# taz.de -- Ukrainische Geflüchtete in Berlin: Fuß fassen in der Wartehalle
       
       > Zhenya W. floh mit ihrem Sohn aus der Ukraine nach Berlin. Eigentlich
       > möchte sie nicht wirklich ankommen – arbeitet jedoch energisch daran.
       
 (IMG) Bild: Spielen und Warten: Zhenya und ihr Sohn Yeghor in ihrem neuen Zuhause
       
       Yeghor nimmt schnell Fahrt auf. Am Startpodest einer Seilbahn stehen drei
       Jungs und werfen ihm kurze deutsche Satzbrocken wie „schneller“, „jetzt
       ich“ oder auch etwas internationaler „cool“ zu. Er antwortet zackig „okay“
       und „gleich“ und scheint überhaupt nicht zu hören, dass seine Mutter schon
       dreimal auf Ukrainisch nach ihm gerufen hat.
       
       Auf dem riesigen Pausenhof der Grundschule Zepernick in der kleinen
       Gemeinde Panketal vor den Toren Berlins blinzelt die warme Sonne durch die
       Blätter der großen alten Linden. „Yeghor, Yeghorka“, ruft Eugenia W., die
       sich aber von allen Zhenya rufen lässt, vom Rand des Spielplatzes
       inzwischen zum vierten Mal, aber der siebenjährige Junge reagiert nicht.
       Sie zuckt mit den Schultern. „Ich glaube, er hat hier viel Spaß. Er ist
       aufgeregt“, sagt sie.
       
       Es ist nur ein paar Wochen her, dass ich Zhenya W. zum ersten Mal für die
       Zeitung interviewt habe. Damals erzählte sie viel von ihrer Flucht Anfang
       März aus Mykolajiw im Süden der Ukraine zwischen Odessa und Cherson – und
       von ihrer Ankunft in Deutschland. Aufgenommen wurde sie von einer Familie
       mit zwei Kindern, dort wohnt sie im kleinen Gästezimmer des großen Hauses
       mit Garten.
       
       Zhenya hat auf der Flucht aus dem Autofenster zerfetzte Leichen auf der
       Straße gesehen, nicht aber Yeghor, der in diesem Moment abgelenkt war, wie
       sie glaubt. Bislang haben die beiden niemanden aus Familie und
       Freundeskreis verloren. Zhenyas Mann und Yeghors Vater ist Schiffbauer und
       arbeitet zur Zeit auf einer Werft in Finnland. Das Haus, in dem sie mit
       Yeghor lebte, steht noch.
       
       Damals drehte sich unser Gespräch noch viel um die Frage, wie es mit Yeghor
       weitergehen soll. Zhenya war voller Zweifel. Damals hatte gerade die
       ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka lautstark eine Integration der
       Flüchtlingskinder ins deutsche Schulsystem abgelehnt. Der Unterricht in der
       Ukraine sei intensiver. Die Schülerinnen und Schüler könnten online lernen.
       Zhenya ist ehrgeizig mit ihrem Sohn, macht seit den ersten Tagen in
       Deutschland mit ihm am Computer den Unterricht aus der Ukraine, lernt
       außerdem mit ihm Deutsch. Sie betont gern, wie viele Kurse von Karate bis
       Roboterbaukunde er seit dem vierten Lebensjahr neben Kindergarten und
       Schule absolviert hat.
       
       ## Eins von 61.000 Kindern
       
       Doch nun geht Yeghor seit einigen Tagen in eine von zwei Willkommensklassen
       der Grundschule Zepernick für rund 20 der neuen ukrainischen Kinder in der
       Gemeinde. Damit ist er eines von 61.000 geflüchteten Kindern bundesweit und
       eines von etwa 2.500 in Brandenburg, die hier nun schon zur Schule gehen.
       
