# taz.de -- Freiwilligenhilfe in der Westukraine: Krisenstab am Küchentisch
       
       > Tscherniwzi in der Westukraine blieb bisher von Angriffen verschont. Zu
       > Besuch bei Menschen, die Lebensmittel und Material für die Armee
       > beschaffen.
       
 (IMG) Bild: Die Sporthalle ist zu einem Verteilungszentrum für Hilfsgüter geworden
       
       TSCHERNIWZI/CZERNOWITZ taz | Abends um kurz nach halb neun heulen die
       Alarme los. Ein durchdringender Ton, erst tief, dann hoch, und wieder
       zurück. Einmal, zweimal, acht Mal, zwanzig Mal – etwa die Hälfte der
       Menschen in der riesigen Halle schaut auf ihre Mobiltelefone, die sich in
       Sirenen verwandelt haben.
       
       Es ist Montag der 7. März, Tag 12 des Krieges. Hier in der Ukraine kommt
       der Luftalarm per App. Raketen könnten die Stadt treffen, Flugzeuge mit
       Bomben auf dem Weg sein. Aber niemand rennt los. Alle bleiben, wo sie sind,
       räumen weiter Kartons von links nach rechts, kramen zwischen kurzen Hosen
       und Faltenröcken nach warmen Mänteln, rauchen an den großen Eingangstüren
       Zigaretten.
       
       „Sollten wir nicht in den Bunker?“, frage ich. Sascha schaut zu mir hoch,
       das Licht der Neonlampen legt einen dunklen Ring um die graublaue Iris
       ihrer Augen. „Hier gibt es keinen“, sagt sie, und zuckt mit den Schultern,
       ihre riesige schwarze Jacke hebt und senkt sich leicht. „Willst du etwas
       essen?“ Dann dreht sie sich um und läuft los.
       
       So reagiert man in Tscherniwzi, dem ehemals Habsburger Czernowitz, ganz im
       Westen der Ukraine, also auf einen möglichen Angriff Russlands. Dabei
       wissen hier doch auch alle von den Raketen, die die [1][ostukrainische
       Millionenstadt Charkiw] treffen, sie kennen die Bilder von brennenden
       [2][Häusern in der Hafenstadt Mariupol], von den zerstörten Kleinstädten
       rund um die Hauptstadt Kyjiw.
       
       Wie viele Tote der Krieg bisher gefordert hat, ist schwer zu sagen, weil
       nur die ukrainische Regierung regelmäßig Zahlen nennt. Die Vereinten
       Nationen zählten bis zum 8. März über 500 tote Zivilist:innen, die
       ukrainische Regierung hat allein 1.200 Tote als Folge des Beschusses und
       der Belagerung von Mariupol angegeben. Klar ist aber, dass viele russische
       Raketen, Granaten und Bomben Wohnhäuser treffen, und Kindergärten und
       Kliniken.
       
       Doch dieser Teil des Landes bleibt vom russischen Überfall auf die Ukraine
       bisher weitgehend verschont. Der Flughafen der knapp 140 Kilometer weiter
       nordöstlich gelegenen Stadt Iwano-Frankiwsk wurde in den ersten Kriegstagen
       mit Raketen attackiert, in [3][Lwiw (Lemberg)] haben sie Statuen in der
       ganzen Stadt mit feuerfesten Materialien eingewickelt, falls Russland auch
       diese Stadt beschießt. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag waren
       Explosionen in Luzk zu hören.
       
       ## Zentrales Verteilungszentrum
       
       Hier in Tscherniwzi, knapp 40 Kilometer vor der Grenze zu Rumänien und
       damit auch der Grenze zur Europäischen Union, ist es bisher ruhig. Aber
       wenn die Stadt tatsächlich einmal angegriffen wird, wäre die große
       Sporthalle, durch die ich Sasha hinterherdackele, ein strategisch wichtiges
       Ziel. Sie ist zum zentralen Verteilungszentrum für Hilfsgüter in
       Tscherniwzi geworden.
       
       Sasha Zwetkova und ich kennen uns bereits seit einigen Jahren. Sie ist
       gleich an dem Tag geflohen, als der Krieg ausbrach. Russische Truppen haben
       eine Rakete auf ein Kraftwerk abgeschossen, das nicht weit weg von ihrem
       Haus steht.
       
