# taz.de -- Geflüchtete in London: Die vier von der Parkbank
       
       > Was geschieht mit denen, die in Booten aus der EU nach Großbritannien
       > gelangen? Vier junge Männer aus Ägypten, Eritrea, Irak und Iran erzählen.
       
 (IMG) Bild: Auf dieser Bank im Percy Circus in London hängen Ali, Imran, John und Nabel ab
       
       LONDON taz | Lenin hätte auf die kleine Runde hier im Percy Circus
       hinabsehen können, vielleicht hätte er ihnen Politik gepredigt, denn, so
       verrät eine Denkmalplakette an einem Gebäude, er lebte hier kurzfristig im
       Jahr 1905. An diesem sonnigen Frühlingsmittag 2022 bieten die Parkbänke
       hier etwas Abwechslung für Zuflucht Suchende; dass Lenin hier einst war
       oder wer das überhaupt ist, wissen die vier nicht, die hier sitzen und
       rauchen.
       
       An ihrer Sitzbank hängt eine Latte lose, dahinter liegt ein im letzten
       Sturm umgefallener Baum, entwurzelt wie die Menschen hier, daneben
       Narzissen und Tulpen in voller Blüte. Das Leben beginnt aufs Neue nach
       einem langen Winter. Nichts anderes wollen die vier hier.
       
       Ali, 32, ist iranischer Kurde; Imran, Mitte 30, kommt aus Ägypten; Nabel
       ist um die 20 Jahre alt und kommt aus dem Irak; John, Anfang 30, stammt aus
       Eritrea. Fotografieren lassen sie sich nicht, ihre Nachnamen wollen sie
       nicht veröffentlicht sehen. Sie wohnen alle drei Minuten von hier, im
       Clink78 in der Nähe des Londoner Fernbahnhofs King’s Cross. An einer
       anderen Ecke stehen weitere Menschen aus Äthiopien, Afghanistan, Syrien und
       Sudan. Manche haben gerade Fußball auf einem Bolzplatz in der Nähe
       gespielt. Nicht alle sprechen Englisch, viele wollen nicht mit Journalisten
       reden.
       
       Es mag Ironie sein, dass die Jugendherberge, in der sie untergebracht sind,
       ein zweckentfremdetes ehemaliges Amtsgericht ist, denn das Schicksal der
       vier Asylbewerber könnte womöglich von einer richterlichen Entscheidung
       abhängen. Nun leben sie also schon in einem Gericht mit original Stuckdekor
       aus dem Jahr 1906. Mindestens sechs Leute schlafen in einem Raum, manchmal
       sogar mehr, sagen sie. Die ganze Herberge mit Platz für 125 Menschen ist in
       eine Unterkunft für männliche Flüchtlinge umgewandelt worden, weshalb vor
       dem Gebäude ständig ein Sicherheitsmann in Neonjacke steht.
       Ukrainer:innen seien hier jedoch nicht, antwortet einer der
       Sicherheitsleute.
       
       Die Unterbringung in Herbergen und Billighotels ist einer der Wege, wie das
       Vereinigte Königreich mit der ständig wachsenden Zahl von Flüchtlingen
       zurechtkommt, die den [1][Ärmelkanal] auf Schlauchbooten überqueren. Im
       Jahr 2021 waren es mit über 28.400 fast dreimal so viel wie im Vorjahr,
       dieses Jahr dürften neue Rekorde erreicht werden. Mehr als 4.500 sind es
       bereits, allein im März über 3.000, und das war in den gefährlichen
       Wintermonaten, wo nur wenige die Überfahrt wagen. Sie wollen in ein
       englischsprachiges Land, und seit dem Brexit kann Großbritannien sie nicht
       mehr gemäß dem [2][Dublin-Abkommen] in das erste EU-Land ihrer Ankunft
       abschieben.
       
