# taz.de -- Die Mitropa-Gaststätte in Leipzig: Ein Palast der Republik
       
       > Unsere Autorin erinnert sich an die Mitropa in Leipzig. Die opulente
       > Halle stand für Weltläufigkeit und doch auch fürs Ankommen.
       
 (IMG) Bild: Lokal für Reisende, Asyl für Trinker und einsame Herzen: Das Mitropa im Hauptbahnhof Leipzig
       
       Spätestens in Lutherstadt Wittenberg ist die Sache klar: Das wird nix mehr.
       Die „Studentenschleuder“ von Berlin nach Leipzig, jeden Sonntagabend
       gerammelt voll, hat Verspätung. Der Zug am Ende der Woche hat fast immer
       Verspätung. Und dann ist am Hauptbahnhof in Leipzig die letzte Straßenbahn
       weg.
       
       Und nun?
       
       Erst mal rein in die Mitropa. Ein Bier, ein Korn, eine Soljanka. Die
       Kellnerinnen kennen das – und wuchten das Zeug – zack, zack – an den Tisch.
       Ohne Bestellung. Sonntagnacht gibt es studentische Stammgäste, vor allem
       bei Schnee und Eis. Manche warten auf die erste Straßenbahn in der Früh,
       andere auf ein Taxi.
       
       Ich habe so manche Nacht in der Mitropa im Leipziger Hauptbahnhof
       durchgemacht – in den 1980ern als Studentin in Leipzig. Die Mitropa, eine
       Halle so großzügig, offen und hoch wie der Petersdom in Rom, nur ohne
       Goldschnickschnack. Dafür Holztische, harte Stühle, eine breite Holztreppe
       auf eine Empore. Die Luft eine Smogmischung aus Zigarettenqualm und öligem
       Bockwurstdunst. Durchgehend geöffnet, sogar zu Weihnachten. Tagsüber Lokal
       für Reisende und Geschäftsleute, nach Dunkelwerden Asyl für
       Schichtarbeiter, Trinker, Stasispitzel, Prostituierte, einsame Herzen. Ein
       Palast der Republik.
       
       ## Zur Gründungszeit eine begehrtes Angebot
       
       Im Jahr 1916 gründeten die Eisenbahnverwaltungen von Deutschland,
       Österreich und Ungarn die Mitteleuropäische Schlaf- und
       Speisewagen-Aktiengesellschaft: Schlafangebote in den Zügen, Imbisslokale
       in den Bahnhöfen. Auch in Leipzig. Damals das größte und begehrteste
       gastronomische Angebot in der Stadt. Zwei riesige Säle, der Preußensaal in
       der Westhalle für die 3. und 4. Klasse, im Ostzugang der Sachsensaal für
       die 1. und 2. Klasse. Beide Säle in edlem Holz mit sorgfältig kolorierten
       Decken und reduziert geschwungenen Kronleuchtern. Auf den Tischen im
       Sachsensaal weiße Tischdecken, im Preußensaal blankes Holz, aber nicht
       weniger gastlich. Die stilsicherste Architektur, seit es
       Bahnhofsgastronomie gibt.
       
       Die Mitropa überlebte beide Weltkriege, starb kurz darauf im Westen und
       rettete sich in die DDR – mit einem fortan schlechten Ruf. Bitter-saurer
       Kaffee, schales Bier, verkochte Nudeln. Dreckige Speisewagen in den Zügen,
       schlampige Bistrobuden in den Bahnhöfen, in Berlin, Dresden, Halle,
       Karl-Marx-Stadt. Ab 1961 kamen Autobahnraststätten dazu. In rund einhundert
       Gaststätten und Kiosken, in sechs Hotels, zehn Flughafenrestaurants und in
       den Zügen der Reichsbahn machten 15.000 Mitarbeiter:innen am Ende der
       DDR-Zeit einen jährlichen Umsatz von 1,5 Milliarden DDR-Mark. Inoffiziell
       war der Betrag noch höher, es wurde viel unter der Hand gehandelt,
       Trinkgeld kam noch drauf.
       
