# taz.de -- Nachwahl in Großbritannien: In die Fresse!
       
       > Nach langer Dominanz verlieren die Toris einen Wahlkreis an die
       > Liberaldemokraten. Das ist auch ein Votum über Johnsons Politik.
       
 (IMG) Bild: Helen Morgan sticht nach ihrem Wahlsieg in die Boris-Blase
       
       LONDON taz | „Boris Johnson, die Party ist vorbei.“ Mit diesem Satz
       kommentierte die Liberaldemokratin Helen Morgan ihren Sieg bei einer
       Nachwahl im englischen North Shropshire am frühen Freitagmorgen. Die frisch
       gewählte 47-jährige Unterhausabgeordnete sprach von einem Geschenk kurz vor
       Weihnachten.
       
       Für den an Wales grenzenden ländlichen Wahlkreis war es das erste Mal in
       seiner Geschichte, dass dort eine andere Partei als die Konservativen
       gewann. Die im Landkreis in einem kleinen Städtchen lebende und arbeitende
       Buchhalterin Morgan setzte sich mit einer Mehrheit von 47,14 Prozent der
       Stimmen gegen den konservativen Anwalt und Arzt Neil Shastri-Hurst aus der
       Stadt Birmingham (31,59 Prozent) durch.
       
       Damit verloren die Konservativen eine ihrer sichersten Hochburgen – zum
       zweiten Mal innerhalb von sechs Monaten. Bereits im Juni hatten die
       Liberaldemokrat:innen über die Konservativen im südenglischen
       Wahlkreis Chesham and Amersham in der Nähe von London triumphiert. Bei
       einer Nachwahl im Londoner Außenbezirk Old Bexley and Sidcup im vergangenen
       Monat konnte der konservative Kandidat den Wahlkreis zwar gewinnen, fuhr
       jedoch starke Verluste gegenüber der Wahl 2019 ein.
       
       Im Wahlkreis North Shropshire, in dem die Wähler:innen mehrheitlich für
       den Brexit gestimmt hatten, hatten die Konservativen 2019 mit 62,7 Prozent
       der Stimmen die Labour-Party auf den zweiten Platz (22,1 Prozent) vewiesen.
       Morgan war nur auf zehn Prozent gekommen.
       
       ## Slogan zieht nicht mehr
       
       Bei der Nachwahl am Donnerstag landete der Labour-Kandidat Ben Wood bei 9,7
       Prozent. Die Brexit-Party, die jetzt Reform UK heißt, landete mit 3,7
       Prozent hinter den Grünen (4,5 Prozent).
       
       Dieses Wahlergebnis scheint ein Indiz dafür zu sein, dass der Slogan „Get
       Brexit Done,“ der Johnson zu seinem überragenden Sieg bei der Unterhauswahl
       20219 verhalf, nicht mehr zieht
       
       Für die Regierung Boris Johnsons ist dies eine weitere katastrophale
       Niederlage in einer ohnehin schockierenden Woche, in der sich 100
       Tory-Abgeordnete bei [1][einer Abstimmung über 3G-Regeln] gegen Johnson
       gestellt hatten. Sie folgt zudem auf wochenlange Enthüllungen über
       schludriges Vorgehens bezüglich der Einhaltung von Distanzregeln während
       des Lockdowns vor einem Jahr. Damals waren in 10 Downing Street und
       verschiedenen Ministerien [2][Weihnachtsfeiern] abgehalten worden, was dem
       Rest der britischen Bevölkerung untersagt war.
       
       Die Krönung war eine nicht deklarierten Parteispende für eine überteuerte
       Luxusrenovierung der Wohnung Johnsons in 10 Downing Street, für welche die
       Partei von den untersuchenden Behörden zu einer Strafsumme verdonnert
       wurde. Zur Nachwahl war es gekommen, weil sich der vorherige Abgeordnete
       des Wahlkreises Owen Paterson für ministerielle Lobbyarbeit von zwei
       verschiedenen Unternehmen gut hatte bezahlen lassen.
       
       ## Schäbiger Versuch
       
       Paterson wurde nicht nur für einen Monat suspendiert, sondern die Affäre
       führte auch einem schäbigen Versuch der Johnson-Regierung, die Prüfstelle
       für parlamentarische Standards abzuschaffen. Gleich am nächsten Tag mussten
       die Tories die Entscheidung zurückzunehmen.Kurz darauf trat Paterson
       zurück.
       
       Morgan sagte in ihrer Siegesansprache, dass der Sieg in North Shropshire
       ein Urteil des britischen Volkes über Boris Johnson sei. „Ihre Regierung,
       die auf Lügen und Wutausbrüchen fußt, wird zur Verantwortung gezogen
       werden. Vorbei ist die Zeit von nächtlichen Eskapaden und Chaos.“ „Mister
       Johnson, Sie sind keine Führungskraft“, sagte Morgan.
       
