# taz.de -- Terrorermittlungen in der Türkei: Erdoğan nimmt Istanbul ins Visier
       
       > Die Justiz ermittelt gegen 550 Angestellte der Istanbuler Verwaltung. Die
       > Opposition sieht einen Versuch, dem beliebten Bürgermeister zu schaden.
       
 (IMG) Bild: Der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu vor der Presse am 27. Dezember
       
       ISTANBUL taz | Istanbul soll ein „Terrorismusproblem“ haben. Der türkische
       Innenminister Süleyman Soylu, einer der Hardliner im Kabinett von Präsident
       Recep Tayyip Erdoğan, erklärte, dass gegen rund 550 Angestellte der
       Istanbuler Stadtverwaltung wegen Terrorismusverdachts ermittelt werde.
       
       Gegen rund 450 davon werde wegen Unterstützung oder Mitgliedschaft in der
       kurdischen „Terrororganisation“ PKK ermittelt, andere sollen der
       „linksterroristischen“ DHKP-C nahestehen. Der Schritt, so Soylu, sei
       „keine politische Maßnahme“, sondern eine reine Anti-Terror-Ermittlung.
       
       Genau dies stellt nicht nur der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu
       von der Oppositionspartei CHP infrage. Auch führende Oppositionspolitiker
       und regierungskritische Journalisten sehen das anders. Denn im sich
       abzeichnenden Präsidentschaftswahlkampf vor der für 2023 geplanten Wahl
       könnte İmamoğlu für Erdoğan zum gefährlichsten Gegenkandidaten werden.
       
       Soylu, der in der regierenden AKP lange als möglicher Nachfolger Erdoğans
       gehandelt wurde, versucht nach Ansicht des Journalisten Fatih Portakal, nun
       zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Er wolle das Image İmamoğlus,
       der auch in religiösen Kreisen als wählbar gilt, beschädigen und einen Keil
       in das Oppositionsbündnis treiben, indem er der größten Oppositionspartei
       CHP eine Nähe zur PKK unterstellt, [1][analysierte] Portakal am Montag auf
       Twitter.
       
       İmamoğlu wies die Vorwürfe zurück und erklärte zunächst, er stehe hinter
       allen 89.000 Mitarbeitern der Stadtverwaltung und werde gegen
       Kriminalisierungsversuche vorgehen. Gleichzeitig forderte er Soylu und den
       Justizminister zum Rücktritt auf. Sollte sich einer der Vorwürfe
       tatsächlich erhärten, sei die Regierung selbst schuld, denn jeder Bewerber
       auf eine Stelle bei der Stadtverwaltung muss eine
       Unbedenklichkeitsbescheinigung des Justizministeriums vorweisen.
       
       Die Opposition befürchtet jetzt, dass Erdoğan die Einleitung der
       Strafverfahren gegen Mitarbeiter der Stadtverwaltung zum Vorwand nimmt, um
       İmamoğlu als Oberbürgermeister absetzen zu lassen und wie in vielen Städten
       in den kurdischen Gebieten einen Staatsverwalter einzusetzen. Doch das,
       glaubt Fatih Portakal, würde die Popularität İmamoğlus am Ende nur noch
       steigern.
       
       ## Wirtschaftskrise schadet Erdoğan
       
       Seit İmamoğlu 2019 die zwanzig Jahre währende Dominanz der AKP in Istanbul
       beendete, gilt er als einer der Favoriten der Opposition. Auch deshalb
       wirft ihm die Regierung Knüppel zwischen die Beine. So wurden die
       staatlichen Banken angewiesen, der Istanbuler Verwaltung keine Kredite zu
       geben, und per Gesetz wurde verhindert, dass İmamoğlu Kredite bei
       ausländischen Banken aufnimmt. Außerdem wurde der Stadtverwaltung verwehrt,
       Gelder für Pandemieopfer zu sammeln. Dennoch liegt İmamoğlu nach wie vor in
       Umfragen deutlich vor Erdoğan.
       
       Vor allem [2][die Wirtschaftskrise in der Türkei] hat Erdoğan Zustimmung
       gekostet. Nachdem die Währung 2021 noch einmal 50 Prozent ihres Werts
       gegenüber dem US-Dollar verloren hat und Lebensmittelpreise ständig
       gestiegen sind, hat er in Umfragen keine Chance mehr.
       
       Erdoğan entschloss sich deshalb letzte Woche zu einem riskanten Manöver.
       Zum einen wurden in einer Nacht bis zu 20 Milliarden Dollar aus
       undurchsichtigen Quellen mobilisiert, um mit Stützungskäufen den Lirakurs
       wieder hochzutreiben. Zum anderen garantierte der Präsident allen Bürgern,
       die ihre Dollarguthaben wieder in Lira umtauschen, dass der Staat nach
       Ablauf eines Jahres eine mögliche Differenz zu Dollarguthaben ausgleichen
       würde.
       
       Zwar erholte sich die Lira dadurch auf einen Schlag um 40 Prozent, doch
       schon knapp eine Woche später bröckelt der Kurs nun wieder. Gegen Experten,
       die öffentlich bezweifelten, dass Erdoğans Aktion Erfolg haben würde, sind
       Strafverfahren wegen Verleumdung der Zentralbank eingeleitet worden.
       
       28 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://twitter.com/fatihportakal/status/1475508717525377025
 (DIR) [2] /Inflation-in-der-Tuerkei/!5818079
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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