# taz.de -- Osten der Ukraine rüstet sich: Der Widerstand von Charkiw
       
       > Die Stadt in der Ostukraine könnte neues Ziel eines russischen
       > Großangriffs werden. Und die Menschen? Eindrücke aus einer Frontstadt.
       
 (IMG) Bild: Nach russischem Raketenbeschuss am Montag: eine Charkiwerin im Keller eines Hauses
       
       CHARKIW taz | Der blanke Horror: Die Truppen der russischen Armee, [1][die
       in dem Kiewer Vorort Butscha mutmaßlich Kriegsverbrechen begangen haben],
       sollen jetzt in Richtung Charkiw unterwegs sein. Das hat der
       Nachrichtendienst des ukrainischen Verteidigungsministeriums am Dienstag
       erklärt. Der Plan der Einheiten sei, die 1,5-Millionen-Stadt Charkiw
       einzukesseln und dann unter Kontrolle zu bekommen, heißt es vom
       ukrainischen Generalstab. Die Großoffensive soll angeblich noch in dieser
       Woche beginnen.
       
       [2][Charkiw gehört bereits heute zu den Städten in der Ukraine, die am
       schlimmsten von den russischen Angriffen betroffen sind.] Offiziellen
       Angaben zufolge wurden hier seit Beginn des Krieges mehr als 300
       Zivilist*innen verletzt und Dutzende getötet. Die genaue Anzahl, auch
       derer, die spurlos verschwunden sind, ist unbekannt. Nach Angaben der
       Stadtverwaltung sind in Charkiw von 8.000 mehrstöckigen Wohnhäusern mehr
       als 1.200 teilweise oder komplett zerstört. Das Gleiche gilt für 69
       Schulen, 53 Kindergärten und 15 Krankenhäuser.
       
       Doch obwohl die Menschen die Nachrichten vom neuerlichen russischen
       Vormarsch hören, bricht keine Panik aus. In der vergangenen Woche ist sogar
       wieder Leben nach Charkiw zurückgekehrt. Die Anzahl der Autos auf den
       Straßen ist so groß, dass einige Ampeln, die im Februar abgeschaltet worden
       waren, wieder in Betrieb genommen werden müssen.
       
       Fast alle Tankstellen haben wieder geöffnet. Die Preise sind dank
       Subventionen durch den ukrainischen Regierungschef Denis Schmygal stark
       gesunken. Es gibt verschiedene Sorten Treibstoff und sogar Gas, das einen
       Monat praktisch überhaupt nirgends zu bekommen war.
       
       ## Im Norden der Stadt sieht es anders aus
       
       Auch die Versorgung mit Essen hat sich verbessert. Anfang April traf in
       Charkiw eine Hilfslieferung der polnischen Regierung ein, 600 Tonnen
       Lebensmittel. Diese Güter werden aufgeteilt und, je nach Bedarf, in
       verschiedene Bezirke von Charkiw sowie nahe gelegene Gemeinden im Charkiwer
       Gebiet geschickt. Die polnische Regierung hat angekündigt, ab jetzt
       regelmäßig Hilfslieferungen in die Region zu schicken.
       
       Supermärkte und kleine Geschäfte sind wieder geöffnet. Die Regale sind gut
       gefüllt, das Angebot ist wieder so, wie vor dem Krieg. Auch der
       Dienstleistungssektor, darunter Restaurants, Cafés und Pizzerien, erwacht
       zu neuem Leben.
       
       Zudem hat sich das Angebot an Medikamenten deutlich verbessert.
       Lieferketten, die durch die Angriffe unterbrochen waren, sind
       wiederhergestellt. War es noch vor zehn Tagen unmöglich, Arzneien gegen
       Bluthochdruck oder für Herzkranke zu finden, so ist das Angebot für diese
       Präparate wieder stabil. Dennoch sind die Schlangen vor den Apotheken lang,
       weil sich die Menschen auf Monate im voraus mit Medikamenten eindecken.
       
       Doch so sieht es nur im Zentrum und einigen westlichen und südlichen
       Stadtteilen aus. Die nördlichen Bezirke Charkiws – Severnaja Saltowka,
       Pjatichatki und teilweise das Dorf Schukowski, die massiv bombardiert
       worden waren, sind menschenleer. Hier ist die Stadt wegen fortdauernden
       Beschusses und ständiger Überfälle wie ausgestorben. Das Geschützfeuer
       verstummt nie. Es ist nicht übertrieben zu sagen: Diese Teile der Stadt
       wurden dem Erdboden gleichgemacht.
       
