# taz.de -- Selbstbestimmt leben: Treibt Paragraf 218 ab
       
       > Endlich fällt das Informationsverbot für Schwangerschaftsabbrüche durch
       > Paragraf 219a. Abtreibungen bleiben dennoch weiterhin strafbar.
       
 (IMG) Bild: Paragraf 218 streichen – nicht ändern
       
       Mit einer Petition richten 356 Berliner Ärztinnen einen dringenden Appell
       an das Bundesparlament. Sie fordern, [1][Paragraf 218] abzuschaffen, der
       Schwangerschaftsabbrüche zu einer Straftat gegen das Leben erklärt. Dieser
       „staatliche Gebärzwang“ sei mit der in der Verfassung festgeschriebenen
       Würde der Frau unvereinbar, erklären die Ärztinnen. „Paragraf 218 streichen
       – nicht ändern“, fordert eine der Ärztinnen in einer Broschüre.
       
       Die Medizinerinnen sind nicht allein: Das Verbot von
       Schwangerschaftsabbrüchen treibt die Menschen auf die Straße. Ganze
       Messehallen füllen sich bei politischen Kundgebungen. Theaterstücke, Romane
       und Filme thematisieren die Lebensgefahr und das Stigma, die aus der
       Kriminalisierung folgen.
       
       All das passiert nicht heute, sondern im Jahr 1931. [2][Käte Frankenthal],
       Berliner Ärztin, Sozialistin und Verfasserin der genannten Broschüre,
       kämpft als eine von vielen in der Weimarer Republik gegen das
       Abtreibungsverbot, das mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 seinen
       Weg ins Strafgesetzbuch findet – und bis heute Bestand hat. Im Jahr 2022
       ist die Forderung, Paragraf 218 abzuschaffen, noch genauso aktuell.
       
       Auch heute gilt in Deutschland aufgrund des Paragrafen der staatliche
       Gebärzwang. Auch heute ist dieser Paragraf nicht mit der Würde der Frau
       vereinbar. Und obwohl die Ampelregierung sich selbst den „Fortschritt“ auf
       die Fahnen geschrieben hat, wird sie daran ohne Druck von unten wohl kaum
       etwas ändern.
       
       ## Staatlicher Gebärzwang gilt nach wie vor
       
       Immerhin wird der Bundestag kommende Woche mit den Stimmen der
       Ampel-Fraktionen die Streichung von Paragraf 219a des Strafgesetzbuchs
       beschließen. Angestoßen hatte die Debatte die Allgemeinmedizinerin
       [3][Kristina Hänel], die 2017 verurteilt wurde, weil auf ihrer
       [4][Webseite] steht, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornimmt.
       
       Der [5][Paragraf 219a] – ein Detailparagraf innerhalb der Regelungen zum
       Schwangerschaftsabbruch – verbietet es Ärzt:innen, öffentlich darüber zu
       informieren, mit welchen Methoden sie Abbrüche vornehmen. Bis 2019 war
       sogar jeder Hinweis darauf, dass sie den Eingriff überhaupt vornehmen,
       strafbar. In der kommenden Woche fällt nun das Verbot. Und doch behebt der
       Bundestag damit nur einen kleinen Teil des Grundübels.
       
       Zugegeben: Trotz der anhaltenden Kriminalisierung haben sich die Zustände
       in der Bundesrepublik des Jahres 2022 gegenüber denen der Weimarer Republik
       verbessert. Schätzungen zufolge fanden damals jährlich bis zu einer Million
       illegale Schwangerschaftsabbrüche durch sogenannte Kurpfuscher oder
       Engelmacherinnen statt – entwürdigende Prozeduren durch Gifte wie Arsen
       oder Zyankali oder mit scharfen Gegenständen, bei denen die Gebärmutter oft
       verletzt oder zerstört wurde.
       
       125.000 Frauen wurden Jahr für Jahr infolge unsicher ausgeführter
       Schwangerschaftsabbrüche in Krankenhäuser eingeliefert, 50.000 starben.
       Zwischen 1919 und 1933 wurden 60.000 Frauen wegen illegaler Abtreibungen
       verurteilt. Heute ist es in den weitaus meisten Fällen möglich, die
       Austragungspflicht zu umgehen: Unter eng gefassten Bedingungen wird auf
       Strafe verzichtet. Dafür muss der Abbruch innerhalb der ersten zwölf Wochen
       nach der Befruchtung stattfinden.
       
