# taz.de -- Neues Album des Folkduos Unthanks: Behutsame Kosmetik am Kanon
       
       > „Sorrows Away“ heißt das neue Album von Rachel und Becky Unthank. Ihr
       > Folksound spiegelt die britische Gesellschaft zwischen Covid und Brexit.
       
 (IMG) Bild: Postkartenidylle in einer Fußgängerzone: Rachel und Becky Unthank
       
       Es sollte ein Licht am Ende des Tunnels sein. [1][Lockdowns waren vorbei] –
       Sorgen verflogen – „Sorrows Away“. So hatten sich die Unthanks das wohl
       gedacht, als sie die Musik für dieses Album, noch getrennt voneinander,
       jeweils allein zu Hause ausarbeiteten. Was gibt es auch Schlimmeres, als
       plötzlich solo zu singen, nachdem man über Jahre an sogenannten „Singing
       Weekends“ gemeinsam mit Dutzenden Anderen Folksongs in den schiefergrauen
       nordenglischen Himmel geschmettert hat? Mit anderen singen geht nun wieder,
       aber die Sorgen wurden eher mehr, wie wir inzwischen wissen.
       
       Vielleicht ist „Sorrows Away“, das erste neue Unthanks-Album seit sieben
       Jahren, gerade [2][deshalb das Werk zur krisenhaften Zeit, in der
       Großbritannien von Premierministerrücktritten, steigenden
       Lebenshaltungskosten und Streiks gebeutelt ist]. Die singenden britischen
       Schwestern Rachel und Becky Unthank und ihre Band kennen sich jedenfalls
       aus mit Liedern über schwere Zeiten.
       
       Ihre Folksongs sprechen mindestens von harter Arbeit, oft von roher Gewalt,
       nicht selten stirbt wer. Manche dieser Songs sind Hunderte Jahre alt. „The
       Royal Blackbird“ auf dem jüngsten Album ist etwa ein schottisches
       Traditional über Charles Edward Stuart, besser bekannt als Bonny Prince
       Charlie.
       
       ## Flucht in Frauenkleidern
       
       Der plante Mitte des 18. Jahrhunderts aus dem französischen Exil eine
       Invasion mit dem Ziel, den Stuarts wieder auf den britischen Thron zu
       verhelfen, und führte die schottischen Jakobiter in die Schlacht von
       Culloden. Der Aufstand scheiterte blutig und Charles floh in Frauenkleidern
       zurück nach Frankreich, was seine Heldenstatur im Norden Großbritanniens
       noch bekräftigt.
       
       Becky Unthank besingt Bonny ausladend über flirrenden Streichern und einem
       schnellen, fast funkigen Beat. In dieser Mischung steckt die Erklärung, wie
       eine Band, die sich ganz und gar Musik der schottischen und nordenglischen
       Vergangenheit verschrieben hat, weit mehr Menschen erreicht als nur einige
       kauzige Folkfreaks. Adrian McNally arrangiert die meist nur als Text und
       Melodie überlieferten Songs oft weich und üppig. In ihrer vollen Pracht
       umfassen die Unthanks ein halbes Orchester.
       
       Mit einem Pub-Abend in Northumberland, der nordostenglischen Heimat der
       Künstler:Innen, haben diese Versionen oft kaum mehr etwas zu tun. Der
       Süßstoff aus Klavier und Geigen überdeckt manch bitteren Unterton. Die
       Kombination ergibt eine elegante, moderne Form der Melancholie, die eine
       breite Hörerschaft anspricht.
       
       ## Fingerabdrücke auf Traditionals
       
       Genre-Dogmatiker:innen werden sich darunter kaum finden. Gar nicht mal,
       weil die Schwestern Unthank einen alten Song with „Month of January“, der
       nun gerade passt, mit einem anderen („Uncle Rat“) verschneiden. Das
       passierte immer mal wieder und ist Teil der Idee eines organischen
       Folk-Kanons. Viele der Interpret:innen alter Lieder hinterlassen
       Fingerabdrücke, ihre eigene Intonation und Instrumentierung.
       
       Das hält die Musik und ihre Botschaft frisch und Rachel und Becky Unthanks
       werden nicht müde, das zu betonen. Aber einer uralten Weise wie „The
       Sandgate Dandling Song“ einfach eine neue Strophe hinzufügen? Den
       gewalttätigen Bootsmann verständlicher machen als Opfer seines Vaters? Es
       sind schon Folksänger für weniger Kosmetik „Judas“ gerufen worden.
       
       Den Unthanks würde der Vorwurf nicht nahegehen, sie sind Meister:innen
       des Folk-Cuvées. Sie wollten diese alten Lieder von Anfang an mehr Menschen
       zugänglich machen als nur der Chorgemeinschaft. Neue Formate wie die
       „Singing Weekends“, quasi [3][eine rustikale Pauschalreise in nordenglische
       Lebensart, inklusive gemeinschaftlichen Spaziergängen, Pub-Visiten und
       natürlich Gesangseinlagen], gehören dabei dazu.
       
       Während der Pandemie streamten sie Auftritte gegen Bezahlung im Netz. So
       was mag manchen nicht ganz geheuer sein, aber es hat dafür gesorgt, dass
       die Unthanks durch diese Zeit gekommen sind. Nun sind die Zeiten andere und
       auch die Sorgen. Die Therapie – nach Rachel und Becky – bleibt die gleiche:
       „Since we’ve learnt a new song to drive sorrows away“, singen sie im
       finalen Titelsong.
       
       Auf der vierten Seite des mit japanischen Feuerwerks-Illustrationen
       gestalteten Doppelalbums findet sich keine Musik. Eingeritzt ins Vinyl
       hängen dort kleine Fallschirme, die Lichter tragen und das Dunkel länger
       als ein Feuerwerk vertreiben. Einige der zehn Unthanks-Lieder haben auch
       einen Fallschirm.
       
       6 Jan 2023
       
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