       Schätzungen von Freiwilligen vom Dienstag zufolge sind im Norden Charkiws
       nur 20 Prozent der Bevölkerung übrig geblieben. Sie alle sitzen in Kellern
       und Luftschutzbunkern. Auf den Straßen trifft man nur Soldaten und
       Anwohner*innen, die auf der Suche nach etwas zu essen sind.
       
       Der öffentliche Nahverkehr funktioniert immer noch nicht, genauso wenig wie
       die U-Bahn, die den Menschen als Zufluchtsstätte vor Bombenangriffen dient.
       Hier leben zehntausende Menschen, manche von ihnen haben sich schon lange
       nicht auf die Straße getraut. Sich im Zentrum zu bewegen, ist nur zu Fuß,
       mit einem Privatwagen oder Taxi möglich. Die Preise, wenn man nicht gerade
       an die „Frontlinie“ in den nördlichen Bezirken fahren will, sind
       erträglich: nur rund anderthalb mal teurer als vor dem Krieg.
       
       Nach Angaben der Stadtverwaltung von Charkiw werden in den Krankenhäusern,
       trotz Kämpfen und Dauerbeschuss, Patienten versorgt. Bombardierte
       Krankenhäuser seien geräumt worden oder in andere Gebäude verlegt – genauso
       wie die Patient*innen.
       
       In der Krankenhäusern werde normal „gearbeitet“, heißt es aus der
       Stadtverwaltung. Doch der Krieg erfordert, dass umgeplant wird. Menschen
       brauchen jetzt medizinische Hilfe, derer sie zuvor nicht bedurften. Die
       Behörden arbeiteten und versuchten alles zu tun, was die Menschen
       brauchten, erklärte Swetlana Gorbunowa-Ruban, Vize-Bürgermeisterin Charkiws
       und zuständig für Gesundheit und Soziales. So werden die Stromrechnungen
       der Einwohner*innen bis zum Ende des Krieges übernommen. Jedoch mangele
       es in der Stadt an einer Reihe medizinischer Präparate und anderen
       Gegenständen des täglichen Bedarfs.
       
       Dennoch: Die Schockstarre der ersten Tagen des Krieges hat sich in Charkiw
       gelegt. Die Menschen haben gelernt, die Geräusche von Geschossen zu
       unterscheiden, von wo sie abgefeuert werden und wo sie einschlagen. Dieses
       Wissen erleichtert es, sich in der Stadt zu bewegen. Die Mehrheit hat
       begriffen, welche Schüsse ungefährlich sind und in welcher Region man
       spazieren gehen kann.
       
       ## Niemand weiß, wie viele Menschen geflohen sind
       
       Wie sagte Charkiws Bürgermeister Igor Terechow so schön: „Charkiw am Tag
       des Kriegsbeginns und heute – das sind, was die Fähigkeit sich zu
       verteidigen angeht, zwei verschiedene Städte.“ Das Zentrum habe die
       Verteidigungslinien massiv verstärkt und sei mit Nahrungsmitteln sowie
       Waffen versorgt. Terechow sagte auch, dass die Charkiwer*innen schon
       immer für die Stärke ihres Geistes und ihre Moral bekannt gewesen seien.
       Die Besatzer würden nicht in der Lage sein, die Stadt zu erobern, daran
       würden auch zusätzliche russische Kräfte, die aus dem Großraum Kiew in die
       Region verlegt würden, nichts ändern. „Ich bitte Sie, verfallen Sie nicht
       in Panik, glauben Sie an unsere Armee. Charkiw war, ist und wird ukrainisch
       sein“, sagte er am Dienstag in einer Videobotschaft.
       
       Viele bewaffnete Männer in der Stadt, ukrainische Soldaten, strahlen für
       die Bevölkerung Stabilität und Ruhe aus. Einige Menschen kehrten gar nach
       ihrer Flucht wieder in die Stadt zurück. Viele scheinen ein ausreichendes
       Maß an Gleichgültigkeit zu besitzen, um Risiken einzugehen und etwa im
       Zentrum eine Tasse Kaffee zu trinken und so, zumindest gedanklich, zu ihrem
       Leben vor dem Krieg zurück zu kehren.
       
       Unterdessen weiß niemand, wie viele Menschen Charkiw bislang verlassen
       haben. Zahlreiche Menschen ergreifen auch nun wegen der Gefahr der
       bevorstehende Einkesselung und Besetzung Charkiws die Flucht. Davon einige
       wohl für immer.
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel 
       
       Der Autor war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
       
       6 Apr 2022
       
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