# taz.de -- Werkschau der britischen Band Broadcast: Senden aus dem Unterbewusstsein
       
       > Das Schaffen der Psychedelicpopband Broadcast und ihrer frühverstorbenen
       > Sängerin Trish Keenan wird mit gleich drei tollen Alben gewürdigt.
       
 (IMG) Bild: Charismatische, viel zu früh verstorbene Sängerin: Trish Keenan (1968-2011)
       
       Das Jahr, in dem Psychedelia den Durchbruch schafft, muss 1996 gewesen
       sein. So ungefähr. Hipster wussten natürlich längst bescheid, das ist
       schließlich ihr Job. Aber seinerzeit zog die Sache weite Kreise. Bis zu
       diesem Punkt war das Tonkrug-Blubbern in den Songs der texanischen
       Acid-Evangelisten [1][13th Floor Elevators] die beste Antwort auf die
       Frage, was genau Psychedelia eigentlich sein soll. Jetzt aber tauchten neue
       Namen auf – und damit neue Sounds.
       
       Der technologische Ansatz anno 1968, um die zuvor nur von Halluzinogenen
       aufgeschlossenen Pforten der Wahrnehmung zu öffnen, findet knapp 30 Jahre
       später breiter Gehör. Kaum eine Band wirkt erfolgreicher bei dieser
       verspäteten Wertschätzung und künstlerischen Weiterentwicklung einer kurzen
       Phase der Sixties als [2][Broadcast] aus Birmingham.
       
       Deren künftige Sängerin Trish Keenan tanzte Anfang der neunziger Jahre in
       einem Birminghamer Psychedelic-Club namens Sensateria zu „Hard Coming Love“
       von der Band United States of America. Deren Mischung aus
       Proto-Synthesizer-Blubbern und Jefferson-Airplane-artigem Acidrock
       faszinierte Keenan. Die Musik war ein perfektes Beispiel für jenen kurzen
       Zeitraum, wenn ein neues Instrument auftaucht, für das es noch keine Regeln
       gibt.
       
       ## Oszillatoren und Ringmodulator
       
       Bands wie United States of America, Silver Apples und White Noise nutzen
       das mittels Ringmodulatoren und Oszillatoren erweiterte Spielfeld, die
       verschobenen Grenzen für im Wortsinn bewusstseinserweiternde Musik. 2009,
       da gehört Keenan mit Broadcast längst zur Riege stilprägender britischer
       Bands wie Stereolab und Pram, führt sie ihr eigenes Verständnis von
       Psychedelia für das Londoner Musik-Magazin The Wire aus:
       
       „Dieses Bubble-Poster-Zeug interessiert mich so wenig wie
       Woodstock-Nostalgie. Mich fasziniert die Idee von Psychedelia als Tür zu
       einer anderen Art, über Sound- und Songformen nachzudenken. Es geht dabei
       nicht um eine Welt, die nur über Halluzinogene zu erreichen ist, sondern
       die man betritt, indem man hinterfragt, was wir für real und richtig
       halten, in dem man die Konventionen von Gestalt und Stimmungen
       herausfordert.“
       
       ## Unabgeschlossene Geschichte
       
       Gerade erschienen posthum drei Alben der Band, die unterstreichen, wie
       konsequent [3][Broadcas]t die Möglichkeiten von Keenans Anspruch ausgelotet
       haben. Dass drei Veröffentlichungen gleichzeitig erscheinen, war nicht zu
       erwarten gewesen. Trish Keenan stirbt 2011 an den Folgen einer
       Lungenentzündung. Da war sie gerade Anfang 40. Seit damals sind lediglich
       einige unveröffentlichte Aufnahmen herausgekommen, im Grunde aber ist
       Broadcast seither Geschichte.
       
