# taz.de -- Inszenierung des Kriegs auf Tiktok: Moonwalk auf dem Schlachtfeld
       
       > Manche nennen den Krieg in der Ukraine schon den ersten „Tiktok-Krieg“:
       > Was bedeutet das für unsere Wahrnehmung des Konflikts?
       
 (IMG) Bild: Tiktok unterscheidet sich maßgeblich von anderen sozialen Netzwerken
       
       Der Ukraine-Krieg war noch keine paar Stunden alt, da tauchten auf
       [1][Tiktok] schon die ersten verwackelten Handyvideos auf. Reservisten beim
       Schießtraining. Panzerkolonnen, die auf Kiew zurollen. Russische Kampfjets,
       die am Himmel aufsteigen. Der chinesische Social-Media-Dienst ist zu einer
       der wichtigsten Quellen im Ukraine-Krieg geworden. In den TV-Nachrichten
       laufen die Bilder im Hochformat der Handykameras rauf und runter. Die
       Kommentatoren sprechen bereits vom „ersten Tiktok-Krieg“.
       
       Der erste „Social-Media-Krieg“ zumindest ist es jedoch nicht. Bereits im
       2011 ausgebrochenen Bürgerkrieg in Syrien spielten soziale Medien eine
       wichtige Rolle: Nach dem Giftgasangriff von Ghuta 2013 durch Diktator
       Baschar al-Assad kursierten in sozialen Netzwerken Fotos und Videos von
       Opfern, die als Beweismaterial auch von den Vereinten Nationen gesichtet
       wurden. Die Liveaufnahmen, die todesmutige Videoaktivisten mit ihren
       Handykameras machten, waren anders als die perfekt inszenierten,
       durchchoreografierten Fernsehbilder, die CNN noch im Ersten Golfkrieg 1991
       in die Welt sendete: Sie zeigten die Wirklichkeit nicht als hollywoodreifes
       Blockbuster-Kino, sondern als große Vergeblichkeit.
       
       In den Zehnerjahren glaubte man noch [2][uneingeschränkt an das
       emanzipatorische Potenzial digitaler Technologien]. Das Smartphone sei eine
       stärkere Waffe als Panzer und Raketen, hieß es. Natürlich war solcher
       Technikglaube schon immer naiv, weil Terroristen und autoritäre Regime
       diese Werkzeuge ebenso für ihre Zwecke nutzen können. Auch auf Tiktok tobt
       heute ein Informationskrieg. Doch die zusammengeschnittenen, mit Musik und
       Emojis unterlegten Videoclips sind von ganz anderer Qualität und Machart
       als die ungefilterten Facebook-Livestreams. Sie sind emotionaler, bunter,
       schriller.
       
       Da sieht man zum Beispiel einen Soldaten, der in Uniform auf einem
       Getreideacker einen Moonwalk hinlegt. Der Clip, der mit dem
       Michael-Jackson-Song „Smooth Criminal“ unterlegt ist, hat über 13,6
       Millionen Likes bekommen. In den Kommentaren finden sich Bemerkungen wie:
       „Ey Nicer Helm ist der von uns?“ Eine Anspielung an die Lieferung von 5.000
       Bundeswehrhelmen an die Ukraine. Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen
       soll. Soll das Situationskomik sein? Galgenhumor? Eine Dance-Battle?
       
       ## Tänzeln von einem Extrem ins nächste
       
       Vor wenigen Tagen ging ein Video viral, in dem eine ukrainische
       Influencerin demonstriert, wie man einen russischen Panzer fährt – wie sich
       später herausstellte, war das Video jedoch ein Jahr alt und damit ein Fake.
       Auch der Moonwalk des Manns in Uniform lässt sich schwer verifizieren. Die
       Tanzeinlage kann irgendwo auf der Welt aufgenommen worden sein, es muss
       auch kein ukrainischer oder russischer Soldat sein. Das scheint aber längst
       nicht mehr entscheidend.
       
       Als jemand, der nicht der [3][Generation Z] angehört, muss man sagen, dass
       das schon ein sehr spezieller Humor ist auf Tiktok. Da mischen sich Pranks
       mit Liveaufnahmen aus dem Häuserkampf, wird eine Putin-Rede mit dem
       Radetzky-Marsch untermalt, singt ein Kampfjetpilot „Danger Zone“ von Kenny
       Loggins. Als wäre das der Soundtrack des Krieges.
       
       Die Sequenzen, die der Algorithmus zu einem digitalen Daumenkino
       zusammenklebt, sind häufig disparat, aber sie gehorchen – und das ist das
       Erfolgsrezept in einer Aufmerksamkeitsökonomie – einer immanenten
       Eskalations- und Steigerungslogik.
       
