# taz.de -- Familien mit vorerkrankten Kindern: Im Schatten der Gesellschaft
       
       > Die einjährige Murielle leidet an einem Herzfehler. Wegen der Pandemie
       > lebt ihre Familie seit zwei Jahren im Hintergrund – mit jeder Lockerung
       > wird es für sie schwieriger.
       
 (IMG) Bild: Familie Mojem lebt so, wie es die meisten Familien nur aus dem ersten Lockdown kennen
       
       „Augen zu!“, ruft der 4-jährige Mortimer. Die Eltern hören nicht. „Au-gen
       zu!“ Er versteckt sich in einem Metallgerüst, sein Ruf klingt blechern. Die
       Eltern drehen sich um und gucken in die Sonne. Sie sitzen im Berliner
       Naturpark Schöneberger Südgelände, weil sich dort kaum andere Menschen
       aufhalten. Cristina und Mats Mojem, die Eltern von Mortimer, Mortimer
       selbst und seine Schwestern Madikken (5 Jahre) und Murielle (1,5 Jahre)
       sind das, was man seit der Coronapandemie eine Schattenfamilie nennt.
       
       Das bedeutet: Die Mojems ziehen sich seit etwa zwei Jahren zurück. Sie
       leben so, wie die meisten das vom ersten sogenannten Lockdown kennen: Sie
       lassen sich Lebensmittel liefern, treffen kaum Freund:innen, lassen niemand
       Fremdes in die Wohnung. Denn die Kleinste, Murielle, hat Pulmonalatresie,
       einen angeborenen Herzfehler, der dafür sorgt, dass Murielle dauerhaft
       beatmet und palliativ betreut wird.
       
       „Sie wird so oder so sterben, da wollen wir nicht noch, dass sie vorher das
       blöde Virus holt“, sagt Cristina Mojem mit zusammengekniffenen Augen gen
       Sonne. Es ist Ende März, die Lockerungen der Coronamaßnahmen machen ihr und
       ihrem Mann Angst. Sie erhöhen das Risiko einer Infektion und schränken die
       Familie noch weiter ein als ohnehin schon: Ohne Maskenpflicht traut sie
       sich in kein Geschäft. „Wenn niemand mehr Maske anhat, ist das Risiko
       einfach zu hoch“, sagt Cristina Mojem.
       
       Während die beiden erzählen und Murielle immer wieder die Hände ausstreckt,
       um von Cristina Mojem gestillt zu werden, verkriecht sich die 5-jährige
       Madikken hinter einer Bank und fängt an zu weinen. „Was ist denn,
       Madikken?“ – „Ich weiß nicht“, schluchzt sie. „Manchmal muss man einfach
       weinen“, sagt Cristina Mojem. Wie lange Murielle, genannt Murkel, leben
       wird, weiß die Familie nicht. Manche Menschen mit Pulmonalatresie können
       erwachsen werden – je nach Diagnostik und Behandlungsmöglichkeit.
       
       ## Transplantation klappt nicht
       
       Bei Murkel ist das sehr unwahrscheinlich, bis zuletzt hatte die Familie auf
       eine Transplantation gehofft: Am Tag zuvor hatte Cristina Mojem auf ihrer
       Facebook-Seite „Mit Herz und Seele – Murkel“ gepostet: „Wir warten jetzt
       also auf Rückmeldung, ob es technisch möglich wäre, sie zu transplantieren,
       und dann würden wir uns mal mit Fachpersonen zusammensetzen und schauen,
       was es eben für Auswirkungen auf unsere Kinder und eben auch uns als Paar
       haben könnte.“ Über 2.000 Menschen folgen Mojems Facebook-Seite, schreiben
       aufmunternde Kommentare, fühlen mit, manche schicken Geschenke oder Geld an
       die Familie.
       
