# taz.de -- Fotoausstellung „Female View“ in Lübeck: Blicken und Starren
       
       > Die Ausstellung „Female View“ in der Lübecker Kunsthalle St. Annen
       > versammelt Modefotografinnen. Sie möchte eine Lücke schließen.
       
 (IMG) Bild: Als die Mode sich von steif zu locker wandelte: Regina Relang, „Der neue Look“, 1970er​
       
       Den „male gaze“ beschrieb der [1][Schriftsteller und Kunstkritiker John
       Berger] 1972 in seiner BBC-Fernsehserie (und dem darauf basierenden Buch)
       „Ways of Seeing“ so: Männer gucken Frauen an. Frauen schauen sich dabei zu,
       angeguckt zu werden („Men look at women. Women watch themselves being
       looked at.“) In sämtlicher europäischer Kunst seit der Renaissance,
       argumentierte Berger, seien weibliche Modelle sich des männlichen
       Betrachters bewusst.
       
       Ihre Selbstwahrnehmung und Wertschätzung ist von jenem Voyeur abhängig: Er
       urteilt über „Schönheit“ und damit Begehrlichkeit ihres Körpers. Vor allem
       Aktbilder, aber auch später Fotografien repräsentieren nach Berger das
       Bedürfnis, das (meist als passiv, liegend dargestellte) Motiv auf dem Bild
       zu „besitzen“. Und damit die Frau zu besitzen.
       
       Neben der britischen [2][Filmkritikerin Laura Mulvey, die den Begriff 1973
       in einem Essay aufgriff und fest in der feministischen Filmtheorie
       verankerte], konstatierte ein Vierteljahrhundert später der
       US-amerikanische Medienwissenschaftler Jib Fowles, dass sich an dieser
       Konstellation nicht viel geändert hat: „Males gaze, females are gazed at.“
       
       Der Kommunikationswissenschaftler Paul Messaris erweiterte das
       Spannungsfeld und untersuchte, ob sich diese repräsentativen Traditionen
       verschieben, wenn das Foto an Betrachterinnen (nämlich Leserinnen von
       Modemagazinen) gerichtet ist. Er kam zu dem Schluss, dass die Frauen, die
       Modefotos anschauen, sich sowohl mit der Frau auf dem Bild als auch mit dem
       implizierten männlichen Betrachter identifizieren sollen. Und ganz so
       nebulös „impliziert“ ist dieser Betrachter ohnehin nicht. Denn meist steht
       er hinter der Kamera.
       
       Ein konkretes Beispiel für dieses Verhältnis illustrierte Michelangelo
       Antonioni 1966 in seinem Film „Blow Up“: Sein sich an dem
       Swinging-Sixties-Fotografen David Bailey anlehnender Protagonist benutzt
       die Kamera in einer Szene mit dem (echten) Model Veruschka als Flirthilfe.
       Er macht der Frau Komplimente, kommt ihr fotografierend näher – bis sie auf
       dem Rücken liegt und er auf ihr sitzt. Nachdem er sein Foto bekommen hat,
       lässt er urplötzlich von ihr ab – in Anlehnung an klassisches
       postorgiastisches Desinteresse.
       
       ## Bewegliche Lebendigkeit
       
       Die Ausstellung „Female View – Modefotografinnen von der Moderne bis zum
       Digitalen Zeitalter“, die am Sonntag in der Lübecker Kunsthalle St. Annen
       eröffnet wurde, will also eine Lücke schließen und untersuchen, ob und wie
       sich von Frauen geschossene Modefotos von denen der Kollegen unterscheiden:
       Gibt es einen „female view“, einen weiblichen Blick – als Gegensatz zum
       „male gaze“, dem männlichen Starren? Und wie sieht er aus?
       
       Auf 150 Fotos von 21 Künstlerinnen schauen die fast ausschließlich
       weiblichen Models ergo in die Linse einer Frau. Zum Beispiel in die der
       Berliner Fotografin und Jüdin „Yva“ Else Ernestine Neuländer, die 1942
       deportiert und (vermutlich in Sobibor) ermordet wurde. Ihre Bilder sind die
       ältesten an den Wänden der Kunsthalle – und ihre Models unterscheiden sich
       zuweilen in ihrer beweglichen Lebendigkeit von der „passiven“
       Objektifizierung der erwähnten Akte.
       
       Auf einem Foto von 1930 tollen zwei Frauen in Badeanzügen am Strand umher,
       die eine schaut in die Kamera, die andere sitzt auf ihrem Rücken und reißt
       triumphierend die Arme hoch. Sie wirken lebensfroh, vor allem aber wie
       Freundinnen: Hier hat man Spaß ohne (betrachtenden) Mann. Die Hutmode
       dieser Zeit, etwa ein tellergroßer schwarzer Samthut mit einem applizierten
       weißen Vogel, erfordert dagegen das abweisende Senken des Gesichts, sodass
       nur die fein geschminkten Lippen des Models zu sehen sind.
       
       Die [3][US-Fotografin (und ehemalige Man-Ray-Assistentin) Lee Miller] fängt
       auf ihren in den 40ern entstandenen Bildern Kriegsrealitäten ein: Am Himmel
       über dem Model, das auf einem Vogue-Schwarz-Weiß-Foto von 1941 in einem
       kastig geschnittenen Glencheck-Mantel lächelnd auf einer Wiese posiert, ist
       ein fliegendes Etwas zu sehen, bei dem es sich bei genauem Betrachten eher
       nicht um einen Vogel handelt – ein (Kriegs-)Flugzeug ist wahrscheinlicher.
       
