# taz.de -- Die Wahrheit: Das größte Arschloch Russlands
       
       > Eine sensationelle Entdeckung russischer Forscher an einem der
       > abgelegensten Orte der Erde im Nordosten Sibiriens.
       
 (IMG) Bild: Der Woschd oder Führer, der vergessen wurde und wird
       
       Selten hat die Welt aufgewühltere Gemüter gesehen als an diesem Freitag,
       dem 1. März 3022, da sich die ehrenwerten Gelehrten der Russischen Akademie
       der Wissenschaften am Lenin Prospekt in Moskau zu einer Pressekonferenz für
       die Medien des gesamten Universums einfanden. Und alle Berichterstatter
       waren gekommen – von der schicken Lunaistin des brandneuen Senders MHV
       (MoonHoloVision) bis zum guten, alten irdischen Internetreporter im
       angestaubten Wams.
       
       Knisternde Spannung lag in der stickigen Luft des „Goldenen Hirns“, wie das
       über tausend Jahre alte Akademiegebäude von den Moskauern gern genannt
       wird. Freude, aber auch so etwas wie nicht nachlassende Verblüffung
       spiegelte sich im blassen Gesicht des übernächtigten Akademiepräsidenten
       Lev Kirin, als er mit zitternder Stimme von einem der spektakulärsten
       wissenschaftlichen Funde aller Zeiten berichtete, der in die
       Menschheitsgeschichte eingehen sollte als „das größte Arschloch Russlands“,
       so Kirin.
       
       „Liebe Bürger Terras“, hob er an und gab dann eine solch abenteuerliche
       Zusammenfassung der Ereignisse zum Besten, dass selbst der sonst so coolen
       Holo-Reporterin im Astrolook die zarte Kinnlade nach unten fiel. Demnach
       wurde kürzlich bei Laserabtastungen der sibirischen Landoberfläche vom
       geostationären Außenerdring der Internationalen Weltraumagentur Unasa aus
       eine geologische Anomalie im Nordosten Sibiriens festgestellt.
       
       Daraufhin sei ein Forscherkollektiv aus Archäologen und Historikern,
       Astrophysikern und Geologen in die bislang nicht erschlossene Region
       aufgebrochen, wo es an einem der abgelegensten Orte der Erde, etwa 300
       Kilometer nördlich der Siedlung Belaja in Jakutien, auf eine gewaltige
       unterirdische Gesteinsformation stieß. Die Wissenschaftler tauften das
       dunkle Massiv, das trotz seiner Ausdehnung von rund einem Kilometer im
       Permafrostboden der Tundra mit bloßem Auge nicht wahrzunehmen ist, auf den
       Namen „Tschornaja Gora“, Schwarzer Berg.
       
       Erste Vermutungen, es handle sich um einen Meteoriten, hätten sich nicht
       bestätigt. Probebohrungen und eine radioaktive Altersbestimmung ergaben,
       dass der Schwarze Berg irdischer Natur ist und aus Kompositgestein besteht,
       sogenanntem Schungit, und vor etwa tausend Jahren in einem Stück an seinen
       Fundort transportiert worden sein muss – mit welcher Technik, sei nicht
       bekannt.
       
       ## Hohlraum unter Gestein
       
       Noch größer war die Überraschung der Wissenschaftler, als sie unter dem
       Gesteinsblock einen kleinen Hohlraum entdeckten, darin eine Art Sarkophag.
       Mit aufwändiger Technik, so der Akademiepräsident, sei es schließlich
       gelungen, von der Seite einen Tunnel zu bohren und unter den Riesenstein
       vorzudringen. Beim Öffnen des Hohlraums sei dann tatsächlich ein Sarg mit
       einer mumifizierten Leiche gefunden worden. Auf dem marmornen Sargdeckel
       eingemeißelt, prangte eine von Linguisten als Neualtrussisch identifizierte
       Inschrift in kyrillischen Buchstaben: „Hier liegt das größte Arschloch
       Russlands begraben.“
       
       An dieser Stelle schluckte der sonst so rationale Intellektuelle Kirin
       sichtlich bewegt. „Tausend Jahre alt“, wiederholte er, sei der Sarg, die
       Mumie, der Schwarze Berg. „All dies muss aus der Dunkelzeit stammen“, wie
       Historiker den Zeitraum zu Beginn des 21. Jahrhunderts bezeichnen, weil es
       seltsamerweise aus dieser Epoche der russischen Geschichte zwischen der
       Stalin-Ära und der Nawalny-Phase keinerlei Aufzeichnungen gebe und auch
       intensive historische Forschungen kein Licht ins Stockdunkel des
       verschütteten Zeitalters gebracht hätten.
       