       Und auch wenn das nicht leicht ist: Yeghor muss trotzdem mit seiner Mutter
       dasselbe Programm nach der Schule absolvieren, für das er ohne Schule oft
       den ganzen Tag Zeit hatte – manchmal bis in den späten Abend hinein. „Aber
       er ist böse, wenn ich ohne ihn Deutsch lerne. Das gemeinsame Lernen ist
       Familienzeit für ihn, es macht ihm Spaß“, beschwichtigt Zhenya und lacht.
       
       Zhenya scheint dennoch ein bisschen weicher, vielleicht aber auch nur
       mürber geworden zu sein in den letzten Wochen. Vor vier Wochen hat sie noch
       gesagt, sie lasse ihren Sohn nicht genug spielen. Jetzt schaut sie ihm gern
       dabei zu. „Das deutsche Bildungssystem ist gut“, sagt sie auch, und sie
       lobt die Schule, weil Yeghor trotz des Deutschunterrichts kein Mathe
       verpasst. Während sie ihn in der ersten Woche aber bereits gegen Mittag
       abgeholt hat, kommt sie jetzt erst nach 14 Uhr. „Er wird hier viel Deutsch
       aufschnappen“, sagt sie.
       
       Eine halbe Stunde später, auf einer Bank am Rand des Pausenhofs, kann er
       die meisten Fragen, die ich ihm so langsam wie möglich auf Deutsch stelle,
       mindestens so gut verstehen wie seine Mutter. Er sagt mit geduldiger Miene,
       dass er schon drei Freunde gefunden hat, zählt dann fünf Namen auf. Fügt
       sogar an, dass die Jungs beim Fußball fair spielen. Und dass die Lehrer
       nett seien. Alltag, Struktur und Ablenkung scheinen Yeghor gut zu tun, er
       wirkt gelöst derzeit. Auch wenn die Flucht und das Wissen, dass zu Hause
       Krieg ist, immer in ihm sein muss.
       
       Der Nachmittag schreitet voran, Zhenya, die bislang so entspannt wirkte,
       schaut nun doch mal auf die Uhr. Sie muss heute noch den Sohn ihrer
       Gastgeberin im 20 Minuten Gehweg entfernten Kindergarten abholen. Yeghor
       mault, als er das gebrauchte Rad holen soll, das Zhenya ihm kürzlich
       gekauft hat. Er findet es auch wenig lässig, dass seine Mutter den Rucksack
       tragen möchte. Aber er fügt sich. „Ich brauche endlich auch ein Fahrrad und
       muss richtig Radfahren lernen“, stöhnt seine Mutter nach fünf Minuten Weg
       und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ohne die alten Bäume vom
       Schulhof brennt die Sohne plötzlich viel zu heiß für diese Jahreszeit.
       Zhenya ist trotzdem zügig unterwegs. „Zum Deutschkurs brauche ich 20
       Minuten, zum Supermarkt fast 30, dann noch die Arztbesuche, das frisst
       Zeit.“
       
       Noch mehr Aufwand haben Zhenya in den letzten Wochen die Ämter gekostet,
       die Anrufe, Mails und Briefe. Sie hat es geschafft, in einem eigens dafür
       eingerichteten wöchentlichen Zeitfenster einen Telefontermin mit der
       Ausländerbehörde zu ergattern. Dort hat sie herausgefunden, dass sie zwar
       schon jetzt ein Bankkonto einrichten kann, aber nicht muss. Das Geld, das
       ihr monatlich zugesichert wurde, wurde nicht wie erwartet bereits beim
       zweiten Mal überwiesen, sondern sie musste es noch einmal persönlich
       abholen.
       