       ## In Ägypten auf der Abschussliste
       
       Anders als in manchen EU-Ländern landen die Bootsflüchtlinge in
       Großbritannien alle im Asylverfahren. Während sie warten, leben sie in
       Unterkünften wie dieser mit schlechtem Essen und Tee ohne viel Zucker,
       erzählen die vier. Arbeiten dürfen sie nicht, sie erhalten jeweils
       umgerechnet weniger als 10 Euro Taschengeld pro Woche. Ein kleiner, selbst
       gerösteter Biokaffee im Hipstercafé „Frequency“ gegenüber kostet
       umgerechnet 4 Euro.
       
       Imran, im grauen Baumwollsportanzug, in Badelatschen und mit Schnauzbart,
       ist unter den vieren der Einzige, der nicht mit einem Boot über den
       Ärmelkanal gekommen ist. Vielleicht hat er deshalb, anders als die anderen,
       noch ein freundliches Lächeln drauf.
       
       „Ich bin direkt aus Katar mit einem Visum nach London geflogen“, erzählt
       er. Bei der Einreisekontrolle am Londoner Flughafen Heathrow habe er dann
       seine Geschichte erzählt. „Wegen regierungsfeindlicher Aussagen stehe ich
       in [3][Ägypten] auf der Abschussliste“, sagt er und spricht lange über die
       Verhältnisse dort. „Die koloniale Regierung der Briten war besser als jene,
       die danach mit der Unabhängigkeit kamen,“ findet der IT-Experte, der hier
       in England weder Familie noch Freunde hat.
       
       Die anderen kamen in Schlauchbooten. Weder Ali noch John hatten Angst
       dabei, behaupten sie. Beide verweisen zum Vergleich auf ihre vorherigen
       Seereisen. „Als ich das Mittelmeer überquerte, war unser Boot drei Tage auf
       hoher See verschollen und in einer gefährlichen und prekären Notlage, bevor
       uns ein italienisches Schiff rettete“, schildert John.
       
       Die Überfahrt nach England habe hingegen nur einige Stunden gedauert.
       Während John dafür 1.500 Euro zahlte, behauptet Ali, dass er den Ärmelkanal
       in einem Boot von Dünkirchen umsonst überqueren konnte. Er sagt, dass nicht
       alle zahlen müssten. Nabel verweist darauf, dass er bei seiner Flucht auch
       große Strecken zu Fuß zurücklegte.
       
       ## Aufenthalt in der EU abgelaufen, Großbritannien als Ausweg
       
       Anders als Imran haben Ali, John und Nabel vorher in EU-Ländern gelebt.
       „Ganz viele von denen in der Herberge sind solche Menschen“, berichtet
       Imran. John mit leicht ergrautem Stoppelbart und Ali mit schwarzer
       Baseballmütze erzählen, dass sie vorher in Deutschland gelebt hätten. John
       ist Automechaniker und war fünf Jahre in Frankfurt, Ali lebte sogar 24
       Jahre lang in Deutschland, zuletzt in Mönchengladbach.
       
       Beide hatten am Ende das gleiche Problem: Sie erhielten kein Bleiberecht
       mehr, ihre Arbeitserlaubnis wurde entzogen. Also blieb ihnen kein EU-Asyl
       mehr, nur der Ausweg nach Großbritannien. „Wenn ich hier kein
       Aufenthaltsrecht erhalte, werde ich versuchen, nach Kanada zu kommen“, sagt
       Ali. Alle sprechen über Krieg, Freiheit und undemokratische Regime. Ali
       glaubt, er könne schon allein deshalb nicht im Iran leben, weil er nicht
       mehr an Gott glaube.
       
       In Europa sei eigentlich alles gut gewesen bis auf die Sache mit den
       Papieren. In England seien die Behörden freundlich, aber außer Rechtshilfe
       erhielten sie wenig. Alle wollen arbeiten, eine Existenz aufbauen,
       vielleicht eine Familie gründen, doch das alles erscheint noch weit weg.
       