       Eine noch nicht abschließend dokumentierte, wie sich nun aber zeigt.
       „Microtronics 1 & 2“, zuvor lediglich als limitierte Merch-Alben erhältlich
       und auf keiner offiziellen Streaming-Plattform verfügbar, ist ein
       musikalisches Skizzenheft. In 21 durchnummerierten Instrumentalstücken, die
       kaum je die Grenze von zwei Minuten überschreiten, demonstrieren Broadcast,
       was sie zu einem Aushängeschild des britischen Elektroniklabels Warp
       gemacht hat. Und wie sie die Stimmung alter Soundtracks und Library Music
       mit raumgreifenden Jazzarrangements kombinieren. Die Miniaturen
       gehören zu den abstraktesten Broadcast-Aufnahmen, gleichzeitig aber auch zu
       den atmosphärischsten.
       
       Sie zeigen, weshalb die Band aus den Midlands sich in der Tradition des
       Radiophonic Workshop sieht. In dieser Soundeffekte-Abteilung von Radio BBC
       haben Komponistinnen wie Delia Derbyshire und Daphne Oram seit den späten
       1950er Jahren teils avantgardistische Geräuschkulissen zunächst für
       Hörspiele und TV-Dokumentationen komponiert und so eine unhörbare Welt zum
       Leben erweckt. Vielleicht steckt hier die eigentliche Bedeutung der
       „Microtronics“: Mit elektronischen Mitteln entwerfen sie ein eigenes
       Klanguniversum, eine neue Welt im Kleinen.
       
       ## Türschild abschrauben
       
       Kein Wunder also, dass Trish Keenan und ihr Mitstreiter James Cargill auf
       dem Weg zur BBC-Session am Eingang der Maida Vale Studios versucht waren,
       das historische Türschild „Radiophonic Workshop“ abzuschrauben. Haben sie
       dann doch nicht gemacht, wohl aber eine Reihe ihrer Klassiker in bestem
       Sound eingespielt. Etwa eine Version von „City in Progress“, das erst vier
       Jahre später offiziell erscheint.
       
       1996 hat es noch keinen Titel und eine Orgel, die dem retrofuturistischen
       Sound des Moog-Synthesizers verwandt ist und den Song zum Space-Walzer
       macht, bei dem Doctor Who mit einem Dalek seine kosmischen Kreise dreht.
       Die „Maida Vale Sessions“ zeigen Broadcast als songorientierte Band. Drei
       der vier hier zusammengefassten Sessions werden eingespielt, bevor ihr
       Debütalbum „Noise Made by People“ (2000) erscheint. Wenn Broadcasts
       künstlerische Vision laut Keenan „das Aufeinandertreffen menschlicher
       Emotionen in einer elektronischen Welt“ war, nimmt sie in diesen Songs die
       greifbarste Gestalt an.
       
       Von SciFi-Versionen früher Klassiker wie „Come on Let’s Go“ über eine
       fantastische Version des Silver-Apples-trifft-Lewis-Carroll-Psych-Hits
       „Pendulum“ bis zur endzeitlich-melancholischen Interpretation von Nicos
       „Sixty Forty“: Die BBC-Aufnahmen zeigen Broadcast als Speerspitze eines in
       Spektralfarben leuchtenden Hauntology-Pop, der vergessene Ideen einer
       verlorenen Sixties-Zukunft in die Gegenwart channelt. Ein Konzept von
       Psychedelia, frei von Nostalgie-Mief, swingend in Hard-Bop-Moves und
       sirrenden Synthesizer-Linien. Die beste Eintrittskarte in die Welt von
       Broadcast.
       
       Die dritte Veröffentlichung verortet sich musikalisch wiederum zwischen den
       überirdischen Space-Age-Songs der „Maida Vale Sessions“ und den abstrakten
       Soundcollagen auf „Microtronics“. Ursprünglich als limitierte EP auf
       Broadcasts letzter Tour 2009 verkauft, wird „Mother Is the Milky Way“ hier
       erstmals einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Die Band präsentierte
       damals das zusammen mit ihrem Freund und Coverdesigner Julian House als
       Focus Group aufgenommene Album „Witch Cults of the Radio Age“ und diese EP
       klingt wie eine 20-minütige Verlängerung jenes Albums.
       
