# taz.de -- Die Wahrheit: Die Unmöglichkeit zu frühstücken
       
       > Wenn ein kandelabertragender Mann dem Hotelgast durch hinterhältiges
       > Klopfen das Morgenmahl vergällt, hilft nur noch die Flucht.
       
       Wegen einer leidigen Angelegenheit musste ich in einem Hotel übernachten.
       Am Morgen stand ich sehr früh auf und zog mich an, ohne es zu bemerken.
       Danach wusste ich nicht weiter. Ein kräftigendes Frühstück wäre in meiner
       Lage das Richtige gewesen, doch um diese Uhrzeit war überhaupt noch nicht
       daran zu denken, irgendwo auf der Welt eines zu bekommen. Deshalb blieb ich
       stehen, wo ich stand, und beschloss zu warten.
       
       Da wurde an die hölzerne Tür des Zimmers geklopft. Verärgert über die
       Unmöglichkeit zu frühstücken, ging ich öffnen. Vor mir stand, unbestimmt
       gekleidet, ein hagerer, sehr ernst wirkender Mann. In der rechten oder
       linken Hand hielt er einen alten Leuchter mit vier Wachskerzen, deren
       Flammen leicht zitterten.
       
       „Sie haben geläutet?“ fragte er. Ich verneinte überrascht. „Das dachte ich
       mir“, sagte der Mann. Mit derselben Stimme aus demselben Mund erkundigte er
       sich, ob ich irgendwelche Wünsche hätte. Ich teilte ihm mit, dass ich gern
       frühstücken wollte. Er nickte und bat mich, ihm zu folgen. Weil ich nach
       dem Frühstück sofort abreisen wollte, zog ich meine Winterjacke an und
       ergriff meine Reisetasche. Dann eilte ich dem kandelabertragenden Mann
       nach. Ohne sich nach mir umzublicken, führte er mich ins Erdgeschoss und
       auf die dunkle, stille Straße hinaus. Dort warf er den Kerzenleuchter in
       den Schnee. Weiter tat er nichts, sondern stand nur abwartend da.
       
       Obwohl ich vor Kurzem selbst nur dastehen und warten gewollt hatte, war ich
       in der aktuellen Situation befremdet, wenn sich ein anderer so verhielt.
       „Und jetzt?“, fragte ich. Der sonderbare Mensch reagierte mit der
       verwundert klingenden Gegenfrage: „Wollten Sie nicht auf die Straße?“ –
       „Nein“, korrigierte ich, „ich sagte, ich wolle frühstücken.“ Darauf wurde
       erwidert: „Das hätten Sie sagen müssen.“
       
       Nun reichte es mir. Nicht länger um Freundlichkeit bemüht, stellte ich den
       Mann zur Rede: „Weshalb haben Sie an meine Tür geklopft?“ – „Ich klopfe
       immer an Türen“, lautete seine im Ton größter Selbstverständlichkeit
       vorgebrachte Antwort.
       
       Es hatte keinen Sinn, diesen Dialog fortzusetzen. Am liebsten wäre ich
       einfach geflohen, doch ich musste leider noch einmal ins Hotel zurück, um
       meine Rechnung zu bezahlen. Der Unsinnige registrierte, was ich vorhatte.
       Mit großen Schritten erreichte er vor mir die Eingangstür und behauptete:
       „Hier wird nicht mehr gearbeitet. In der Nacht sind alle fortgegangen. Ich
       werde auch fortgehen.“ Im nächsten Moment verschwand er hinter der Tür, die
       sich schnell hinter ihm schloss. Gleich darauf hörte ich, wie er von innen
       daran klopfte.
       
       Ich machte mich auf den Weg in die Innenstadt, um zu frühstücken. Die
       Straßen waren menschenleer. Vereinzelt fuhren Autos vorbei. Wegen der
       schlechten Straßenbeleuchtung war nicht zu erkennen, ob darin Menschen
       saßen oder dunkle Säcke auf den Sitzen standen.
       
       7 Jun 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eugen Egner
       
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