       Sie ist Buchhalterin oder war es, in einem früheren Leben, das gerade
       einmal ein bisschen mehr als zwei Wochen her ist. Ein Leben, das sie hatte,
       bevor der russische Diktator Wladimir Putin mit seiner Armee die Ukraine am
       24. Februar überfallen hat.
       
       Sie hat früher für eine große Baufirma gearbeitet, in den vergangenen
       Jahren arbeitete sie dagegen oft für Leute, die ständig pleite sind:
       Regisseur:innen, Produzent:innen, irgendwas mit Film. Ihre Schwägerin Lizza
       Smith ist eine dieser Regisseur:innen, auch sie schwirrt hier irgendwo in
       der Halle herum.
       
       Sie kommt aus dem gleichen Ort wie Sasha, einer Kleinstadt bei Kyjiw, wo
       wir uns kennenlernten, als ich eine Geschichte über Schulkinder im Krieg
       geschrieben habe. Ich bin hier um Lizza und Sasha zu besuchen, so lange es
       noch geht, und um Medikamente mitzubringen, Schlafsäcke, Filmausrüstung für
       Lizza und ihre Kolleg:innen, und Geld.
       
       ## Kugelsichere Westen, Schmerztabletten und Holzlatten
       
       Am Tor zur Straße stehen Männer in Tarnuniformen und mit umgehängten
       Kalaschnikows. Durch dieses Tor kommen Lkw und Minibusse, Menschen mit
       Paketen auf dem Arm. Sie bringen Spenden aus dem In- und Ausland.
       Teekannen, kugelsichere Westen, Schmerztabletten und Holzlatten.
       
       Kommt eine neue Ladung, brüllt jemand irgendwas und Männer mit
       Arbeitshandschuhen reißen die Kartons von den Ladeflächen, bilden Ketten,
       reichen Helfer:innen Kisten oder Beutel, sortieren alles, stapeln es auf
       Paletten, stopfen es in Beutel und tragen es dann raus in den
       Schneegriesel, minus 4 Grad an diesem Montagabend, kalt genug, dass einem
       die Finger beim Wischen auf dem Smartphone festkleben und sich der Akku so
       schnell leert als würde ihn der Winter aussaugen.
       
       Weiße Minibusse fahren vor, in die Männer mit den Arbeitshandschuhen so
       viel Zeug stopfen, dass kaum noch der Fahrer Platz hat, und dann geht es
       los Richtung Kyjiw, Zhytomyr, Koselez – in große und kleine Städte überall
       im Land. Der Inhalt der Autos ist für Krankenhäuser bestimmt und für
       Kindergärten, aber auch für einzelne Personen, auf Paletten voller
       Konserven steht mit schwarzem Edding „Armiya“, also „Armee“, auf kleineren
       Paketen auch Mascha Soundso und Wolodymyr Diesunddas, dann eine Adresse.
       
       Von hier aus wird die Hilfe für Notleidende ebenso organisiert wie auch der
       Nachschub für den Krieg gegen die der ukrainischen Armee an Mannstärke und
       Feuerkraft weit überlegenen russischen Truppen. Waffen sehe ich keine,
       genausowenig wie ein System, wer wann etwas anfasst, wegträgt, aufreißt
       oder hinstellt.
       
       ## Die blau-gelbe Fahne weht
       
       „Es gibt auch keins“, sagt Sasha und läuft durch eine Doppeltür, einen
       langen Gang hinunter, „aber es funktioniert trotzdem, das ist ukrainische
       Anarchie.“ Sie biegt nach links ab, und dann kommt noch einen langer Gang
       und dann stehen wir in einer Cafeteria, auf einem Tresen stehen Wurstbrote,
       Klopse aus gebratenem Hackfleisch und Teigteile, bei denen man nicht sieht,
       was drin ist. Es riecht nach Kaffee.
       