       ## „Zwei Monate warten ist lang“
       
       Sie hat recherchiert, dass derzeit niemand weiß, wann sie endgültig
       registriert sein wird, wann sie mit Überweisungen, ihrer Arbeitserlaubnis
       und Gesundheitskarte rechnen darf. Ein Job als Englischlehrerin an einer
       Privatschule, an der sie sich trotz fehlender Deutschkenntnisse beworben
       hat, ist wohl auch deshalb geplatzt. Jetzt ist die selbstbewusste Zhenya
       sauer. Sie will es erst wieder mit einer Bewerbung versuchen, wenn ihr
       Aufenthalt eindeutig geklärt ist. „Zwei Monate warten. Das ist eine lange
       Zeit für uns“, schimpft sie.
       
       Hinzu kommt: Durch ihre Gastgeber weiß Zhenya, dass ab Juni nicht mehr die
       Ausländerbehörden, sondern die Jobcenter für ihre finanzielle Unterstützung
       zuständig sein sollen. Erst kürzlich war sie auf einer
       Informationsveranstaltung der Gemeinde, um zu erfahren, wie das vor sich
       gehen soll. Man habe ihr gesagt, dass sie sich selbst beim Jobcenter melden
       könne, wenn sie das wünsche. Und sie hat erfahren, dass es schwierig werden
       wird, eine eigene Wohnung zu finden. Der Kreis Barnim, heißt es, verfügt
       derzeit über keine Wohnungen mehr, die das Amt bezahlen würde.
       
       Zhenya sitzt eigentlich noch immer in einer Wartehalle ohne Ziel – oder
       besser: Sie läuft darin energisch auf der Stelle, bis zur Erschöpfung. Beim
       letzten Treffen erzählte sie, dass sie lieber morgen als übermorgen zurück
       würde.
       
       Nun erzählt Zhenya auf dem Weg durch Panketal: Es ist ein Unterschied, aus
       welchem Teil des Landes man kommt. Rund um Kiew sind einige Menschen schon
       wieder zurück. „Ich vermisse die Ukraine“, sagt Zhenya, auch, wenn ich
       immer mehr deutsche und ukrainische Freunde finde.“ Wir unterhalten uns
       über die Rede Putins zum sogenannten Tag der Befreiung am 9. Mai auf dem
       Roten Platz. Wie viele Beobachter*innen hatte auch Zhenya das Gefühl,
       dass Putin wankt. Und je mehr sie so fühlte, desto stärker wuchs auch
       wieder ihre Hoffnung.
       
       Aber Zhenyas Heimatstadt, Mykolajiw am Schwarzen Meer, liegt nur 90
       Kilometer vom besetzten Cherson entfernt. Die ganze Region soll nach
       russischen Vorstellungen die Landverbindung zwischen der Krim und dem
       Donbas werden. Seit Beginn des Krieges liegt Mykolajiw unter Beschuss.
       
       ## Ein paar Wochen nach Hause
       
       „Wenn es sicher und möglich wäre, würde ich gern irgendwann ohne Yeghor ein
       paar Wochen nach Hause, mich um einige Sachen zu kümmern und dann nach
       Deutschland zurückzukehren, um weiter hier zu leben.“ Sie seufzt. „Wir sind
       so überstürzt aufgebrochen. Ich konnte nicht einmal den Kühlschrank leeren
       und den Müll runterbringen. Und ich hätte so gern meinen Laptop“, fügt sie
       an. „Ich würde so gern meinen Frieden machen.“
       
       Und während sie geschickt einen kleinen Streit um das bessere Bonbon
       zwischen dem kleinen Jungen aus dem Kindergarten und dem größeren Jungen
       schlichtet, der ihr eigener ist, fragt sie sich; „Wo werden wir in zehn
       Jahren stehen?“
       
       Und dann, nach einer kurzen Pause: „Nehmen wir an, es werden acht oder zehn
       Jahre.“ Noch eine Pause. „Dann hat Yeghor die Schule fertig und möchte
       vielleicht in Deutschland studieren.“
       
       Zhenya möchte eigentlich noch lange nicht ankommen in Deutschland. Trotzdem
       ist sie ein Stück weiter herangerückt.
       
       30 May 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Messmer
       
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