       ## Innenministerin Patel will das Asylrecht verschärfen
       
       Das internationale London begeistert sie. John ist bereits jetzt von einer
       eritreischen Kirchengemeinde in London angetan. Imran würde später aber
       doch lieber in einem kleineren Ort leben. „London ist sehr teuer. In einem
       kleineren Ort ist es besser, und wenn ich hart arbeite und meine Steuern
       zahle, werden die Leute mich akzeptieren.“ Ali sieht das eher skeptisch.
       „Ich habe in Deutschland auch gearbeitet und Steuern gezahlt, und doch
       wollten sie mich abschieben.“
       
       Während ukrainische Flüchtlinge im Vereinigten Königreich von vielen
       britischen Familien aufgenommen werden, müssen Menschen wie Ali, Imran,
       John und Nabel weiterhin in Herbergen ausharren. Seit einem Jahr versucht
       die britische Innenministerin [4][Priti Patel] das Asylrecht zu verschärfen
       und die Überquerungen über den Ärmelkanal zu stoppen. Ihr Mantra: Wer sich
       bereits in sicheren EU-Staaten um Asyl bewerben konnte, hat kein Recht,
       sich nach Großbritannien zu begeben und dort um Asyl zu bitten. Doch das
       stimmt nicht ganz: Flüchtlinge mit Angehörigen im Vereinigten Königreich
       beispielsweise haben klare Rechte auf Familienzusammenführung.
       
       Sollte Patel mit ihrem Gesetzesantrag dennoch durchkommen – bisher wurde er
       immer wieder im Oberhaus abgeblockt –, dann erhalten in Zukunft
       Flüchtlinge, die nicht auf „legalen Wegen“ einreisen, weniger Schutz und
       weniger Garantien und kein permanentes Aufenthaltsrecht. Damit will die
       Innenministerin auch die Anteile unter den Flüchtlingen ändern, denn
       derzeit sind zwei Drittel aller Asylbewerber:innen Männer. Die
       illegale Einreise benachteilige Frauen und Kinder und nütze vor allem
       kriminellen Menschenschleusern, so Patel.
       
       Aber legale Wege, nach Großbritannien einzureisen, gibt es für
       Schutzsuchende kaum. Auch gegenüber ukrainischen Flüchtlingen gab sich die
       Innenministerin zunächst zäh, bis sie rasch dem anwachsenden Protest
       nachgab.
       
       ## Zu viel Zeit zum Nachdenken
       
       Fühlen sich die vier am Percy Circus diskriminiert, weil Ukrainer:innen
       jetzt sofort Asyl erhalten und sie selber auf den Ausgang eines Verfahrens
       warten müssen? John verneint es. „Nein, Ukrainer:innen sind meine
       Schwestern und Brüder. Wir wollen alle das Gleiche, die Freiheit!“ Imran
       fügt hinzu, es sei natürlich, dass Europäer:innen ihren
       Nachbar:innen eher helfen.
       
       Nabel fasst sein derzeitiges Leben als „trist“ zusammen. Imran bestätigt,
       dass es kaum ein Leben sei, aber dennoch besser, als in Ägypten in einem
       Gefängnis zu sitzen oder Schlimmeres. Ali beschreibt seine Behandlung in
       England – er sagt es auf Deutsch – als „nett“. Schlecht sei aber, dass es
       hier keine Arbeit gebe. Während des Asylverfahrens ist
       Asylbewerber:innen in Großbritannien zwölf Monate lang keine
       Arbeitsaufnahme erlaubt. Er sieht seine Situation ähnlich wie Nabel: „Das
       ganze Leben ist wie Lotto spielen. Es ist alles oder nichts.“
       
       Er habe viel Zeit zum Nachdenken, bemerkt Imran, ja vielleicht sogar zu
       viel. Bereut er heute seine Äußerungen gegen die ägyptische Regierung? Da
       wird sein Ton auf einmal lebhafter. „Nein, warum soll ich die bereuen? Im
       Leben musst du zu deiner Meinung stehen. Warum soll ich mich schämen, wenn
       mein Land weder Hoffnung noch Demokratie bietet?“ Seine und die Zukunft der
       anderen liege nun hier.
       