       An runden Tischen und auf langen an den Wänden aufgestellten Bänken sitzen
       Männer in den gleichen Tarnklamotten wie draußen vor dem Tor, und Frauen,
       die wie Sasha in ihren Mänteln fast verschwinden. Der Fernseher an der Wand
       gegenüber dem Tresen mit dem Essen zeigt Panzer, die durch Schlamm fahren,
       abgefeuerte Raketen, die blau-gelbe ukrainische Fahne weht, die
       Nationalhymne wird gespielt. Sasha nickt zu den Bergen von Essen hinüber:
       „Du kannst dir alles nehmen was du willst.“
       
       Da gehen die Sirenen auf den Telefonen wieder los. Wieder Luftalarm. Wieder
       rührt sich niemand. „Wenn was passiert, sind wir hier am sichersten“, sagt
       Sasha, und ein Lächeln zuckt kurz über ihr blasses, schmales Gesicht, es
       ist nicht klar, was sie meint, was an den dünnen Wänden hier sicherer sein
       soll als in der Weite der Halle eben, aber sie antwortet nicht und holt
       sich einen Kaffee. Sie ist ständig müde. Zu wenig Schlaf. „Wir haben keine
       Zeit“, sagt sie, als sie zurückkommt, „wir müssen noch etwas schaffen.“
       Eine Armee-Einheit hat um Medikamente gebeten, die sollen heute noch raus.
       
       Solche Bitten kommen zum Teil per offiziellem Schreiben mit Briefkopf und
       Stempel zu Sasha, viele auch per Internet, meistens per Telegram, manchmal
       per Facebook, WhatsApp oder auch per Signal-Messenger. Wer in der Ukraine,
       also im Krieg, gerade etwas braucht, der schickt ein Google Spreadsheet,
       also eine Tabelle, in der steht, was er sucht und wie viel davon, an seine
       Kontakte auf Social Media. Meistens mit der Bitte sie weiter zu verbreiten.
       
       Ich hatte die Grenze von Rumänien in die Ukraine noch nicht überquert, da
       klebte schon ein solches Spreadsheet in meinem Facebook-Messenger.
       Geschickt hatte es mir ein ehemaliger Schauspieler, der als Freiwilliger
       bei einem Hilfszentrum in Lwiw arbeitet, das sich neun Tage nach
       Kriegsbeginn gegründet hat.
       
       Er suchte unter anderem 50 Packungen Windeln und einhundert Helme. Und wer
       etwas von dem hat, was im Sheet gesucht wird, der meldet sich dann bei
       diesem Schauspieler. Der oder irgendwer in seiner Organisation sucht dann
       nach Fahrer:innen, die zumindest einen Teil der Strecke fahren. Auch die
       sind oft Freiwillige, sie lassen sich nur den Sprit bezahlen, trotz der
       Gefahr – russische Soldaten haben [4][laut Medienberichten schon mehrfach
       nicht-militärische Fahrzeuge beschossen] und die Insassen getötet.
       
       Wie die Hilfsgüter durchs Land bewegt werden, lässt sich am besten an einem
       Küchentisch beobachten. Bevor sie hier an diesem Montag gegen sieben Uhr
       abends in die große Halle gekommen ist, hat Sashaden ganzen Tag an so einem
       Tisch in einer hellen Küche verbracht, in einem Haus etwa 15 Minuten
       entfernt, wenn man mit dem Auto fährt.
       
       ## Ursprünge im Krieg von 2015
       
       Sie hat an diesem Tisch gesessen, auf dem Laptop vor sich tippend und das
       Smartphone zwischen Schulter und Ohr geklemmt. Das Ding hat entweder
       ständig geklingelt, oder sie hat selbst jemanden angerufen und wenn beides
       gerade nicht passiert ist, schepperten die dunklen Stimmen von Männern und
       Nachrichten von müde klingenden Frauen blechern verzerrt aus dem
       Lautsprecher ihres Computers.
       
       „Sollen wir diese Gasmasken kaufen?“
       
       Ein Anrufer aus Deutschland, er durchforstet deutsche Seiten nach günstigen
       Angeboten, Sasha hat ihm vorher ein Spreadsheet geschickt mit Dingen, um
       die jemand im Hilfszentrum sie gebeten hat.
       
       „Sind das die richtigen Schuhe?“
       
       Gute wetterfeste Stiefel sind immer bei allen begehrt, bei Soldaten
       natürlich, aber bei allen anderen auch.
       
       Um 11 Uhr fragt wieder jemand, dieses Mal aus der Ukraine:
       
       „Kriegen wir ein Problem mit der Steuerbehörde, wenn wir das kaufen?“
       
       Sasha antwortet. „Nein, im Krieg doch nicht.“
       
       Mit Steuern kennt sich Sasha als Buchhalterin sehr gut aus.
       
