# taz.de -- Kommunalwahlen in Großbritannien: Partystimmung? Fehlanzeige
       
       > Boris Johnsons Ansehensverlust macht den Tories zu schaffen. Doch in
       > ihren regionalen Hochburgen sind lokale Belange wichtiger.
       
 (IMG) Bild: Viele protzige Wohnkomplexe und zu wenig Wohnraum für Geringverdiener: der Beziek Wandsworth
       
       LONDON taz | „Jesus fordert, dass wir unsere sündigen und korrupten Herzen
       bereinigen! Seid ihr bereit?“, fragt der alte Straßenprediger mit Schnauzer
       laut von einem Podest vor dem U-Bahnhof Uxbridge im Londoner Nordwesten.
       Ein Mann mit Bulldogge antwortet knapp: „Ja, ja, ich bin bereit“, und
       schleicht sich samt Vierbeiner davon.
       
       Uxbridge ist der Wahlkreis des britischen Premierministers Boris Johnson,
       den infolge des [1][Partygate-Skandals] inzwischen 78 Prozent aller
       Brit:innen für einen sündigen Lügner halten. Kein Wunder, dass Johnsons
       Konservativen bei den Kommunal- und Regionalwahlen in weiten Teilen des
       Landes am 5. Mai selbst in ehemaligen konservativen Londoner Hochburgen wie
       der Bezirk Hillingdon, in dem auch Uxbridge liegt, um ihre Mehrheiten
       bangen.
       
       140 Gemeindebehörden stehen in England zur Wahl, dazu alle 32 in Schottland
       und alle 22 in Wales sowie das [2][Regionalparlament von Nordirland].
       
       „Ich habe 45 Jahre lang konservativ gewählt. Solange Boris Johnson die
       Partei führt, werde ich nicht für die Tories stimmen!“, schimpft in der
       Nähe des Stadtparks Uxbridge Common Rentner Richard Mitchell, 75. Er nennt
       Boris Johnson einen Opportunisten und Populisten ohne Moral. Ian Parks, 68,
       pensionierter Lkw-Fahrer in der Reihenhaussiedlung Hillingdon Heath,
       findet hingegen, dass man die nationale Lage von der vor Ort trennen müsse.
       Weil seine Straße neu geteert wurde und generell alles in Ordnung sei,
       bleibt er bei den Konservativen.
       
       ## „Conservatives“ sind nun „Local Conservatives“
       
       Als die dieses Jahr zur Wahl stehenden Mandate zuletzt bestimmt wurden, im
       Jahr 2018, war Großbritannien im Streit um den Brexit gefangen und
       Premierministerin Theresa May steckte in der Krise. Damals holten hier in
       Hillingdon die Tories trotzdem 67,7 Prozent.
       
       Und dieses Jahr? Auf seiner Webseite hat der Ortsverband der Konservativen
       ein Bild der konservativen Stadträte mit Boris Johnson gegen eines ohne ihn
       ausgetauscht. Wie in anderen Bezirken Londons nennen sie sich auf ihren
       Wahlflugblättern nicht „Conservative“, sondern „Local Conservatives“, als
       wollten sie betonen, dass sie hier nichts mit dem Premier in 10 Downing
       Street zu tun haben.
       
       Die Krankenpflegerin Loraine McDonald, 47, ist davon nicht beeindruckt. Sie
       wird die Konservativen in Hillingdon nicht mehr wählen – wegen des
       Premierministers. „Johnson muss zurücktreten, weil er feierte, während
       Menschen nicht ihre Familienangehörigen besuchen konnten.“
       
       Im Süden Londons könnten die Konservativen sogar ihre einstige Hochburg
       Wandsworth verlieren. Einst war der Stadtbezirk das Aushängeschild
       Thatchers: die Gemeindesteuer wurde auf null gesetzt, der Staat setzte auf
       große private Bauprojekte. Auch heute noch ist die Gemeindesteuer in
       Wandsworth nur halb so hoch wie im benachbarten Lambeth, einer
       Labour-Hochburg. Nun verspricht Labour im mittlerweile stark
       gentrifizierten Wandsworth eine Senkung dieser Steuer.
       
       ## Die Konservativen seien selbstgefällig geworden
       
       2018 überholte Labour die Konservativen bereits in Stimmenanteilen, wenn
       auch nicht in Wahlkreisen; bei den [3][Parlamentswahlen 2019] war der im
       Bezirk Wandsworth gelegene Wahlkreis Putney der einzige im ganzen Land, den
       die Konservativen an Labour verloren. Nun will Labour auch die Gemeinde
       regieren – und verspricht eine erneute Senkung der Gemeindesteuer.
       