       Man tänzelt von einem Extrem ins nächste. Auf die Aufnahmen aus einer
       zerbombten Stadt folgt ein Clip eines ukrainischen Soldaten, der mit einer
       Panzerfaust versucht, eine russische MIG-29 abzuschießen, was wiederum
       getoppt wird vom Atompilz einer taktischen Nuklearbombe, die angeblich über
       Kiew gezündet wurde. Es ist der Konsum des Krieges: Man ertappt sich dabei,
       wie man über Mörsergranaten wischt, als wäre es ein Tinder-Profil.
       
       ## Medien, die „heiß“ machen
       
       Der Medientheoretiker Marshall McLuhan hat das Fernsehen mal als „kaltes
       Medium“ bezeichnet. Im Gegensatz zu „heißen Medien“ wie Film oder Zeitung
       vermitteln „kalte“ Medien wenige Informationen – und verlangen daher ein
       höheres Engagement beim Zuschauer. Beim Schwarz-Weiß-Fernsehen fehlt die
       Farbe, beim analogen Telefon jegliches Bild. Der Empfänger ergänzt daher
       die fehlenden Informationen selbst. Der Vietnam-Krieg gilt nicht nur als
       erster Fernsehkrieg der Geschichte, sondern auch als „Livingroom War“: Er
       reduzierte zwar die Distanzen zwischen Schlachtfeld und Sofa im
       elektronischen Dorf, stumpfte aber auf Dauer auch ab.
       
       Tiktok ist nun dem Kino wieder deutlich näher als dem Fernsehen, weil es
       seine Zuschauer mit Spezial- und Derealisierungseffekten „heiß“ macht. Da
       sieht man aus der Egoshooter-Perspektive einen russischen Panzer durch ein
       ukrainisches Dorf fahren, als wäre es ein Computerspiel. Gleichzeitig
       stammt das bombastische „Filmmaterial“ von Fliegerangriffen teils aus dem
       Computer-Militärsimulationsspiel „Arma 3“. Wo Computersimulationen immer
       realistischer werden, wird die Realität immer simulatorischer. Selbst das
       geschulte Auge kann nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob die Bilder real
       oder Fiktion sind.
       
       Der französische Soziologe Jean Baudrillard schrieb in seinem Essayband
       „The Gulf War Did Not Take Place“ (1991), dass die Fernsehbilder die
       „Illusion des Krieges“ erzeugen würden. Das Medium mache die Wirklichkeit
       „virtuell“. Die Bilder von Nachtsichtgeräten oder Livestreams von
       zielgenauen Raketeneinschlägen, die man auf seinem Bildschirm sehe, seien
       letztlich nur die Computersimulation einer elektronischen Kriegsführung.
       
       Der Krieg selbst, so Baudrillard, finde gar nicht statt, er sei „irreal“.
       
       ## Zappen auf Steroiden
       
       Mit diesem postmodernen Spin wäre man vor ein paar Jahren noch in Verdacht
       geraten, die Realität zu leugnen und Faktenverdrehern ein ideologisches
       Fundament zu liefern (siehe auch die Debatte zur Postmoderne und Trump).
       Doch die „Referenzlosigkeit“ der Bilder, von der Baudrillard sprach, lässt
       sich in dem endlosen Informationsstrom von Tiktok gut beobachten. Die
       Videoplattform ist das genaue Gegenteil von Framing: Es gibt kein
       Bedeutungsumfeld, auch keinen embedded journalism, wie man es aus dem Irak
       oder Afghanistan kennt, keine narrative Ordnung, keine Kriterien für
       Relevanz, nicht mal eine Storyline. Es ist wie Zappen auf Steroiden.
       
       Und doch ist der Bilderrausch keine Zufallsproduktion, sondern ein
       individuell auf den Konsumenten zugeschnittenes Programm. Der Journalist
       Chris Stokel-Walker hat im Magazin Wired geschrieben, dass Tiktok mit
       seiner algorithmischen Mechanik „für den Krieg designt“ worden sei. Dieses
       Design, das Nutzer in einen „immersiven, endlosen Strom von peppig-zackigen
       Inhalten“ werfe, sei darauf angelegt, die „Aufmerksamkeit zu
       monopolisieren“.
       
       Wenn man bedenkt, dass der chinesische Staat beim Tiktok-Mutterkonzern
       Bytedance beteiligt ist, scheint hier eine unheilvolle Allianz zwischen
       russischen Bildproduzenten und chinesischen Softwareingenieuren auf.
       Tanzen wir alle nach der Nase Pekings? Es gibt gewiss kein Skript, nach dem
       digitale Öffentlichkeiten funktionieren. Aber im Kampf der Bilder, der
       jeder Krieg immer auch ist, ist China mehr Akteur als Zuschauer. Was wir
       auf unseren Bildschirmen sehen und was nicht, wird letztlich auch in Peking
       entschieden.
       
       11 Mar 2022
       
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