       Ihr gegenüber sitzt Lizza, große braune Augen, schwarze Locken und auf der
       Haut ein Anflug von Sommerurlaub, obwohl ihre Reise nach Kreta nun auch
       schon wieder Monate her ist. Lizza ist eine Regisseurin, die ich 2015 bei
       meiner Recherche im Donbass kennenlernte, Sashas Schwägerin. Sie gehört zu
       den Frauen, die dem ukrainischen Film in den vergangenen Jahren zu mehr
       internationaler Aufmerksamkeit verholfen haben.
       
       „Shkola Nomer 3“, eine Dokumentation über Schüler im Donbass und ihren
       Umgang mit dem Krieg im Osten der Ukraine, den russische Truppen und von
       ihnen gestützte Separatisten bereits 2014 begonnen haben, hat auf der
       Berlinale 2017 den Großen Preis der Kategorie 14plus gewonnen.
       
       Lizza starrt aus der dunklen Höhle ihrer Kapuze so gebannt auf ihren
       Bildschirm, dass man neben ihrem Ohr mit dem Fingern schnipsen muss, um sie
       ins Hier zurück zu holen. Die ukrainische Freiwilligenbewegung hat ihre
       Ursprünge in diesem ersten Krieg von 2015, schon damals haben die so
       genannten Volontär:innen all das getan, was der durch Korruption und
       Misswirtschaft geschwächte Staat nicht in der Lage war zu tun: Tarnnetze
       für die Armee flechten, Essen für Bedürftige kochen, zerstörte Schulen
       wieder aufbauen. Die Volontär:innen sind dabei nicht zu verwechseln mit
       den Kriegsfreiwilligen, die sich zur Armee meldeten oder in eigenen
       Bataillonen kämpften.
       
       „Wie ist gerade der Kurs Dollar in Zloty?“ – Lizza schaut aus ihrer
       Kapuzenhöhle zu Sasha.
       
       „1 zu 4,55“, sagt Sasha nach kurzem Tippen.
       
       „Das sind 450 Dollar pro Stück für die kugelsicheren Westen“. Lizza starrt
       wieder auf den Computer.
       
       Das ist ein wirklich guter Preis. In Deutschland hätte man für diese
       Variante schon in normalen Zeiten fast das Doppelte bezahlt. Und die Zeiten
       sind nicht normal. Kugelsichere Westen sind gerade schwer zu kriegen.
       Sowohl die Varianten in schwarz oder blau für Journalist:innen und
       Filmemacher:innen, die Lizza und Sasha gerade suchen, als auch die in
       Tarnfarben für das Militär.
       
       ## 83 Westen und 57 Helme
       
       Die Parteien im russisch-ukrainischen Krieg räumen den Markt leer. Das
       müsste die Preise eigentlich noch weiter nach oben treiben. „Das ist so
       billig, weil wir so viele kaufen“, sagt Lizza. Ein bisschen Solidarität mit
       der Ukraine sei vielleicht auch dabei. 83 Westen und 57 Helme stehen auf
       Lizzas Spreadsheet, die will sie für Männer und Frauen besorgen, die in den
       Einheiten der ukrainischen Territorialverteidigung kämpfen.
       
       Das Geld dafür kommt von verschiedenen Spendern, unter anderem aus den USA.
       Lizza sorgt dafür, dass es an eine polnische Stiftung geht, die wiederum
       die Westen und Helme kauft.
       
       Dieser Küchentisch, an dem wir hier sitzen, das ist neben den vom Staat und
       von Nichtregierungsorganisationen geführten Centern wie der Sporthalle der
       andere Ort, an dem ukrainische Freiwillige wie Lizza und Sasha Nachschub
       und Hilfe organisieren.
       
       An solchen Tischen telefonieren sie Apotheken im Süden nach Medikamenten
       ab, die im Norden des Landes gebraucht werden, hier lesen sie von
       Freund:innen im Telegram-Chat, dass jemand Windeln zu einer
       pflegebedürftigen Frau in die Stadt Saporischja bringen muss, außerdem hat
       sich eine Frau gemeldet, die selbst schon nach Bayern geflohen ist, deren
       Tochter mit ihrem Hund aber noch in einer Metro-Station in Kyjiw festsitzt.
       