       „Aber nun sind wir schlauer“, strahlte der grauhaarige Denker, „wir ahnen
       zumindest, wer hier beerdigt wurde.“ Dann ließ er ein Hologramm der
       Grabstätte vor den versammelten Zuschauern erscheinen. In der
       dreidimensionalen Darstellung öffnete sich der Sargdeckel und eine
       zusammengekrümmte, weil gefesselte Mumie kam zum Vorschein. Über ihrem Kopf
       war eine weitere Inschrift eingemeißelt. Deren Inhalt sei die eigentliche
       Sensation, erläuterte Kirin und las dann voller Pathos den Text vor:
       
       „Das kluge und weise russische Volk hat hier das in der langen und
       unvergänglichen Geschichte Russlands größte Arschloch begraben. Er war der
       Woschd. Seine Leiche haben wir Russen nicht verfeuert und in alle
       Windrichtungen zerstreut, damit der Sturm sie nicht überallhin ins Land
       trägt und sein Same wieder keimen könnte und das Unheil seiner Unperson
       zurückkehrt. Wir Russen haben die Mumie des Woschd erhalten und einen
       Riesenstein über ihn gelegt, damit der Führer für immer verschwindet und
       niemals wiederkommt. Wir Russen haben seinen Namen aus allen
       Geschichtsbüchern getilgt. Seine Familie, seine Kinder und Kindeskinder,
       sämtliche Verwandten wurden ausgelöscht. Wie auch jede Erinnerung an ihn,
       jede Erzählung über ihn, jedes Bild von ihm beseitigt wurde. Der Woschd ist
       nun ein Nichts und wird bis in die Ewigkeit unter dem Tschornaja Gora
       bleiben. Er ist und war nichts als das größte Arschloch Russlands.“
       
       ## Scham und Schreckensherrschaft
       
       Offenbar, so Kirin, habe das russische Volk vor rund tausend Jahren aus
       Scham und Verzweiflung einen Schreckensherrscher, der vermutlich noch
       grausamer als Iwan der Schreckliche oder Josef Stalin gewesen sei und in
       seinem Cäsarenwahn brutale Kriege gegen das eigene Volk und andere Länder
       geführt hatte, gründlich aus dem kollektiven Gedächtnis gestrichen. Leider
       hätten Russen in früheren Zeiten meist nichts aus der Geschichte gelernt,
       sondern immer neue Tyranneien zugelassen. Da seien die Menschen vor tausend
       Jahren endlich ein einziges Mal klüger gewesen.
       
       Deshalb, betonte der Akademiepräsident, deshalb werde man den Willen des
       von wahrlich tiefer Weisheit geleiteten russischen Volkes absolut
       respektieren. In Abstimmung mit dem Kooperationsrat der Weltregierung in
       Zürich werde die Herkunft der Mumie nicht bestimmt und der Name des
       sogenannten Woschd nicht genauer ergründet. Selbst Historiker hätten darauf
       gedrungen, den Sarkophag sofort wieder zu verschließen, das Gebiet rund um
       den Tschornaja Gora zur verbotenen Zone zu erklären und die Mumie unter dem
       Schwarzen Berg dem Vergessen zu überlassen.
       
       „Ein großer Sieg für das ganze Sonnensystem und darüber hinaus“, schloss
       Lev Kirin spürbar zufrieden seine Rede, während die junge
       HoloVision-Reporterin es in ihrer typisch lockeren Mondart etwas anders
       formulierte: „Wie die gesamte Menschheit weiß, hat krasser Arschwahn seinen
       Preis.“
       
       1 Mar 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Ringel
       
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