       ## Weniger Ärzt:innen bereit zur OP
       
       Die Schwangere muss sich zuvor in einer staatlich anerkannten Stelle
       beraten und anschließend eine Bedenkfrist von drei Tagen verstreichen
       lassen. Grundsätzlich jedoch hat das Übel, gegen das sich in der Weimarer
       Republik zum ersten Mal eine Massenbewegung richtete, bis heute Bestand.
       Den Ärzt:innen, die Abbrüche vornehmen, drohen laut Gesetz noch immer
       Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe – die nur unter
       bestimmten Bedingungen nicht verhängt wird.
       
       Mit der Streichung des Paragrafen 219a wird nur ein kleiner Teil des
       Grundübels gelöst. Denn dass Abbrüche eine „Straftat gegen das Leben“ sind,
       geregelt im Strafgesetzbuch kurz hinter Mord und Totschlag, ist keineswegs
       nur symbolisch, sondern hat konkrete Folgen. Abbrüche finden in der
       Grauzone statt, haben etwas Schmuddeliges an sich, und etwas Bedrohliches.
       Sie kommen in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung kaum vor.
       
       Jahrzehntelang gab es keine medizinische Leitlinie für einen der häufigsten
       Eingriffe in der Gynäkologie, was sich erst jetzt ändern soll. Zudem müssen
       diejengen, die Abbrüche vornehmen, mit Belästigung durch sogenannte
       LebensschützerInnen rechnen. All das bedingt, dass hierzulande [6][nur
       wenige Ärzt:innen bereit sind, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen]:
       Gerade einmal rund 1.200 sind es bundesweit.
       
       Ihre Zahl nimmt weiter ab, denn viele von ihnen stammen aus jener
       Generation, die während der zweiten Welle der Frauenbewegung in den 1970er
       Jahren gegen Paragraf 218 kämpfte – und nun in Rente geht. Die allermeisten
       der mehr als 19.000 praktizierenden Fachärzt:innen für Frauenheilkunde
       und Geburtshilfe in Deutschland nehmen keine Schwangerschaftsabbrüche vor.
       Dabei gehören sie zu den häufigsten Eingriffen in der Gynäkologie.
       
       ## FDP für Leihmutterschaft
       
       Denn zum Leben von Menschen, die schwanger werden können, gehört dazu, dass
       dies mitunter auch ungewollt passiert. In manchen Gegenden müssen ungewollt
       Schwangere bis zu 150 Kilometer für einen Schwangerschaftsabbruch reisen.
       SPD und Grüne forderten in ihren Wahlprogrammen, Schwangerschaftsabbrüche
       aus dem Strafgesetzbuch zu streichen.
       
       Nun regieren sie, aber in den Koalitionsvertrag ist die Forderung nicht
       eingeflossen. Übrig geblieben ist lediglich eine Kommission, die
       entsprechende Regulierungen außerhalb des Strafrechts prüfen soll – und das
       Gleiche mit [7][Leihmutterschaft tun, einem Anliegen der FDP], das wiederum
       die anderen Koalitionspartnerinnen ablehnen. Ein klassisches Patt.
       
       Schon zweimal schickte sich in der Vergangenheit eine Regierung an, die
       Rechtslage zu liberalisieren, zweimal klagte die Union dagegen erfolgreich
       vor dem Bundesverfassungsgericht. Mehr als 25 Jahre lang hat Deutschland
       sich auf dem heute geltenden Kompromiss beim Schwangerschaftsabbruch
       ausgeruht – um den hart errungenen „Rechtsfrieden“ zu wahren, wie es oft
       heißt. Um Verschlechterungen zu vermeiden, so lautet ein anderes Argument.
       
       Doch auf Kompromissen darf man sich nicht ausruhen. Selbst in den USA, wo
       der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen durch ein fundamentales
       Grundsatzurteil des Obersten Gerichts festgeschrieben wurde, ist eben
       dieses Recht gerade akut bedroht. Seit Jahren rütteln rechte, reaktionäre
       und fundamentalistische Kräfte daran – und die Präsidentschaft Donald
       Trumps hat ihnen das gegeben, was sie brauchten: eine Mehrheit am Supreme
       Court.
       