       „Kannst du die Tochter mitnehmen, auf dem Rückweg?“, fragt Lizza ins
       Telefon. 3.000 Grywna lassen sich die Fahrer:innen üblicherweise für die
       Tour ins gefährliche Kyjiw und zurück nach Tscherniwzi bezahlen, das sind
       knapp 93 Euro, die sollen die Kosten für das Benzin abdecken. Dieses Mal
       soll der Fahrer aber noch eine andere Frau mitnehmen, die hat ebenfalls
       einen Hund und das sind ihm zu viele Tiere. Lizza sagt: „Wir reden heute
       Abend nochmal.“
       
       Neben dem Tisch, an dem Lizza und Sasha sitzen, stapelt sich auf einer
       braunen Anrichte neben der Spüle benutztes Geschirr, in einer Schale
       trocknet noch das übrig gebliebene Kascha. Ab und an kommen Menschen in die
       Küche, kochen sich einen Tee, machen sich etwas zu essen, eher selten
       wäscht mal jemand ab.
       
       Das Haus, zu dem die Küche gehört, hat zwei Etagen, zwei Bäder und viele
       große Zimmer, es gehört Freund:innen von Lizzas Eltern, die Geld haben.
       Es ist selbst ein kleines Hilfszentrum, im Flur hinter der Küchentür
       stapeln sich Kartons mit Antibiotika und Schlafsäcken, manchmal übernachten
       Menschen hier für ein, zwei Tage, auf der Flucht vor dem Krieg im Osten und
       Süden, Freund:innen von Sasha und Lizza kommen vorbei, um hier zu
       arbeiten und zu helfen.
       
       „Jede ukrainische Küche ist ein Krisenzentrum“, sagt Darya Bassel. Sie
       lacht laut und tief, ihr schmaler Körper biegt sich dabei nach hinten über
       die Lehne des Stuhls.
       
       ## „Größerer Stab“ und „Kleinerer Stab“
       
       Darya ist Filmproduzentin, sie organisiert unter anderem ein bekanntes
       Festival. Sie wohnt hier nicht, aber sie arbeitet gern hier, dann kann der
       Sohn ihres Partners mit dem Sohn von Lizza spielen. Wenn sie ein Stockwerk
       höher über das Parkett rennen, klingt es, als würde da eine Pferdeherde
       durchtraben. Darya sagt, sie kenne ein paar solcher Hilfsgruppen wie die
       von Sasha und Lizza, „in meiner Bubble machen das viele.“
       
       Ihre Bubble, das sind die Leute vom Film. Die müssen auch in Friedenszeiten
       oft mit wenig Geld und Ressourcen auskommen, Ausrüstung teilen, Fahrer
       kennen, die möglichst wenig verlangen.
       
       Sie haben selbst im seit acht Jahre dauernden Krieg im Donbass gearbeitet
       und kennen Händler:innen in Osteuropa, die ihnen noch Schutzwesten und
       -helme verkaufen, wenn die Regale anderswo bereits leer sind. Durch
       Zusammenarbeit bei Filmen kennen sie Kolleg:innen im Ausland. Nun setzen
       sie ihr Wissen und ihre Verbindungen im Krieg ein.
       
       Wie viele gibt es von ihnen, wie viele Küchentische? Lizza und Sasha zählen
       21 Kontakte in ihrem Telegram-Chat, der „Größerer Stab“ heißt, dort wollen
       sich verschiedene Gruppen aus der ganzen Ukraine koordinieren, die Gruppe
       „Kleinerer Stab“, die sich vor allem um Tscherniwzi kümmert, umfasst zehn
       Leute, in „Kaufen im Ausland“ machen wiederum 14 Menschen mit.
       
       Wie viele solcher Küchentisch-Gruppen es insgesamt im Land gibt, weiß
       niemand, wer sollte sie auch zählen? Es gibt keine landesweite
       Koordination, keine Dachorganisation, die meisten Gruppen wissen gar nichts
       voneinander. Manchmal versuchen sie tagelang dasselbe zu besorgen oder
       schicken Fahrer an die gleichen Orte. Ukrainische Anarchie. Lizza sagt
       hinter ihrem Laptop: „Russland wird uns niemals besiegen, wenn eine Gruppe
       ausfällt, machen die anderen einfach weiter.“
       
       Die ukrainische Anarchie, das ist eine Geschichte, die Ukrainer:innen
       gern über sich selbst erzählen, es gibt sie als gesellschaftliche
       Erklärung, mit der man begründen will, warum so vieles nicht funktioniert
       im Land, es gibt sie aber auch als individuelle Ausschmückung, wenn jemand
       einfach keine Lust hat, auf die Anweisungen seines Chefs zu hören.
       
