# taz.de -- Zweite Staatsbürgerschaft: Ich, jetzt auch Lettin
       
       > Die Autorin hat einen lettischen Namen, ansonsten weiß sie fast nichts
       > über das Land ihrer Vorfahren. Dennoch entschied sie sich für den zweiten
       > Pass.
       
 (IMG) Bild: Lettland: diffuses Zugehörigkeitsgefühl zu diesem winzigen Ländchen an der Ostsee
       
       Warum hast du eigentlich keinen lettischen Pass?“, fragt mein Onkel, als
       ich ihn im Sommer in Riga besuche. „Weil ich dann meine deutsche
       Staatsbürgerschaft abgeben müsste“, antworte ich. „Was ja schon ein
       bisschen absurd wäre, wenn man in Deutschland lebt.“ Er insistiert: „Nein,
       du kannst zwei Staatsbürgerschaften haben, das ist seit 2019 so. Wenn du
       halbe Lettin bist, dann musst du auch einen lettischen Pass haben!“
       
       Halbe Lettin – das war mein Auftrag, solange ich mich erinnern kann. Aber
       irgendwie gelang es meiner Familie nicht, hier im Westen so etwas wie eine
       kulturelle Identität aus der Retorte zu stampfen. Bei uns zu Hause sprach
       außer meiner Großmutter niemand lettisch, und dieses Lettland gab es auf
       unserem ADAC-Atlas gar nicht – da stand in dicken Buchstaben: UdSSR.
       Trotzdem sollte ich halbe Lettin sein, und hatte dabei keine Ahnung, was
       das eigentlich bedeutete. Lettland bestand für mich vor allem aus den
       Päckchen meiner Rigaer Urgroßmutter, gefüllt mit Bernsteinketten, muffiger
       Ostschokolade und für mich nicht lesbaren Kinderbüchern.
       
       In deutlichem Gegensatz dazu beschwor meine Großmutter die alte Heimat als
       besten aller Orte, und das mit einer Vehemenz, die ans Klinische grenzte.
       Als Teenager war ich zwar für unterdrückte Völker auf der ganzen Welt zu
       entflammen, nur die Letten hatte ich dabei hübsch ausgeklammert.
       Letztendlich ist diese Staatsangehörigkeit also auch eine Versöhnung mit
       meiner eigenen Ignoranz.
       
       Wenn ein Elternteil lettischer Staatsbürger ist, hat das Kind einen
       Anspruch. Jetzt geht es aber auch schon los: Mein Vater war zwar Lette,
       aber eben kein Staatsbürger, weil er kurz nach dem Krieg als Kind
       lettischer Eltern in einem deutschen Flüchtlingslager geboren wurde. In
       ihrer Abwesenheit wurde die alte Heimat Lettland zum Teil der Sowjetunion –
       und meine Familie damit staatenlos. Zumindest hier im Westen. Wären sie
       nach Riga zurückgekehrt, hätte man sie sofort als Sowjetbürger vereinnahmt.
       
       ## Heimatgefühl schlug Ratio
       
       Kurz nach der Unabhängigkeit Lettlands 1991 wurde meinem Vater, meiner
       Großmutter und mir die lettische Staatsangehörigkeit angeboten. Meine
       Großmutter griff natürlich sofort zu, schließlich war sie als Lettin in
       Deutschland ihr bisheriges Leben lang staatenlos geblieben. Mein Vater war
       irgendwann in der BRD eingebürgert worden, genauso wie ich. Wir schlugen
       also aus, sehr zum Groll meiner Großmutter, der Heimatgefühl deutlich über
       Ratio ging, und der mit dem Argument, sowohl Wahlrecht als auch mögliche
       Sozialleistungen zu verlieren, nicht beizukommen war. Von regelmäßigen
       Verlängerungen des Aufenthaltstitels bei der Ausländerbehörde gar nicht zu
       reden.
       