       Der einstige Tory-Stadtrat Malcolm Grimston, 64, der seit 2018 als
       Parteiloser im Gemeinderat sitzt, hält es für möglich, dass Wandsworth an
       Labour fällt – nicht unbedingt wegen Boris Johnson und Partygate, sondern
       weil die lokalen regierenden Konservativen selbstzufrieden geworden seien.
       „Als ich noch Mitglied der Konservativen war und zuständig für Wohnungsbau,
       beobachtete ich, wie meine Vorgängerin über die Meinungen von
       Bürger:innen hinweg große Entscheidungen traf. Was die Leute vor Ort
       dachten, interessierte sie nicht.“ Auch habe sich die Bevölkerungsstruktur
       verändert. „In die Neubauten sind viele jüngere Menschen in die Wohnungen
       gezogen und die sind eher links ausgerichtet. In Nine Elms alleine gibt es
       ganze 8.000 solche neue Wähler:innen.“
       
       Woran es aber in Wandsworth trotz des protzigen Neubauviertels Nine Elms
       und dem zur Designerwohngegend umfunktionierten ehemaligen
       Battersea-Kohlekraftwerk mangelt, sind Wohnungen für Geringverdiener. Der
       aus Paris stammende Aktivist Cyril Richert, 49, der seit über zehn Jahren
       die [4][Clapham Junction Action Group] (CJAG) koordiniert, hat sich dies
       zum Thema gemacht. „Was hier betrieben wird, ist ein Versuch, sich der
       alteingesessenen Bevölkerung zu entledigen“, behauptet er. Richert trat
       sogar Labour bei, aber als sich die Partei davor drückte, ihn zur
       Kommunalwahl aufzustellen, wechselte er zu den Grünen und kandidiert im
       kommunalen Wahlkreis Lavender Hill. Sein Wahlversprechen: Transparenz.
       
       Befragte in verschiedenen Gegenden Wandsworths lassen wenig Wechselstimmung
       erkennen. Die einen lehnen die Tories sowieso ab, die anderen betonen die
       Leistungen des konservativen Gemeinderats in Sachen Sicherheit, Pflege der
       Grünanlagen und Müllbeseitigung.
       
       ## Schlechte Ergebnisse könnten eine Gefahr für Johnson werden
       
       Eine andere konservative Hochburg in London ist der Bezirk Havering am
       östlichen Rand Londons. Dort stimmten 2016 69,7 Prozent der Wähler:innen
       für den Brexit, der dortige Parlamentsabgeordnete Andrew Rosindell gehört
       zu den konservativsten seiner Partei. Doch in Havering ist wenig politische
       Bewegung zu erkennen.
       
       Tory-Wähler:innen, die sich am Partygate stören, verweisen darauf, dass
       auch Labour-Oppositionsführer Keir Starmer während des Lockdowns beim
       Biertrinken mit Parteigenossen fotografiert wurde – das schlachten die
       Konservativen im Wahlkampf gerade als „[5][Beergate]“ aus. Es gibt aber
       auch inhaltliche Vorbehalte gegen Labour. Die Pläne des Londoner
       Labour-Bürgermeisters Sadiq Khan, [6][Niedrigemissionszonen in Londoner
       Außenbezirke wie Havering auszuweiten], stößt auf so großen Widerstand,
       dass manche dafür plädieren, dass Havering aus London austreten und wieder
       Teil der Grafschaft Essex werden solle, wie vor den 1960er Jahren.
       
       Nicht Labour macht den Tories in Havering zu schaffen, sondern lokale
       Wählervereinigungen, die bereits 2018 31,8 Prozent der Stimmen holten. Sie
       treten nun als Bündnis namens Havering Resident Association (HRA) an. „Zum
       ersten mal haben wir Kandidat:innen in allen Bezirken aufgestellt“,
       erklärt HRA-Vorsitzende Gillian Ford, die seit 2002 Stadträtin ist. „Wir
       sind nicht an nationale Parteivorschriften oder Regierungspläne gebunden
       und können etwa bei der Wohnungsbaudebatte auf die regionalen Bedürfnisse
       eingehen.“ Ein Austritt aus London sei keine Option: Dann würden die
       Menschen viel mehr für den öffentlichen Nahverkehr zahlen und Zugang zu
       Londoner Dienstleistungen verlieren.
       
       Sollten die Konservativen am Donnerstag landesweit deutliche Verluste
       holen, dann könnte es Boris Johnson erneut in Gefahr bringen. Gleiches gilt
       aber auch für Labour-Führer Keir Starmer. Nicht selten wurde gegenüber der
       taz unaufgefordert [7][Andy Burnham], der Bürgermeister von Manchester, als
       bessere Option für Labour erwähnt.
       
       5 May 2022
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [2] /Regionalparlamentswahl-in-Nordirland/!5844655
 (DIR) [3] https://electionresults.parliament.uk/election/2019-12-12/results/Location/Region/London
 (DIR) [4] https://cjag.org/
 (DIR) [5] https://www.independent.co.uk/news/uk/politics/keir-starmer-beer-durham-police-b2071248.html
 (DIR) [6] https://www.london.gov.uk/press-releases/mayoral/mayor-sets-out-london-wide-ulez-plans
 (DIR) [7] https://twitter.com/AndyBurnhamGM
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
       
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