähren sie sich zudem nur noch vegetarisch und mit
       biologisch angebauten Nahrungsmitteln.
       
       Richtige Fragen stellen: Menschen würden in ihrem Leben viel zu viel Zeit
       verschwenden. Oft wollten sie Karriere machen, doch ohne Plan. Sie fragten
       sich nicht häufig genug, wohin sie wollten. Das koste viel Energie, findet
       das Paar. Sie schlagen vor, ganz konkret die wichtigen Fragen zu stellen –
       für jetzt und für die Zukunft. „Man muss sich heute überlegen, welche Frage
       man sich am Sterbebett stellt“, sagt Dmitry. „Wahrscheinlich denkt keiner
       in dem Moment an die Karriere, sondern fragt sich, wo ist meine Familie?
       Den Sterbenden ist es wichtiger, dass ihre Kinder und Enkelkinder dabei
       sind, dass sie nicht allein sind.“
       
       Ein Roboter: Ist es nicht zu stressig, so ein Leben zu führen, führt das
       nicht zu Konflikten? „Ich habe zu Dmitry gesagt: Wie ein Roboter kann man
       das Leben nicht gestalten“, sagt Anna. „Es war am Anfang schwierig für
       mich, jetzt ist er ein bisschen flexibler geworden, nachdem er einmal
       zusammengebrochen ist“, erzählt sie.
       
       Liebe: „Unsere Beziehung müssen wir pflegen“, sagen die beiden. Und das
       hieße auch, gegen roboterhafte Regeln zu kämpfen. „Weil Liebe mehr
       Spontaneität braucht“, sagt Anna. Sie verlangt nicht so viel von ihrem
       Mann, nur dass er sich Zeit für sie zu zweit nimmt – ohne Kinder, ohne
       Freunde und ohne die Regeln an der Wandtafel. „Wir gehen in letzter Zeit
       gern ins Kino oder was Schönes essen“, erzählt sie. Auch Dmitry gibt zu, er
       fühle sich besser, wenn er einfach mal so im Wald spazieren geht. Ohne
       Ziel.
       
       9 Jan 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tigran Petrosyan
       
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