# taz.de -- Ukrainischer Abgeordneter über sein Land: „Hohes Maß an Unentschlossenheit“
       
       > Die Ukraine könne der EU neuen Atem einhauchen, sagt der ukrainische
       > Oppositionspolitiker Oleksiy Goncharenko. Zugleich kritisiert er Kanzler
       > Scholz.
       
 (IMG) Bild: Im Dialog über den Beitritt der Ukraine in die EU: Komissionschefin von der Leyen und Selenski
       
       taz: Herr Goncharenko, in der vergangenen Woche haben der türkische
       Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu und sein russischer Amtskollege Sergej
       Lawrow versucht, einen Ausweg aus der Getreidekrise zu finden. Das Ergebnis
       war überschaubar … 
       
       Oleksiy Goncharenko: Russlands Blockade im Schwarzen Meer zu lösen ist für
       das Ausland wichtiger als für die Ukraine. Denn viele Staaten leiden
       darunter, wenn Lieferungen aus der Ukraine ausbleiben. Laut UN-Schätzungen
       sind weltweit mehr als 400 Millionen Menschen betroffen. Dennoch blockiert
       Russland die Ausfuhren über das Schwarze Meer. Warum, ist klar. Wladimir
       Putin braucht maximales Chaos und das möglichst überall. Er will, dass
       Millionen hungernde Geflüchtete nach Europa kommen, die Preise für
       Nahrungsmittel und Benzin massiv steigen, um Aufruhr in demokratischen
       Gesellschaften zu schüren und vielleicht sogar Regierungen zu Fall zu
       bringen.
       
       Also ist keine Lösung in Sicht? 
       
       Ich sehe nur eine Variante: Eine Vereinbarung mit Russland, die jedoch
       keine Aufhebung von Sanktionen beinhalten darf. Denn das wäre ein
       gefährlicher Präzedenzfall. Doch es gibt Hebel, um auf Russland
       einzuwirken. Jeden Tag kommen Millionen Barrel russisches Öl durch den
       Bosporus. Die Staaten der Nato, zu der auch die Türkei gehört, haben das
       Recht zu sagen: Entweder hier kommen ukrainisches Getreide und russisches
       Öl durch oder gar nichts mehr. Doch dafür bräuchte es eine harte Position
       der Türkei sowie anderer Staaten. Und überhaupt: Der Vorschlag Russlands,
       die Ukraine solle die Minen räumen und dann würden ukrainische Schiffe mit
       Getreidelieferungen von russischen Kriegsschiffen eskortiert, kommt nicht
       infrage. Falls wir uns darauf einlassen, brauchen wir unbedingt
       Sicherheitsgarantien von anderen Staaten.
       
       Für Putin läuft es militärisch in der Ukraine nicht gut. Welche Strategie
       verfolgt er? 
       
       Putin will die Ukraine zwingen, zumindest temporär die Besatzung der
       Territorien zu akzeptieren, die die Russen unter ihre Kontrolle gebracht
       haben. Das heißt den ganzen Donbass, obwohl ihm vielleicht auch nur das
       Gebiet Luhansk reicht und die Gebiete im Süden. Er wird versuchen, einen
       Waffenstillstand zu erreichen, in dem festgeschrieben wird, dass die
       russischen Truppen dort bleiben, wo sie heute stehen. Dann würde eine Pause
       eintreten, um die Armee umzubauen mit dem Ziel, in einigen Jahren wieder
       anzugreifen. Denn Putin denkt gar nicht daran aufzuhören.
       
       Wie lauten Kiews Bedingungen, um an einer diplomatischen Lösung
       mitzuwirken? 
       
       Natürlich bin ich für Verhandlungen. Auch wenn die Chance eins zu tausend
       ist, probieren sollte man es. Was die Position der Ukraine angeht, gibt es
       jedoch nur zwei Möglichkeiten: Ein vollständiger Abzug der russischen
       Truppen, auch von der Krim und aus dem Donbass. Oder, als erste Etappe,
       einen Rückzug der Russen auf die Linien vor dem 24. Februar 2022.
       
       Wenn das nicht passiert? 
       