       Ich habe zwar einen lettischen Namen und fiele daher in Lettland nicht
       sonderlich dumm auf, aber ansonsten bin ich mit dem Land meiner Vorfahren
       gerade noch in der absoluten Und-was-machst-du-so-Anwärmphase. Ich kenne
       weder die Programme der regierenden Parteien, noch könnte ich mich
       überhaupt unfallfrei auf Lettisch verständlich machen.
       
       ## „Lieb, dass Sie Lettisch lernen“
       
       Also rufe ich bei der lettischen Botschaft in Berlin an und frage mal nach,
       ob ich denn auch einen Einbürgerungstest auf Lettisch absolvieren müsste –
       nicht ohne zu betonen, dass ich gerade ganz fleißig dabei bin, die Sprache
       zu lernen. „Das ist sehr lieb, dass Sie Lettisch lernen“, sagt der
       freundliche Botschaftsmitarbeiter am Telefon. „Aber Sie brauchen das
       nicht.“ „Ich will doch Staatsbürgerin werden“, entgegne ich. „Irgendwann
       lernen Sie es bestimmt, aber wenn Ihr Vater Lette war, dann ist es für
       einen Pass nicht nötig.“
       
       In Lettland leben bis heute Zehntausende Staatenlose, die das Weltgeschehen
       gegen ihren Willen und ohne ihr Zutun in diesen Teil der damaligen
       Sowjetunion verschlagen hat. Das Baltikum sollte, wie all die anderen
       Sowjetrepubliken, komplett „russifiziert“ und die eigene kulturelle
       Identität ausgelöscht werden. Zu diesem Zweck [1][wurden dort verstärkt
       Russ*innen angesiedelt], auf dass sich das Lettentum nach ein paar
       Generationen ausgemendelt habe – so der Plan der Sowjetführung.
       
       ## Die Sonne ist gelb
       
       Diese Zwangseinwanderer*innen haben inzwischen längst Kinder und
       Enkel, die zwar in Lettland geboren wurden und mit Russland vielleicht auch
       gar nichts am Hut haben – aber eben keine Letten sind. Und damit
       staatenlos. (Im Zuge der Gesetzesänderung von 2019 erhalten Kinder der
       sogenannten Nichtbürger, die in Lettland geboren werden, inzwischen
       automatisch die lettische Staatsangehörigkeit.) Sie können sich zwar in
       Lettland einbürgern lassen, aber dafür werden weitreichende historische und
       kulturelle Kenntnisse abgefragt.
       
       Und ein Sprachtest wird verlangt. Ich wäre komplett verloren, mein Lettisch
       bewegt sich leider immer noch auf
       Doofer-Tourist-der-nichts-versteht-Niveau. Ich kann zwar sagen: Riepas ir
       melnas, saule ir dzeltena un debesis ir zilas. (Die Reifen sind schwarz,
       die Sonne ist gelb, der Himmel ist blau) – aber das braucht man in der
       Konversation mit lettischen Behörden ja eher selten.
       
       ## Wie findet das eigentlich der deutsche Staat?
       
       Dann die große Frage: Wie findet das eigentlich der deutsche Staat, wenn
       ich mir noch einen Zweitpass zulege? Sämtliche Informationen, die leicht zu
       googlen sind, betreffen den umgekehrten Fall: Wenn man zusätzlich zu seiner
       Ursprungsstaatsbürgerschaft die deutsche annehmen will. Anruf beim
       Einwohnermeldeamt. Dort Ratlosigkeit. Dann Anruf bei der Ausländerbehörde.
       Dort spuckt mich die Warteschleife vor die Füße eines ausgesprochen
       ruppigen Herrn, der mich nicht mal ausreden lässt, mir aber gleich schon
       versichert, mein Ansinnen habe gar keine Chance.
       
       Ich sage: „Aber ich habe doch schon einen sexy Pass! Ich will nur wissen,
       ob das problemlos möglich ist, mir eine für hiesige Verhältnisse unsexyere
       Zweitstaatsbürgerschaft zuzulegen?“ Antwort ruppiger Herr G. (dessen Namen
       ich mir mal vorsichtshalber notiert hatte): „Nein, das ist nur in ganz
       seltenen Ausnahmefällen möglich! Das entscheidet ein einziger
       Sachbearbeiter, und wenn Ihnen dessen Entscheidung nicht passt, dann müssen
       Sie dagegen klagen. Hat aber wenig Aussicht auf Erfolg, das sage ich Ihnen
       gleich!“ Bäm. Dann fliege ich aus der Leitung.
       