       Und nun? Hat sich die Familie für eine Transplantation von Herz und Lunge
       entschlossen? „Das ist ein schwieriges Thema“, sagt Cristina Mojem. „Wir
       haben gestern den Anruf bekommen: Das mit der Transplantation klappt nicht.
       Das war unsere letzte Hoffnung.“ Murielle guckt während des Gesprächs
       skeptisch, sie hat eine ganze Facette von skeptischen Blicken.
       
       Cristina und Mats Mojem wissen nicht, ob sich Murielles Tod langsam
       ankündigt oder plötzlich kommt. „Es gibt einen 1,50-Meter-Radius um
       Murkel“, sagt Cristina Mojem und zeichnet mit der Hand einen halben Kreis
       in die Luft. Mojem war von ihrer Tochter seit der Geburt nicht getrennt.
       „Ich bin Bezugsperson Nummer eins“, sagt sie.
       
       Das sei auch so, weil Mats Mojem während Corona selbst auf der
       Intensivstation nicht zu ihr gelassen wurde. „Da waren die Zahlen noch
       niedriger als jetzt. Er durfte sein eigenes Kind auf der Intensivstation
       nicht besuchen. Obwohl sie palliativ ist“, sagt Cristina Mojem. „Heute darf
       man bei den Zahlen sonst was machen.“ Während Cristina Mojem spricht,
       rattert nicht nur der Kinderwagen mit Murkel und Beatmungsgeräten über das
       Gitter, über das die Familie im Park spazieren geht. Auch ein kleinerer
       Wagen mit einem Teddy wird geschoben: Murkels ältere Geschwister, Madikken
       und Mortimer, streiten sich fast vier Stunden darüber, wer den Teddywagen
       schieben darf. Wer sich kümmern darf, wird immer wieder neu ausgelotet.
       
       ## Nur auf leere Spielplätze
       
       Ausloten, damit kennen sich auch Mats und Cristina Mojem aus: „Die große
       Herausforderung ist, für uns zu entscheiden: Was machen wir, was machen wir
       nicht?“, sagt Mats Mojem. „Was ist für Murielle besser, nicht zu machen,
       und was ist für die anderen beiden Kinder besser, damit sie nicht die ganze
       Zeit in der Wohnung sind? Da einen Mittelweg zu finden, ist sehr
       schwierig“, sagt Mojem und seufzt. „Wir gehen nur auf den Spielplatz, wenn
       keine anderen Kinder da sind.“ Wenn es regnet, gehen sie raus spielen. „Uns
       macht Regen nichts, die Kinder mögen Regen auch und der Spielplatz ist
       leer“, sagt Mojem.
       
       Dass sich Schattenfamilien wie die Mojems isolieren müssen, liegt auch an
       einer Coronapolitik, die sie außer Acht lässt. „Corona ist für Kinder keine
       gefährliche Krankheit“, sagte die schleswig-holsteinische
       Bildungsministerin [1][Karin Prien (CDU) bei Markus Lanz] im Februar.
       Oftmals ist davon die Rede, dass eine Corona-Infektion „nur“ für
       Vorerkrankte gefährlich sein könne. Das Zentralinstitut für die
       kassenärztliche Versorgung geht von rund einer halben Millionen [2][Kinder
       mit Vorerkrankung im Alter von 12 bis 17 Jahren] aus. Laut einer Studie des
       RKI haben 11 [3][Prozent aller Mädchen und 16 Prozent aller Jungen] eine
       chronische Erkrankung.
       
       Eigentlich wurde den Mojems eine sogenannte [4][Corona-Auszeit] vom Staat
       finanziert. Sie wollten an die Ostsee fahren. „Wir werden einen Teufel tun
       und an die Ostsee fahren“, sagt Cristina Mojem. Die Zahlen seien zu hoch.
       „Nachholen können wir den Urlaub nicht, da die Corona-Auszeit wohl nicht
       erneut beantragt werden kann, wenn man selbst storniert hat. Ich glaube,
       dass unsere Kinder trotzdem glücklich sind.“ Glück, das sagt Cristina Mojem
       oft. Sie erzählt, wie den Kindern einiges ermöglicht wird, das vor der
       Pandemie undenkbar gewesen sei: Sie gehen später ins Bett, spätabends auf
       den Spielplatz. „Ich denke mir mittlerweile: Was soll’s. Soll Murielle halt
       den Butterkeks essen“, sagt Cristina Mojem. „Bei Madikken war mir das noch
       sehr wichtig, sie durfte zwei Jahre lang keinen Zucker essen.“
       