       ## Experimente mit Schatten und Schärfe
       
       Fotos von Regina Relang und Charlotte Rohrbach bilden die sich von steif zu
       locker, vom Lächeln zu Cool wandelnden Atmosphären der 50er und 60er Jahre
       ab, Lillian Bassman experimentiert auf ihren kontrastreichen Werken mit
       Schatten und Schärfe. In den 80ern fotografiert Ute Mahler ein Model, das
       wie eine Kugelstoßerin einen Felsbrocken hebt, im Hintergrund ist die
       trostlose Marzahner Hochhauskulisse zu sehen.
       
       Sibylle Bergemanns Motive scheinen aus Theaterstücken zu stammen, die 90er
       und 2000er mit ihrer poppigen, unwirklichen Farbwelt sind durch
       Künstlerinnen wie Ellen von Unwerth (und der grell-puppenhaften Claudia
       Schiffer als Model) oder Sarah Moon vertreten.
       
       Daneben gibt es Bilder von June Newton, die mit dem Künstlernamen Alice
       Springs die Unabhängigkeit von ihrem weltberühmten Ehemann unterstreicht,
       von Gabo, Bettina Rheims, der britisch-nigerianischen Fotografin Nadine
       Ijewere und „digital natives“ wie Liv Liberg und Amber Pinkerton, deren
       Körperästhetik von den Motiven der Kolleginnen abweicht: Die Niederländerin
       Liberg fotografiert fast immer ihre Schwester Britt – das Verhältnis
       zwischen Fotografin und Model lässt sich also nicht mit den erwähnten
       Subjekt-Objekt-Besitzansprüchen des „male gaze“ vergleichen.
       
       Denn hier ist die Grundlage eine rein weibliche, schwesterlich-intime
       Verbindung – selbst die Bilder, auf denen Britt oben ohne zu sehen ist,
       wirken nicht wie eine Pose, sondern wie zufälliges Agieren. Das Model
       scheint selbst zu bestimmen, wie es steht, wohin und wie es schaut. Sie
       wolle sich eh nicht von anderen, fremden Fotografen abbilden lassen,
       erzählt Britt auf der Vernissage.
       
       ## Keine Gegenüberstellung von weiblich und männlich
       
       Die Kontextualisierung des „female view“ bleibt, trotz der faszinierenden
       Bilder, dennoch vage. Denn relevante Ebenen kommen zu kurz. Eine davon
       deutet die Kuratorin und Leiterin der Kunsthalle, Antje-Britt Mählmann, in
       ihrem Vorwort zum Katalog an: „Diese Problematik verknüpft sich mit dem
       weiter gefassten Bereich der Modeindustrie, die zwar zu großen Teilen auf
       weibliche Zielgruppen ausgerichtet ist, deren Vorstandsgremien jedoch
       vielfach von männlichen Führungspersönlichkeiten besetzt sind.“
       
       Nicht nur die Gremien: Inwiefern die veröffentlichten Motive von der
       jeweiligen Zeitschriftenredaktion ausgesucht wurden, denn die Auswahl wird
       in der Modefotografie nicht von den Künstler:innen getroffen – das
       darzulegen und etwa auch die nicht erwählten Bilder einer Strecke zu
       zeigen, versäumt die Show ebenso wie die Definition von „Werbefoto“ im
       Vergleich zu Modestrecke oder von Einfluss und Funktion der Stylist:innen.
       Vielleicht hätte auch eine (angedeutete) Gegenüberstellung weiblicher und
       männlicher Fotograf:innen mit ähnlichen Sujets geholfen, um
       herauszuarbeiten, ob und wie sich „Blick“ und „Starren“ unterscheiden.
       
       Die Tatsache, dass sich die mehr als 150 abgebildeten Frauen bis auf wenige
       Ausnahmen (eine davon ist Alice Springs’ Bild der legendären
       Moderedakteurin Diana Vreeland) erstaunlich ähneln, nämlich fast allesamt
       jung und normativ-wohlproportioniert sind, unter 50 Kilo wiegen und
       (größtenteils) weiße Haut haben, wäre ebenfalls unter dem Aspekt des
       „female view“ zu analysieren gewesen: Ist Liv Liberg die einzige, die ihre
       Models selbst wählt, und kann man seine Zukunft in der Branche vergessen,
       wenn man eine Post-Wechseljahr-Frau mit fisseligen Haaren in ein
       Yamamoto-Kostüm stecken möchte?
       
       Der gescheiterte Versuch der Brigitte von 2010, „echte“ Models abzulichten,
       und eine ähnliche Initiative der britischen Vogue 2016 hätten eine
       Erwähnung verdient. Schade zudem, dass die zweite künstlerische Ebene,
       nämlich die rein vestimentäre Aussage in den Fotos, kaum Beachtung findet:
       Die Information, von welchen Designkünstler:innen die großartige
       Kleidung stammt, fällt zumeist unter den Tisch.
       
       So entsteht in der Lübecker Ausstellung, die danach mit ihrer Kuratorin
       weiter ins Museum Schloss Moyland reisen wird, eher nur eine Ahnung der
       Vielfalt, die ein weiblicher Blick beinhalten könnte, eher nur ein Eindruck
       vom „female view“. Immerhin: Dank der fantastischen Bilder ist er bleibend.
       
       22 Mar 2022
       
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