       ## Bloß nix falsch ausfüllen
       
       Zweiter Anlauf, wieder Warteschleife. Als sich eine nette Dame meiner
       annimmt, verlange ich nach Herrn G., doch der ist leider im Gespräch.
       Wahrscheinlich muss er sein Plansoll, heute mindestens zehn hoffnungsvolle
       Staatsbürgerschaftsaspiranten in die nackte Verzweiflung zu treiben, noch
       erfüllen. Stattdessen möchte mir die nette Dame gern weiterhelfen. Ich
       formuliere mein Ansinnen und erhalte als Antwort: Alles gar kein Problem.
       Paragraf 25 Staatsangehörigkeitsgesetz, das könne ich nachlesen.
       
       Auf der Webseite der lettischen Migrationsbehörde suche ich stundenlang
       nach dem passenden Antragsformular – das es natürlich nur auf lettisch
       gibt. Überhaupt wimmelt es nur so von Formularen: Verzicht auf die
       lettische Staatsbürgerschaft, Wiedererlangung der lettischen
       Staatsbürgerschaft, Neuantrag für eine lettische Staatsbürgerschaft. Jetzt
       bloß nix falsch ausfüllen. Auf dem hoffentlich passenden Antragsbogen muss
       ich zuerst versichern, nicht in den Diensten ausländischer Streitkräfte zu
       stehen. Ebenso wenig darf man ehemalige*r KGB-Mitarbeiter*in sein.
       
       ## Ich möchte die Staatsbürgerschaft, weil…
       
       Dann soll ich mein Anliegen kurz begründen. Ich möchte die lettische
       Staatsbürgerschaft beantragen, weil …Ich mal probieren wollte, ob das
       klappt? Klingt nicht gut. Weil ich eine sentimentale Meise habe und der
       heimatlosen Zerrissenheit in meiner Familiengeschichte einen bürokratischen
       Ausdruck verleihen will? Schon besser. Ich habe ja auch gar keine
       Businesspläne, keine Heiratsabsichten, nur ein diffuses
       Zugehörigkeitsgefühl [2][zu diesem winzigen Ländchen an der Ostsee], das
       auf der Landkarte so aussieht, als habe jemand mal kräftig in eine etwas
       amorphe Stulle gebissen.
       
       Und wenn der Klimawandel Sylt bereits weggespült hat, dann säße ich an
       einem unbegradigten Flüsschen auf meiner lettischen Scholle und hätte noch
       ein paar Jahre lang trockene Füße – so der Plan. Und außerdem sollte ich
       meinem Arbeitsauftrag „halbe Lettin“ mit knapp Fünfzig auch langsam mal
       nachkommen.
       
       ## Name hübsch eingelettischt
       
       Ich klaube also die zerfledderte Geburtsurkunde meines Vaters, die frisch
       von lettischen Behörden beantragte Geburtsurkunde meines Großvaters, meine
       eigene und noch allerhand andere Papiere, die möglichst viel Lettenanteil
       belegen, zusammen und schicke es per dreifach versichertem Einschreiben
       nach Riga.
       
       Dann ist wochenlang Ruhe. Anfang Januar bekomme ich eine Mail: „Guten Tag,
       Sie wurden soeben als lettischer Staatsbürger registriert.“ Schönen Gruß.
       Kein „Herzlichen Glückwunsch“, keine Blaskapelle, kein „Willkommen im
       Klub“. Nur ein Mailanhang, in dem ich meinen Namen hübsch eingelettischt
       vorfinde: Kibermane – so heiße ich also zukünftig in Lettland. Frau
       Kibermane ist dann trotz der formalen Kühle dieses Schreibens doch ein
       bisschen feierlich zumute.
       
       9 Feb 2022
       
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