       „Mein Schicksal ist jetzt in Gottes Hand“, sagt Imran, den Blick in den
       bewölkten Londoner Himmel gerichtet.
       
       8 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Gefluechtete-vor-Europas-Kueste-gestorben/!5815459
 (DIR) [2] /EuGH-Urteil-zur-Balkanroute/!5437340
 (DIR) [3] /Kritik-an-Aegyptens-Militaerregime/!5833008
 (DIR) [4] /Britische-Innenministerin-Priti-Patel/!5694795
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Schwerpunkt Brexit
 (DIR) Flüchtlinge
 (DIR) Ärmelkanal
 (DIR) London
 (DIR) Dublin III
 (DIR) Dublin-System
 (DIR) Asylrecht
 (DIR) Asylverfahren
 (DIR) Arbeitserlaubnis
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Somaliland
 (DIR) Großbritannien
 (DIR) Ruanda
 (DIR) Großbritannien
 (DIR) Atomabkommen mit Iran
 (DIR) Meeresschutz
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Frankreich
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Tote Geflüchtete im Ärmelkanal: Die Rettung kam zu spät
       
       Auf dem Weg aus Frankreich nach Großbritannien kentert ein Boot mit
       Menschen aus Afghanistan und Sudan. Trotz Rettung sind sechs Tote
       bestätigt.
       
 (DIR) Spitzensportler in Großbritannien: Der Mann, den sie Mo Farah nannten
       
       Bei Olympia 2012 jubelte Großbritannien über seinen somalischstämmigen
       Langstreckenläufer. Zehn Jahre später enthüllt Mo Farah, wer er wirklich
       ist.
       
 (DIR) Kommunalwahlen in Großbritannien: Partystimmung? Fehlanzeige
       
       Boris Johnsons Ansehensverlust macht den Tories zu schaffen. Doch in ihren
       regionalen Hochburgen sind lokale Belange wichtiger.
       
 (DIR) Asyldeal von Großbritannien und Ruanda: „Schandhaft und grausam“
       
       Großbritannien will Geflüchtete, die in Booten ankommen, nach Ruanda
       verlegen. Das UNHCR sieht einen Verstoß gegen internationale Verträge.
       
 (DIR) Asylpolitik in Großbritannien: Vom Schlauchboot nach Ruanda
       
       Die britische Regierung will Asylbewerber:innen, die illegal auf die Insel
       gelangen, per Flugzeug nach Ruanda schicken. Dort sollen sie bleiben.
       
 (DIR) Politische Gefangene im Iran: Wartezimmer auf den Tod
       
       Gefangenen im Iran wird medizinische Versorgung verweigert, sagt Amnesty
       International. Deutschlands Diplomatie helfe dagegen nicht.
       
 (DIR) EU plant Kontrollen gegen Überfischung: Den Fischern auf die Finger gucken
       
       Die EU verhandelt darüber, wie man am besten den Rückwurf von Fischen
       verhindert. Der WWF übt in einer Studie Kritik an den Vorschlägen.
       
 (DIR) Migration im Ärmelkanal: Die Elenden von Calais
       
       Mahmoud will nach England, wie all die anderen aus Irak, Sudan und Eritrea.
       Doch vorerst hängen sie fest – auf der französischen Seite des Kanals.
       
 (DIR) Flüchtlingspolitik im Ärmelkanal: Schulterschluss der Rechten
       
       Großbritanniens Flüchtlingspolitik ist humaner als in weiten Teilen der EU.
       Dafür hagelt es Kritik von rechts. Frankreich macht zusätzlich Druck.
       
 (DIR) Geflüchtete mit Ziel Großbritannien: Paris fordert legale Migrationswege
       
       Frontex-Überwachung, Druck auf London, Jagd auf Flüchtlinge: Wie Frankreich
       auf das tödliche Drama im Ärmelkanal reagiert.