       Dann gibt es nichts zu besprechen. Die Besatzung des Gebietes Cherson
       anerkennen? Unsere Leute aufgeben, die dort Opfer schlimmster Verbrechen
       geworden sind? Heutzutage sind 20 Prozent der Ukraine besetzt. Damit dürfen
       wir uns nicht abfinden.
       
       Gehen wir einmal davon aus, dass der Krieg noch lange dauern wird. Teilen
       Sie die Befürchtung, dass die Unterstützung westlicher Staaten für die
       Ukraine bröckeln könnte? 
       
       Dieses Risiko besteht. Wenn es für uns zur Normalität wird, dass es mitten
       in Europa einen Genozid gibt, was ist das dann für eine Welt, in der wir
       leben? Deshalb denke ich, dass es im Interesse aller ist, die Sicherheit in
       dieser Welt zu verteidigen – und das nicht nur aus Sympathie mit der
       Ukraine. Russische Panzer haben seit dem Beginn des Angriffskrieges bereits
       Atomkraftwerke in der Ukraine unter Beschuss genommen, ein kolossales
       Risiko für den gesamten Kontinent. Mir ist klar, dass es nicht die ganze
       Zeit nur ein Thema geben kann. Dennoch muss die Ukraine auf der
       Tagesordnung bleiben. Die Ukraine kämpft heute nicht nur für sich, sondern
       für die gesamte freie Welt.
       
       Beobachter*innen in der Ukraine spielen auch folgendes Szenario durch:
       Einige westliche Staaten, wie Frankreich oder Deutschland, könnten auf die
       Ukraine Druck ausüben, sich mit Russland an den Verhandlungstisch zu
       setzen… 
       
       Druck wird sinnlos sein. Kein Politiker in der Ukraine kann der
       Gesellschaft vorschlagen, Gebiete abzutreten. Das wäre für ihn das
       politische Ende. Die freie Welt hat noch keine klare Strategie formuliert.
       Politiker wie Boris Johnson, Andrzej Duda und Annalena Baerbock sagen: Die
       Ukraine muss gewinnen. Dann kommt Olaf Scholz und sagt: Putin darf nicht
       gewinnen. Das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Putin gewinnt schon heute
       nicht, doch ein Teil der Ukraine ist besetzt, der Krieg geht weiter, das
       Schwarze Meer ist blockiert. Diese Unklarheiten führen zu langen Debatten
       wie der Frage: Soll man schwere Waffen an die Ukraine liefern oder nicht?
       Die Antwort ist eindeutig ja, wenn das Ziel ist, dass die Ukraine diesen
       Krieg gewinnt.
       
       Was sagen Sie zur Position Deutschlands? 
       
       Wir sind für jede Hilfe von deutscher Seite dankbar. Doch in der Ukraine
       herrscht der Eindruck vor, dass Berlin ständig auf die Bremse tritt, wenn
       es um Entscheidungen zur Ukraine geht. Dabei sollte Deutschland in der
       Europäischen Union doch eine Führungsrolle übernehmen. Doch wir sehen etwas
       komplett anderes. Damit verspielt Deutschland eine historische Chance, auf
       Jahre eine einzigartige Beziehung zur Ukraine aufzubauen. Ich bin in Berlin
       auf dem Willy-Brandt-Flughafen gelandet. Scholz verspielt die Chance, dass
       es eines Tages vielleicht auch einen Olaf-Scholz-Flughafen gibt. Er könnte
       eine neue Ostpolitik begründen mit Kiew als Zentrum – Kiew, das den Frieden
       in Europa verteidigt. Doch er macht das nicht. Stattdessen sehe ich nur ein
       hohes Maß an Unentschlossenheit. Dabei geht es doch jetzt um etwas. Beim
       EU-Gipfel in der kommenden Woche wird darüber entschieden, ob die Ukraine
       den Kandidaten-Status erhält.
       
       Was erwarten Sie? 
       