       Viele von Johnsons Vorgänger:innen hätten das Amt des/der
       Premierministers/in als nationale Pflicht verstanden, doch in Johnsons Fall
       gehe es um egozentrisches Verhalten. Sie werde immer auf die Stimmen vor
       Ort hören, versprach Morgan und dankte den Wähler:innen Labours, die ihr
       ihre Stimme geliehen und den Weg zum Wahlsieg geebnet hätten.
       
       Zwar hat Johnson immer noch eine Mehrheit von 78 Sitzen. Doch die Frage,
       die sich viele Konservative nun stellen, ist, ob Johnson auch in Zukunft
       für die Partei Wahlen gewinnen kann. Es sind jedoch nicht nur die Skandale
       der vergangenen Wochen und Monate, sondern auch die politische Orientierung
       Johnsons, die viele stören. Manchen konservativen Schwergewichten ist
       Johnsons politischer Kurs mit hohen Investitionen im Norden des Landes
       sowie in das Gesundheits- und Sozialsystem zu Kosten intensiv und die
       Steuern dafür zu hoch.
       
       ## Höchste Todeszahlen
       
       Zudem lauert im Hintergrund eine demnächst beginnende Untersuchung zu
       Johnsons Umgang mit der Pandemie – vor allem zu Beginn. Damals verzeichnete
       das Vereinigte Königreich die höchsten Todeszahlen in Europa. Wiederholt
       hatte Johnson bei Entscheidungen zu Lockdowns gezögert.
       
       Weshalb Johnson damals länger brauchte, als andere Länder ist vor allen
       seit diesen Mittwoch offensichtlich: Druck vom libertären Flügel der
       Partei. Es ist dieser Brexit-begeisterte Arm der Tories, der Johnson zwar
       zum Premierminister krönte, sich aber nun offen gegen ihn stellt. Dabei
       fehlen Johnson Untestützer:innen anderer Flügel, mit denen er es sich
       bei seinen Attacken auf Theresa May verscherzte.
       
       Von Johnson wird nun eine seriöse Politik gefordert – anders als zu seiner
       Zeit als Londoner Bürgermeister: Von der nie realisierten Londoner
       Gartenbrücke über die aufgelöste Stadtmautzone in Westminster, Chelsea und
       Kensington bis hin zu einem viel zu spätem Vorgehen gegen die
       Luftverschmutzung. Oder auch sein Versprechen, sich gegen den Ausbau des
       Flughafens Heathrows zu stellen: Staatdessen zog er es vor, sich einer
       wichtigen Abstimmung darüber zu enthalten. Die Mehrheit der
       Londoner:innen hat Johnson das alles bis heute nicht verziehen.
       
       Alle konnten seine Ignoranz gegenüber parlamentarischen Konventionen
       (verlängerte Parlamentsferien) bereits vor dem Brexit beobachten. Das
       höchste Gericht des Landes musste ihn schließlich zurechtweisen. Nebenbei
       weiß das ganze Land von Johnsons wilden Affären während seiner ersten
       beiden Ehen.
       
       ## Nerv der Nation
       
       All das war den Konservativen 2019 jedoch egal, da Johnson als laute Stimme
       für den Brexit klar den Nerv der Nation traf. Diese gierte sehnsüchtig und
       sentimental nach einer besseren selbst bestimmten Zukunft.
       
       Dennoch hat auch Johnson seine Qualitäten. Als Tory ist er trotz allem
       sozial-konservativ. Diese Haltung kommt jedoch nicht ohne patriotisch
       nationalistische Parolen aus, die ihm einst sowohl die Anerkennung des
       Ex-UKIP-Parteichefs Nigel Farages als auch des früheren US-Präsidenten
       Donald Trumps verschafften.
       
       Gerade dieser Mix trug auch zu den Erfolgen für die Tories in ehemaligen
       Labour-Hochburgen bei. Doch scheint der teils populistische Stil der Tories
       in den alten konservativen Gegenden zunehmend an Zustimmung zu verlieren.
       
       Damit stehen die Ambitionen der Tories, auch in den nächsten zehn Jahren
       das Land noch zu reagieren, auf dem Spiel. Labour-Chef Keir Starmer
       versucht dem allen einen glaubwürdigen und verantwortungsvollen Politikstil
       entgegen zu setzen. Das zu einem Erfolgsrezept werden. Doch wer Johnsons
       Ruder übernehmen könnte, ist eine andere völlig andere Frage. Dass es
       diesmal die Liberaldemokrat:innen waren, die die Wahl gewonnen
       haben, ist beachtlich, aber nicht ungewöhnlich. Ihre weitere Ausrichtung
       vor allem in den Labour-Regionen, bleibt abzuwarten.
       
       17 Dec 2021
       
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