       Schon gerät ins Wanken, was lange als Gewissheit galt: das Recht auf legale
       Abbrüche. Wie viel instabiler ist da eine Regelung, die eben kein Recht
       beinhaltet, sondern allenfalls eine in Ausnahmen erteilte Straffreiheit? Zu
       den international verbrieften Menschenrechten zählen auch reproduktive
       Rechte: Menschen dürfen selbst darüber entscheiden, ob sie Kinder bekommen
       oder nicht, dürfen den Abstand zwischen Geburten selbst bestimmen und
       sollen über alle dafür nötigen Mittel und Informationen verfügen.
       
       ## Selbst bei den Grünen kein Konsens
       
       Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass dazu auch der Zugang zu
       legalen und sicheren Schwangerschaftsabbrüchen gehört. Zu Recht: Noch immer
       sterben jedes Jahr weltweit rund 47.000 Frauen an den Folgen unsicherer,
       oft illegaler Abtreibungen. Auch Deutschland wird regelmäßig von den
       Vereinten Nationen für seinen Umgang mit Abtreibungen gerügt. Der ist
       keineswegs so progressiv wie das Image, das dieses Land sich gern gibt.
       
       Selbst bei SPD und Grünen ist es längst kein Konsens, dass die lange
       überfällige Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen politische
       Priorität hat. Auch in ihren Reihen gibt es Politiker:innen, die an dem
       Kompromiss so gar nicht rütteln wollen. Wieder andere, unter ihnen
       Gesundheitsminister Karl Lauterbach, haben wohl Sympathien für eine Reform.
       
       Doch so wichtig, dass sie dafür hitzige Kontroversen – auch mit den
       Wähler*innen – und letztlich wohl Auseinandersetzungen vor dem
       Bundesverfassungsgericht in Kauf nehmen wollen, ist es vielen dann eben
       nicht. So kommt es ganz gelegen, die Frage in eine Kommission auszulagern:
       Das Thema wird ausgesessen, und am Ende der Legislatur kann man die Schuld
       dafür der FDP zuweisen, die im Gegenzug auf Zugeständnisse bei der
       Leihmutterschaft beharrt habe.
       
       Doch wenn Deutschland Menschenrechte ernst nehmen will, dann wird es Zeit,
       Paragraf 218 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Der Moment dafür ist
       jetzt: Es gibt heute die politisch notwendige Mehrheit. Das könnte sich in
       der nächsten Legislaturperiode schon wieder ändern, sollte die nächste
       Regierung aus Union und Grünen bestehen.
       
       Immer mehr Menschen aus der Zivilgesellschaft wollen es nicht länger
       hinnehmen, dass Frauen bevormundet werden – und dass ihnen der Zugang zu
       grundlegender Gesundheitsversorgung absichtlich erschwert wird. Doch die
       Empörung ist noch viel zu leise. Damit sich in Deutschland etwas ändert,
       muss den verantwortlichen Politiker:innen klar werden: Auch dieses
       Thema ist für die Menschen relevant, wenn sie das nächste Mal an die
       Wahlurnen gehen.
       
       Diejenigen, die für Frauen- und Menschenrechte einstehen, müssen laut
       werden. Sie müssen Petitionen starten, ihre Abgeordneten anschreiben, auf
       die Straße gehen. Ob Irland oder Argentinien: Die Erfahrung lehrt, dass
       Fortschritt kein Selbstläufer ist, sondern durch Druck von unten erkämpft
       werden muss.
       
       19 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Schwangerschaftsabbruch-nach--218/!5751368
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 (DIR) [3] /Kristina-Haenel-ueber-ihr-219a-Urteil/!5745523
 (DIR) [4] https://www.kristinahaenel.de/page_start.php
 (DIR) [5] /Schwerpunkt-Paragraf-219a/!t5480560
 (DIR) [6] https://www.familienplanung.de/schwangerschaftskonflikt/schwangerschaftsabbruch/schwangerschaftsabbruch-praxen-kliniken-einrichtungen/
 (DIR) [7] https://www.fdp.de/forderung/nichtkommerzielle-leihmutterschaft-ermoeglichen
       
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