       Wir haben diesen Status verdient. Doch wieder gibt es Bremser – Frankreich
       und Deutschland. Kandidat zu sein hat ja noch nichts mit einer
       Mitgliedschaft zu tun. Das ist zuallererst eine politische Geste. Aber für
       die Ukrainer ist sie von ungeheurer Bedeutung. Millionen werden jeden Tag
       von Raketen beschossen. Familien sind getrennt. Jeden Tag sterben Hunderte
       Menschen. In dieser Situation brauchen wir jedes positive Signal. Das ist
       wie ein Licht am Ende des Tunnels. Und es ist eine große Unterstützung für
       weitere Reformen in der Ukraine. Sie sollen uns sagen: ‚Ja, ihr seid
       Kandidat. Doch um weiter zu gehen, müsst ihr bestimmte Bedingungen
       erfüllen.‘ Wir sind dazu bereit. Jahrzehnte waren wir im Schatten
       Russlands. Doch wir sind aus diesem Schatten herausgetreten. Der Versuch,
       Sicherheit in Europa zu schaffen mit der Ukraine als Pufferzone zwischen
       der Europäischen Union und Russland, ist gescheitert. Deshalb muss die
       Ukraine dazugehören.
       
       Was hat denn die Ukraine der Europäischen Union anzubieten? 
       
       Die Ukraine kann der Europäischen Union auch die Chance eröffnen, sich als
       Projekt neu zu erfinden, der EU neuen Atem einhauchen und ihr einen neuen
       Sinn geben. Wofür braucht es die EU? Um die Sicherheit des Kontinents zu
       verteidigen und die Grundwerte, wie Demokratie, weiter zu entwickeln.
       
       Und wenn die Antwort aus Brüssel nein lautet? 
       
       Dann wird das für viele Ukrainer wie ein Verrat sein. Putin hingegen wird
       das sehr gefallen, denn er wird das als Sieg verbuchen.
       
       Sie gehören der Partei des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko an, die
       in der Opposition ist. Wie stehen Sie zu Wolodimir Selenski? 
       
       Im Moment gibt es für mich keinen Präsidenten Selenski, sondern nur den
       Oberkommandierenden der Streitkräfte Selenski. Und den kann ich jetzt nur
       unterstützen. Wenn der Krieg jedoch endet, habe ich einige Fragen an
       Selenski. Ich war in der Opposition und werde auch in der Opposition
       bleiben.
       
       Welche Fragen zum Beispiel? 
       
       Er ist drei Jahre an der Macht und hätte Sicherheitsbelangen oder der Armee
       mehr Aufmerksamkeit schenken müssen. Doch seit dem 24. Februar erweist er
       sich seinen Amtes als würdig. Doch ich möchte noch auf etwas hinweisen: In
       der Ukraine kämpft nicht nur der Staat, sondern die ganze Gesellschaft. Der
       Krieg Russlands gegen die Ukraine ist ein Krieg der Vertikalen gegen die
       Horizontale. In Russland gibt es nur den Staat, alles verläuft von oben
       nach unten. In der Ukraine ist die Gesellschaft die Basis, so wie in den
       europäischen Gesellschaften. Bei uns hat keiner darauf gewartet, dass
       jemand ein Kommando gibt, die Menschen verteidigen selbst ihre Städte.
       
       Wie lautet Ihre Prognose? 
       
       Der Krieg wird noch Monate dauern. Wie lange genau, hängt von der
       Militärhilfe ab, die die Ukraine erhält. Doch eins ist klar: Russland kann
       nur militärisch gestoppt werden.
       
       Werfen wir einen Blick in die Zukunft. Wie könnte das Zusammenleben von
       Russland und der Ukraine aussehen? 
       
       Auf der Weltkarte gibt es keinen Platz mehr für ein russisches Imperium.
       Das Imperium hat Putin mit diesem Krieg beerdigt. Die Frage ist, wie lange
       das alles noch dauert, durch es wird mit einem Zusammenbruch enden. Dann
       muss dort ein Prozess der De-Putinisierung, der De-Imperialisierung
       beginnen, damit Russland ein normales Land wird. Dann wird das unser
       Nachbar sein, zu dem wir wieder Beziehungen aufbauen können.
       
       14 Jun 2022
       
       ## AUTOREN
       
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