# taz.de -- 1. Mai in der Türkei: Polizeigewalt und Festnahmen
       
       > Der türkische Staat verhinderte alle Demonstrationen zum 1. Mai auf dem
       > Istanbuler Taksim-Platz. Mindestens 164 Menschen wurden festgenommen.
       
 (IMG) Bild: Auf dem Weg zum Taksim-Platz: Demonstranten am 1. Mai in Istanbul
       
       ISTANBUL taz | Es war das seit zehn Jahren wiederkehrende Ritual. Die
       Demonstranten wollten den 1. Mai auf dem zentralen [1][Taksim-Platz]
       feiern, was die Polizei seit [2][2013] mit aller Gewalt verhindert. Schon
       im Morgengrauen wurde der Taksim-Platz abgesperrt, genauso wie alle Straßen
       in der Umgebung.
       
       Mehrere Demonstrationszüge versuchten, dennoch den Platz zu erreichen und
       wurden von einem massiven Polizeiaufgebot daran gehindert. Mit Tränengas
       und Schlagstöcken löste die Polizei die Demos auf, nach offiziellen Angaben
       wurden 164 Menschen vorübergehend festgenommen. Bis Montagfrüh war unklar,
       wie viele von ihnen nach wie vor bei der Polizei festgehalten werden.
       
       Lediglich eine Delegation von Gewerkschaftsführern durfte am Sonntag auf
       den Taksim-Platz, um dort am Denkmal der Republik Kränze niederzulegen. Mit
       den Kränzen erinnern die Gewerkschaftler an den sogenannten „Blut-Mai“
       1977. Damals waren rund eine Million Menschen zum 1. Mai auf dem
       Taksim-Platz, es gab Fabrikbesetzungen und große gewerkschaftliche Kämpfe
       an vielen Orten in der Türkei. Plötzlich wurde von den Dächern der
       umliegenden Hochhäuser in die Menge geschossen. Mindestens 34
       Gewerkschafter wurden getötet, in einigen Berichten ist gar von 43 Toten
       die Rede.
       
       Niemand wurde für die Morde zur Verantwortung gezogen, Gewerkschafter und
       Opposition beschuldigten den „Deep State“ für die Morde, die sich letztlich
       als Ouvertüre zum Putsch 1980 herausstellten. Nicht zuletzt wegen dieser
       Ereignisse bestehen Gewerkschaften und andere linke Gruppen darauf, trotz
       Verbot durch die Erdoğan-Regierung der „Märtyrer vom Taksim-Platz“ zum 1.
       Mai zu gedenken.
       
       ## Gründe zum Demonstrieren gibt es genug
       
       Während es rund um den Taksim Platz zu den Angriffen der Polizei auf die
       Mai-Demonstranten kam, konnte in Kadiköy auf dem asiatischen Ufer der Stadt
       friedlich demonstriert werden. Immerhin ist der 1. Mai seit 2009 auch in
       der Türkei ein gesetzlicher Feiertag.
       
       Gerade in diesem Jahr protestierten tausende ArbeiterInnen in vielen
       Städten des Landes gegen die enorme Verteuerung der Lebenshaltung. Die
       [3][Inflationsrate] ist mit offiziell 61 Prozent und real um die 100
       Prozent eine der höchsten weltweit. Unabhängige Ökonomen haben
       ausgerechnet, dass die TürkInnen in den letzten zwei Jahren
       durchschnittlich um die 70 Prozent ihrer Kaufkraft durch die Geldentwertung
       verloren haben. Die Pandemie und jetzt der Krieg in der Ukraine haben
       außerdem dazu beigetragen, dass immer mehr Menschen in die Armut
       abrutschen.
       
       Dass die Maikundgebungen dennoch nicht zu wirklichen Massenprotesten mit
       Millionen Teilnehmern wurden, liegt einerseits daran, dass die
       Oppositionsparteien die Leute nicht auf die Straße bringen wollen und
       stattdessen auf die Wahlen im kommenden Jahr setzen und zum zweiten am
       muslimischen Fastenmonat Ramadan, der mit dem dreitägigen „Zuckerfest“ zu
       Ende ging. Der 1. Mai lag deshalb mitten in den Ferientagen, die am letzten
       Freitag nach Schulschluss begannen und bis Mitte dieser Woche andauern.
       
       2 May 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Neuer-Kulturpalast-in-Istanbul/!5809484
 (DIR) [2] /Proteste-in-der-Tuerkei/!5063295
 (DIR) [3] /Inflation-in-der-Tuerkei/!5825221
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Opposition in der Türkei
 (DIR) Türkei
 (DIR) Istanbul
 (DIR) Demonstrationen
 (DIR) Repression
 (DIR) Polizeigewalt
 (DIR) Schwerpunkt Pressefreiheit
 (DIR) Opposition in der Türkei
 (DIR) Türkei
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Mediensituation in der Türkei: Vom Gefängnis zum Vermittler
       
       Die Kritik aus Europa an Präsident Erdoğans Repression kritischer
       Journalisten ist inzwischen weitgehend verstummt.
       
 (DIR) In Türkei verurteilter Mäzen Kavala: Widerstand wichtiger denn je
       
       Mit der lebenslangen Haftstrafe für den Bürgerrechtler Kavala und andere
       versucht Präsident Erdoğan, der Opposition den finalen Schlag zu versetzen.
       
 (DIR) Verurteilung Osman Kavalas in der Türkei: Justiz im Auftrag Erdoğans
       
       Lebenslange Haft unter erschwerten Bedingungen: Ein türkisches Gericht
       verhängt gegen den Kulturmäzen Osman Kavala das härteste Urteil.