       Dann plötzlich, wir sind auf dem Weg zum Spielplatz, findet Madikken etwas
       am Wegesrand, hebt es auf und streckt ihren kleinen Arm in die Höhe. „Ein
       Mistelzweig“, ruft sie. Sie springt zu ihrer Mutter, küsst sie und die
       kleine Schwester. Madikken quietscht vergnügt, Murielle quietscht mit.
       
       ## Kinder hören nicht auf, Kinder zu sein
       
       Später, als die Familie auf einen kleinen Spielplatz gelangt, klettert
       Madikken einen Baum hoch und hängt sich an einen Ast. „Mama, Mama, guck
       mal“ – „Und jetzt: Lass dich fallen!“, ruft Cristina Mojem. Madikken hüpft
       hinunter und klettert wieder auf den Baum. Währenddessen schaukelt Mats
       Mojem mit Murielle, Mojem küsst sie am Hinterkopf.
       
       Neben Murkels Krankheit wollen Cristina und Mats Mojem auch die Bedürfnisse
       der anderen beiden Kinder wahrnehmen. Kinder hören nicht auf, Kinder zu
       sein und Kinderprobleme zu machen, nur weil die Schwester vielleicht bald
       stirbt. Für jeden sieht das Abseits ein bisschen anders aus: Nicht jede
       Schattenfamilie ist wie die Mojems. Das betont auch Andrea Häfele, die in
       dem Verein Eltern beraten Eltern arbeitet. Häfele berät Eltern von Kindern
       mit und ohne Behinderung. „Vieles kann man nicht über einen Kamm scheren,
       weil jede Familie einzigartig ist. Dass sie nicht gesehen werden, haben sie
       gemeinsam.“
       
       Dabei verstärke die Pandemie diese Situation nur: Eltern von Kindern mit
       Behinderung und chronischer Erkrankung seien schon vor der Pandemie
       ignoriert worden. Viele Kontakte seien über die Pandemie weggebrochen,
       soziale Kontakte fast gänzlich. Dazu kämen die Ängste: mögliche Ansteckung
       in Kita und Schule sowie die Isolation, die auch die Kinder erfahren haben.
       
       Auch bestünden für viele Familien finanzielle Schwierigkeiten. „Was jetzt
       dazukommt, ist das gesellschaftliche Unverständnis“, sagt Häfele. „Dabei
       fangen für diese Familien die Sorgen jetzt erst recht an. Das Unverständnis
       ist sehr belastend.“ Gerade weil die Familien alleine gelassen werden mit
       dem Thema, müsse man sie nach wie vor schützen.
       
       „Wir entscheiden hauptsächlich nach Bauchgefühl“, erzählt Mats Mojem. Und
       am nächsten Tag zeigt sich dieses Bauchgefühl auch auf Cristina Mojems
       Facebook-Seite: Sie fahren doch an die Ostsee. Mit viel Vorsicht und
       Abstand zu anderen Familien, aber auch mit dem Glück, den
       1,5-Jahre-Geburtstag von Murkel zu feiern. „Auf noch ganz viele tolle und
       so besondere Monate mit Murkel“, schreibt Cristina Mojem auf ihre
       Facebook-Seite. Damit das möglich ist, wird sich die Familie auch weiterhin
       im Schatten halten.
       
       7 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1161384.corona-massnahmen-die-maske-soll-aufbleiben.html
 (DIR) [2] https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/kinder-corona-impfen-101.html
 (DIR) [3] https://www.kiggs-studie.de/deutsch/home.html
 (DIR) [4] https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-auszeit-familien-100.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nicole Opitz
       
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