# taz.de -- Die Wahrheit: Kunst bei Tempo 180
       
       > Ein Workshop für Vielfahrer an einer Autobahnraststätte bei Remscheid
       > gibt die Kunst in die Hände der Autofahrer zurück.
       
 (IMG) Bild: Dekonstruktivismus in Reinkultur: Zerquetschtes Kunstauto
       
       „Die beste Kunst entsteht ganz spontan, aus dem Augenblick“, betont Adrian
       Schimmelpfennig und drückt dem Reporter ein gelbes Post-it mit einem
       hingekrakelten Huhn in die Hand. Das habe er in seiner Mittagspause
       angefertigt. Einfach so, sagt er.
       
       Schimmelpfennig, Anfang 50, ein hagerer Typ in Doc-Martens-Stiefeln und
       weitem schwarzem Hemd, ist seit wenigen Wochen für Kunst an der Autobahn
       zuständig. Im Rahmen des Programms „Kunst am Bau“ wird seit rund 70 Jahren
       auch da Kunst gefördert, wo sie keiner erwartet.
       
       Die Ergebnisse sind ernüchternd. Ein ausrangierter ADAC-Hubschrauber an der
       A 2, der von acht Engelsfiguren aus Stahlblech getragen wird. Ein Wandfries
       namens „Die Flora der Schwäbischen Alb“ an der Raststätte Aichen auf der A
       8. Betonskulpturen, die verloren in der Landschaft stehen wie Reste
       missglückter Brückenbauprojekte.
       
       Schimmelpfennig, früher Performance-Artist, später Studium der
       Kommunikation in Wien, will das fundamental ändern. „Ich werde die Kunst in
       die Hände der Autofahrer zurückgeben. In den Schoß der Trucker. Auf den
       Soziussitz der Biker“, kündigt er an und macht mit den Armen eine Geste,
       die den ganzen heruntergekommenen Rastplatz an der A1 bei Remscheid
       umfasst.
       
       ## Bedürfnis nach Selbstverwirklichung
       
       Hier hat Schimmelpfennig den weltweit ersten Kunst-Workshop für Vielfahrer
       gestartet. „Nach Zapfsäule, Klo und Würstchen dürfen die Autofahrer hier
       ihrem tiefen Bedürfnis nach Selbstverwirklichung nachkommen“, erklärt er
       und zeigt auf eine Frau im Hosenanzug, die verzweifelt vor einer leeren
       Leinwand neben ihrem verschlossenen 5er-BMW steht. Therese van Dijk,
       Geschäftsführerin eines großen Textilkonzerns, wartet hier bereits seit
       einer Stunde auf Inspiration.
       
       Das Projekt sei Avantgarde, deshalb setze bei vielen Autofahrern zuerst ein
       Abwehrmechanismus ein. Sie müssten mit sanftem Druck zur Kunst geführt
       werden, sagt Schimmelpfennig. Daher hat er den Autoschlüssel der
       Geschäftsfrau konfisziert. „Ich habe in einer Stunde
       Gesellschafterversammlung!“, schimpft sie, doch Schimmelpfennig lächelt
       nur. „Kunst braucht Zeit, keine Termine“, erklärt er und drückt der Frau
       einen Farbeimer mit blauer Farbe und einen großen Pinsel in die Hand.
       
       „Was soll ich denn damit?“, empört sie sich. „Lausche dem Rauschen der
       rasenden Autos. Es schenkt dir Inspiration“, haucht Schimmelpfennig und
       führt den Reporter zum nächsten „Freigeist“, wie er liebevoll die
       Teilnehmer seines Workshops nennt. Ein Teslafahrer steht neben seinem
       brandneuen „Model 3“. Markus Brecht ist Versicherungsmakler. Auf die Frage,
       was ihn zum Mitmachen motiviert, erklärt er, Schimmelpfennig habe das Kabel
       der Ladesäule durchgeschnitten.
       
       Der Kunstförderer kündigt an, Brecht und sein Tesla seien Teil „von etwas
       Großem“. Der Makler sei sein vielversprechendster Absolvent. Das scheint
       Brecht gar nicht zu gefallen. Nervös hält er Ausschau nach dem rettenden
       Abschleppdienst.
       
       Plötzlich entdeckt Schimmelpfennig zwei Polizisten, die neben ihren
       Motorrädern belegte Brötchen essen. Schimmelpfennig verdonnert sie zum
       Aquarellmalen. Er entreißt den Polizisten ihre Brotzeit und drückt ihnen
       Büttenpapier und Dachshaarpinsel in die Hände. „Malt zu, ihr
       Asphalt-Cowboys, berauscht von Benzindämpfen, rastlos galoppierend auf
       euren Stahlrössern!“, ruft Schimmelpfennig überschwänglich.
       
       ## Förderung der Emotionen
       
       Er beißt in ein konfisziertes Brötchen und eilt zurück zu Therese van Dijk.
       Die Geschäftsfrau hat tatsächlich begonnen, die Leinwand zu bemalen. Eine
       riesige Faust, einen Autoschlüssel und ein Männchen, das Schimmelpfennig
       ähnlich sieht. Der Kunstförderer betrachtet es eingehend. „Du lässt dich
       von deinen Emotionen leiten, das ist gut! Aber zu brav!“ Er nimmt den Eimer
       mit der blauen Farbe und schleudert ihn mit Wucht gegen das Leinen. Van
       Dijk schreit auf und springt farbbefleckt zur Seite. „Der Auftakt zum
       Finale!“, jubelt Schimmelpfennig und stürmt zurück zum Tesla und seinem
       Fahrer.
       
       Er drückt Brecht einen Vorschlaghammer in die Hand. „Dekonstruiere das
       Heiligtum!“, schreit Schimmelpfennig und fuchtelt mit den Armen. „Ich … ich
       verstehe nicht …“, stammelt der Makler. Das dauert dem Kunstförderer zu
       lange. Er schnappt sich den Hammer und zimmert ihn auf die Motorhaube. „Den
       Götzen lassen wir direkt vor die Rastplatzeinfahrt schleppen“, ruft
       Schimmelpfennig und holt erneut aus.
       
       Sogar als die Motorradpolizisten ihr Aquarell beendet haben und ihn
       abführen, bleibt Schimmelpfennig ganz Kunstpädagoge. Die unbeholfen
       gepinselte Tankstelle vor Sonnenuntergang der beiden Ordnungshüter
       bezeichnet er als „mutigen Schritt zur Art brut im Sinne einer ästhetischen
       Reduktion“.
       
       Er werde bald zurückkehren, ruft Schimmelpfennig kämpferisch, und den
       Rastplatz bei Remscheid endgültig zum Leuchtturm der frei dahinrasenden
       Autobahnkunst machen.
       
       14 Jun 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nico Rau
       
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