       Keenan beschrieb die EP als „Science-Fiction-Geschichte eines Kinds,
       collagiert aus Demos, die es nie auf andere Broadcast-Alben geschafft
       haben“. Tatsächlich lösen die elf Stücke konventionelle Songstrukturen auf
       zugunsten eines traumgleichen Nebeneinanders aus Musik, Sprachfetzen und
       Alltagsgeräuschen von Vogelstimmen bis Kinderlachen. Vielleicht zeigt sich
       erst hier, in dieser Live-Übertragung aus dem Unterbewusstsein eines
       rasenden Geists, wie passend Broadcast ihren Namen gewählt haben.
       
       In ihrem halluzinogenen Sog ist diese raue und zugleich feingliedrige Musik
       eine Kampfansage an die schlichte Idee chemisch stimulierter
       Bewusstseinserweiterung. Sie trägt surreale Züge, transzendentale
       Qualitäten und zugleich die avantgardistische Idee. Und sie lässt uns mit
       der Frage zurück, welche großartige Musik Trish Keenans und James Cargill
       wohl heute zusammen aufnehmen würden.
       
       25 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=YIVpHNEPzDM
 (DIR) [2] /Neues-Album-von-Broadcast/!5153872
 (DIR) [3] /Neues-Album-von-Broadcast/!5075398
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gregor Kessler
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Psychedelic-Rock
 (DIR) Birmingham
 (DIR) Neues Album
 (DIR) Werkschau
 (DIR) Folk Music
 (DIR) Krautrock
 (DIR) Neues Album
 (DIR) Pop
 (DIR) Pop
 (DIR) Musik
 (DIR) Golden Pudel Club
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Neues Album des Folkduos Unthanks: Behutsame Kosmetik am Kanon
       
       „Sorrows Away“ heißt das neue Album von Rachel und Becky Unthank. Ihr
       Folksound spiegelt die britische Gesellschaft zwischen Covid und Brexit.
       
 (DIR) Abschiedstour von Londoner Stereolab: Gut gealterte Kopfhörersuperhirne
       
       Stereolab kommen auf finale Tour. Ihr stilvoller Pop zitiert auch das
       Debütalbum des Krautrockduos Neu!, das nun erneut veröffentlicht wird.
       
 (DIR) Australische Musikerin Carla Dal Forno: Poesie, die Pflanzen bewässert
       
       Das neue Album der australischen Künstlerin Carla Dal Forno besticht durch
       eigenwillige Textpoesie. Und sparsame Instrumentierung.
       
 (DIR) Wiederentdeckung von „The Associates“: Hingabe ist den Dandys fremd
       
       „Sulk“, ein Album des flamboyanten schottischen Popduos The Associates, war
       eines der Werke des Jahres 1982. Was sagt uns diese Musik heute?
       
 (DIR) Biografie über Britband TV Personalities: Der Wäschebote mit heimlichen Hits
       
       „Dreamworld“ von Benjamin Berton ist eine ergreifende Biografie der
       britischen Band Television Personalities und ihres tragischen Helden Dan
       Treacy.
       
 (DIR) Japanische Musikerin Phew: Aunt Sally randalierte
       
       Punk, Krautrock, New-Wave: Die japanische Musikerin Phew rührt in vielen
       Töpfen. Zwei Alben dokumentieren ihre schon 40-jährige Lust am Experiment.
       
 (DIR) Konzert von Jimi Tenor in Hamburg: Erleuchtung hinterm Bauzaun
       
       Der finnische Multiinstrumentalist Jimi Tenor spielte am Freitag live vor
       dem Hamburger Pudelclub. Dessen erste Veranstaltung seit Pandemiebeginn.