       In Pasewalk, einer seinerzeit apathischen Kleinstadt im DDR-Bezirk
       Neubrandenburg, war die Mitropa-Gaststätte für NVA-Soldaten eine Art
       Rettungsanker. Die jungen Männer, die zur „Fahne“ in den Norden
       abkommandiert waren, nahmen nach einem freien Wochenende oder nach dem
       Urlaub an ihren Heimatbahnhöfen den letztmöglichen Zug in Richtung
       NVA-Standort. Die meisten Züge erreichten Pasewalk gegen 2 Uhr nachts. Die
       nächste Regionalbahn nach Eggesin und Torgelow, wo die Kasernen standen,
       fuhr etwa gegen 4 Uhr morgens. „In der Mitropa war es immer warm und es gab
       Kaffee“, erzählt ein Mann, der regelmäßig dort saß: „Das machte den Vorort
       zur Hölle ein wenig erträglicher.“
       
       ## Umbau in der DDR
       
       Die Mitropa in Leipzig war schon immer mehr. In den frühen Jahren der DDR
       erlebte sie zwar eine räumliche Umrüstung, aus den beiden Speisesälen
       wurden reine Wartesäle, die Mitropa-Gaststätte, in der ich so manche
       Sonntagnacht verbrachte, befand sich genau dazwischen und war fortan der
       einzige Gastroraum. Doch selbst derart geschrumpft war sie das größte
       Restaurant der Stadt – und eines der beliebtesten. 1957 servierten die
       Kellner:innen allein etwa 28.000 Bockwürste. Damals sollen an den
       Schürzen der Keller:innen Scheren gebaumelt haben – zum Abschneiden der
       Lebensmittelmarken, die es für Kartoffeln, Fleisch und Zucker bis 1958 noch
       gab.
       
       Während der Leipziger Messe im Frühjahr und im Herbst erlebte die Mitropa
       regelmäßig eine Hochzeit. Die Kellner:innen trugen „mehr als 10.000
       preiswerte Vollgerichte“ an die Tische. „In diesen Tagen wurden verzehrt
       110.000 kalte und warme Speisen, 132.000 Prager Schinken, belegte Brötchen
       und Imbissbeutel“, wird der damalige Gaststättenleiter Gerhard Legscheidt
       in einem Buch über den Leipziger Hauptbahnhof von 1965 zitiert. Getrunken
       wurden danach 50.000 Flaschen Mineralwasser und andere alkoholfreie
       Getränke, 9.200 Flaschen Weißwein und Sekt, 135.000 Glas Bier, 177.000
       Tassen Kaffee. Dafür gab es neben der eigenen Küche auch eine Molkerei,
       eine Bäckerei, eine Fleischerei und mehrere Kühlräume.
       
       ## Schleichender Verfall und Mangelwirtschaft
       
       Doch der Verfall der DDR machte auch vor der Mitropa nicht halt. Nahezu
       jede Tasse, die ich zu meiner Leipziger Zeit Mitte und Ende der
       Achtzigerjahre in den Händen hielt, hatte eine abgeplatzte Stelle, einen
       Sprung, Verfärbungen. Das schnörkellose weiße Geschirr mit dem grünen oder
       blauen Rand ließ sich mühelos übereinanderstapeln. 20 Tassen auf einem
       Tablett – kein Problem. Aber manchmal rutschte den Servierer:innen doch
       eins aus der Hand. Der Saal zuckte kurz, dann lallte jemand: „Is wieder
       Polterabend?“
       
       Mit der Wende war auch das Ende der Mitropa besiegelt. „Die Küche war
       runtergewirtschaftet, die Mangelwirtschaft ließ kaum mehr einfallsreiche
       Gerichte zu“, sagt Thomas Oehme, Centermanager der Promenaden Hauptbahnhof
       Leipzig, des heutigen Bahnhofsbetreibers. Wiener Würstchen, dunkler Kaffee,
       Toast – so sah das Speisenangebot in der Regel aus.
       
       ## Imbissbude statt Mitropa-Saal
       
       Nach 1990 baute die ECE-Immobiliengruppe das Bahnhofsgelände zu einem
       Einkaufszentrum mit mehreren Etagen um. Der legendäre Mitropa-Saal wurde
       dichtgemacht, heute wird dort Pizza verkauft. Der einstige Glanz – dahin.
       Nur die beiden früheren Wartesäle lassen zumindest etwas von der huldvollen
       Geschichte und der einzigartigen Innenarchitektur erahnen. Decken und Wände
       wurden saniert, die Kronleuchter aufgehübscht. Im Preußensaal in der
       Westhalle verkauft heute der Buchladen Ludwig Zeitschriften, Rätselhefte
       und Leipzig-Souvenirs. Auf der Empore betreibt Ludwig ein Café. In der
       Osthalle, im Sachsensaal, hat Starbuck’s eine Filiale eingerichtet.
       
       Wer heute im Bahnhof essen will, nimmt die Rolltreppe runter ins
       Untergeschoss und steuert eine der zahllosen Imbissbuden an: asiatisch,
       frittiert, Kartoffelgerichte, Käse, Fisch, Kuchen, alles da. Aber dann:
       Pommes in der Styroporbox und Kaffee im Pappbecher. Wenigstens fahren die
       Straßenbahnen heute öfter und bis in die Nacht.
       
       3 Apr 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Simone Schmollack
       
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