# taz.de -- Die Wahrheit: Händeschütteln mit Untoten
       
       > Vor 125 Jahren erschien erstmals die Geschichte des Grafen Dracula. Bram
       > Stokers Roman hat einen zutiefst irischen Hintergrund.
       
       Gibt es Untote? Wer einmal in der Krypta unter der St. Michan’s Church in
       Dublin war, wird die Frage bejahen. Oben im Vorraum der Kirche steht die
       Orgeltastatur, auf der Händel seinen „Messias“ uraufgeführt hat, unten
       stapeln sich die Leichen.
       
       Viele sind fünfhundert, manche sogar tausend Jahre tot, aber sie verwesen
       nicht. In der Ecke sitzt ein Kreuzritter, fast zwei Meter groß, dem man
       damals die Beine gebrochen hatte, damit die Leiche in den Sarg passte. Der
       Sarg ist längst zerfallen, der Kreuzritter streckt eine Hand aus, als ob er
       einen begrüßen will. Ich habe ihm vier- oder fünfmal die Hand geschüttelt,
       weil es Glück bringen soll. Das ist inzwischen im Interesse des
       Kreuzritters verboten.
       
       Die Haut fühlt sich ledern an, Haare und Fingernägel sind noch erhalten.
       Selbst die Gelenke funktionieren noch, wie der Totengräber demonstriert. Es
       leuchtet ein, dass der Dubliner Autor Bram Stoker hier zu seinem „Dracula“
       inspiriert worden ist. Vorigen Donnerstag war es 125 Jahre her, dass das
       Buch erstmals veröffentlicht wurde. Der ursprüngliche Titel lautete „Die
       Untoten“, und der Blutsauger hieß Graf Wampyr.
       
       Angeblich basierte Stokers Geschichte auf der von Vlad III. aus der
       rumänischen Walachei, aber einige Historiker glauben, dass Dracula auf
       Abhartach beruht, einem mordgierigen Stammeshäuptling, der gern das Blut
       seiner Opfer trank. Er lebte in Slaghtaverty in der nord‑irischen
       Grafschaft Derry.
       
       Irgendwann hatten seine Untertanen die Nase voll und ließen ihn von Cathán,
       einem benachbarten Stammeshäuptling, umbringen. Man beerdigte ihn stehend,
       wie es bei keltischen Häuptlingen üblich war, aber schon am nächsten Tag
       kletterte Abhartach aus dem Grab und setzte seine blutige Orgie fort. So
       tötete Cathán ihn erneut, aber das Monster feierte abermals seine
       Wiederauferstehung und verlangte nach Blut. Abhartach war zu einem
       neamh-marbh geworden, zu einem Untoten.
       
       Erst ein Schwert aus Eibenholz brachte ihn endgültig zur Strecke. Man
       begrub ihn kopfüber, wie ein Druide empfohlen hatte, und legte einen
       Granitbrocken auf das Grab. Seitdem gibt Abhartach Ruhe, aber die
       Einheimischen warnen, entferne man den Granitstein, werde der Untote wieder
       sein Unwesen treiben.
       
       Weil Stoker bis zu seinem siebten Lebensjahr bettlägerig war, erzählte ihm
       seine Mutter oft Geschichten wie die von Abhartach. Außerdem ist Stoker
       1845 geboren, als die Hungersnot begann, der eine Million Menschen zum
       Opfer fielen. Um zu überleben, zapften viele den Tieren Blut ab und tranken
       es in ihrer Verzweiflung. Aus dieser Zeit stammt der Begriff
       „droch-fhoula“, der „verdorbenes Blut“ bedeutet. Ausgesprochen wird es
       „Drocola“.
       
       Dracula liegt also mitnichten weit weg in einer Gruft in Rumänien, sondern
       ganz in meiner Nähe. Aber ich habe ja zum Glück die Hand des Kreuzritters
       mehrmals geschüttelt.
       
       30 May 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralf Sotscheck
       
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