       Wie bei allen solchen Selbsterzählungen ist schwer zu sagen, was da
       wirklich dran ist, aber die von der ukrainischen Anarchie hat gerade jetzt
       im Krieg ihre Wirkung entfaltet. Sie ist auch ein Mittel, um sich von den
       Angreifern abzugrenzen, den Russen, deren Präsident den Ukrainer:innen
       Eigenständigkeit abspricht. „Uns verbindet gar nichts“, sagt Lizza, „wenn
       ich die Russen sehe, auch wie sie diesen Krieg führen, wie ferngesteuerte
       Zombies, die ducken sich nur vor Angst, die sind gar nicht in der Lage sich
       so selbst zu organisieren wie wir.“
       
       Da ertönt von irgendwoher über der Küche ein lautes Schreien und Weinen.
       Lizza springt so schnell vom Tisch auf, dass sie sich stößt, sie sagt zu
       Sasha: „Wir brauchen die Geheimwaffe, die Überraschungseier, dann weint er
       nicht mehr.“ Mit den Süßigkeiten in der Hand hören wir sie die Treppe nach
       oben poltern.
       
       Um sechs Uhr abends fahren Sasha und Lizza dann mit dem Auto ins
       Hilfszentrum in der Sporthalle, sie beide würden eigentlich lieber ins Bett
       gehen. „Aber so lange dieser Krieg dauert, können wir uns nicht ausruhen.“
       Das ist so ein Satz, den beide gerne sagen. Hinten im Auto haben sie
       Kartons mit Festplatten, Kabeln und Medizin für Journalist:innen und
       Filmemacher:innen in Kyjiw, die dort den Krieg dokumentieren wollen.
       
       Bei eisigem Wind und Schnee schneiden sie mit der Klinge eines
       Tapetenmessers lange Stücke Klebeband ab und befestigen selbst geschriebene
       Schilder mit Adressen auf ihren Paketen. Ein weißer Minivan hält hinter
       ihrem Auto, es fährt der Mann, der keine zwei Hunde mitnehmen wollte.
       
       Nachdem sie ihre Ladung in sein Auto gequetscht haben, überredet Lizza ihn
       doch noch, die Tochter mit ihrem Haustier aus der Kyjiwer U-Bahn-Station
       mitzunehmen, sie gibt ihm dafür etwas mehr als die üblichen 3.000 Grywna
       Spritgeld. Dann kommt wieder der Luftalarm, den niemand ernst nimmt.
       
       Fast niemand. Da ist der noch der Mann, der alle Lieferungen, die aus dem
       Hilfezentrum rausgehen, am Ende noch einmal absegnen muss. Er ist der
       Abgesandte des Staates in diesem Chaos aus Freiwilligen und ohne ihn
       passiert hier gar nichts, ukrainische Anarchie hin oder her. Sasha und
       Lizza wollten eigentlich unbedingt noch ein Medizinpaket an eine Einheit
       der Armee verschicken, die sie dringend darum gebeten hat, aber der Mann,
       der ihr Paket absegnen muss, hat auf den Luftalarm hin seinen Posten
       verlassen. Also fahren Sasha und Lizza nach Hause.
       
       Natürlich nicht um zu schlafen. Sondern um zu arbeiten. Bis drei Uhr
       nachts. Am Küchentisch.
       
       12 Mar 2022
       
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       sich einer Strategie bedient, die schon Nixon und Trump genutzt haben.
       
 (DIR) Autofahren in Kriegszeiten: Kein Öl für Blut
       
       AutofahrerInnen spülen viel Geld in Putins Kriegskasse. Es ist höchste
       Zeit, dass Autofahren endlich unattraktiv gemacht wird.
       
 (DIR) Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine: 15.000 Geflüchtete pro Tag
       
       Die meisten Menschen aus der Ukraine kommen erst mal nach Berlin. Die Stadt
       sei an der Belastungsgrenze, sagt Regierungschefin Giffey.