# taz.de -- Berliner Rettungsdienst in der Krise: „Das ist ein negativer Prozess“
       
       > Notrufe nehmen zu. Der Rettungsdienst muss darauf antworten finden, sagt
       > Notfallmediziner und Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen.
       
 (IMG) Bild: Immer im Einsatz! Hier in Berlin-Kladow
       
       taz: Herr Dahmen, die Berliner Feuerwehr ruft derzeit fast täglich den
       Ausnahmezustand aus. Sie waren selbst bis Oktober 2020 als Oberarzt in der
       Ärztlichen Leitung für den Berliner Rettungsdienst zuständig. Was heißt das
       denn eigentlich, Ausnahmezustand? 
       
       Janosch Dahmen: Der Ausnahmezustand wird immer dann ausgerufen, wenn es
       eine Spitzenbelastung im Rettungsdienst gibt – wenn also zusätzliche
       Rettungsdienstwagen in den Dienst genommen werden müssen, um die große
       Anzahl an Menschen in Not versorgen zu können. Die hohe Frequenz, mit der
       inzwischen in Berlin der Ausnahmezustand ausgerufen wird, zeigt, wie sehr
       das Rettungswesen analog auch der Notaufnahmen insgesamt belastet ist –
       eine Entwicklung, die sich übrigens seit vielen Jahren in allen Großstädten
       als zunehmendes Problem abzeichnet.
       
       Der Dauer-Ausnahmezustand macht also den chronischen Personalmangel
       offensichtlich? 
       
       Ja, das ist ein Teil des Problems. Wir haben die Tendenz, dass die Notrufe
       insgesamt seit Jahren zunehmen: weil die Menschen älter werden, weil sie
       einsamer werden und soziale Netzwerke nicht mehr in dem Maße wie früher zur
       Unterstützung vorhanden sind. Auch chronische Erkrankungen nehmen deutlich
       zu. Insgesamt kann man sagen, mehr Menschen werden häufiger krank und haben
       dabei seltener gute Unterstützung. Hinzukommt die starke Ökonomisierung im
       Gesundheitswesen, Hausbesuche fallen weg, aufwendigere Pflegefälle werden
       lieber ins Krankenhaus verlagert und kranke Menschen werden immer früher
       aus dem Krankenhaus entlassen. Oft ist dann niemand da, der helfen kann,
       wenn es den Menschen doch schlechter geht. Das betrifft übrigens nicht nur
       Berlin, sondern das ist ein Befund aus vielen Metropolen Europas. In Berlin
       kommt hinzu, dass der Anteil an Rettungswagen pro 100.000 Einwohnerinnen
       und Einwohnern deutlich geringer ausfällt als zum Beispiel in Hamburg oder
       Köln. Die Konsequenz: Die Kolleginnen und Kollegen hier sind stärker
       belastet, die Krankheitsquote ist höher. Das ist ein sich verstärkende,
       negativer Prozess.
       
       Ausbilden dauert. Was kann die Politik bis dahin tun? 
       
       Wir müssen kurzfristig mit den zur Verfügung stehenden Personalressourcen
       haushalten und langfristig viel mehr speziell für den Rettungsdienst
       ausbilden. Bei der Berliner Feuerwehr sollten meines Erachtens
       Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Notfallsanitäter:innen-Ausbildung bis
       dahin nur noch im Rettungsdienst eingesetzt werden, und beispielsweise
       nicht mehr auf Löschfahrzeugen zur Brandbekämpfung, wie es heute noch oft
       der Fall ist. Auch müssen wir diejenigen, die über die entsprechende
       Qualifikation verfügen, aber aktuell nicht im Rettungsdienst eingesetzt
       werden, konsequent heranziehen. Dass das Gesundheitswesen nicht nur in der
       Pflege, sondern auch im Rettungsdienst insgesamt stark unter dem
       Fachkräftemangel leidet, muss man natürlich auch sehen. Berlin zahlt ja
       bereits eine Zulage für Notfallsanitäterinnen und -sanitäter. Da sollte das
       Land überlegen, ob sie diese nicht stärker an den tatsächlichen Einsatz im
       Rettungsdienst gekoppelt und insgesamt deutlich ausgeweitet werden kann.
       
       Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) will als Teil eines
       5-Punkte-Plans für den Rettungsdienst auch eine Aufklärungskampagne
       starten: Berliner*innen sollen überlegen, ob es wirklich die 112 sein
       muss oder ob die Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdiensts ausreicht. Ist
       es aus medizinischer Sicht okay, den Menschen dafür die Verantwortung zu
       geben? 
       
       Nein, das halte ich für den falschen Weg. Ich bin sehr besorgt, dass wir in
       der Not des Fachkräftemangels den Patienten suggerieren: Ihr seid Schuld,
       weil ihr zu oft die 112 wählt. Es ist, im Gegenteil, die Aufgabe für die
       Notfallrettung, für die Menschen da zu sein. Dafür gibt es die Leitstelle
       die Feuerwehr, die entscheidet, ist das ein Notfall oder nicht und ihn ja
       bereits heute gegebenenfalls an den ärztlichen Bereitschaftsdienst
       weiterleiten kann.
       
       Es gibt Stimmen in der Feuerwehr, die sagen: Die Organisation der
       Leitstelle ist das Problem. Die Wagen würden zu oft zu Bagatellfällen
       geschickt. Stattdessen wollen die Sanitäterinnen und Sanitäter auf den
       Wagen lieber selbst entscheiden, ob das ein Notfall ist oder nicht. 
       
       Die Leitstelle verwendet eine international-qualitätsgesicherte,
       standardisierte Abfrage für die Notfälle, die reinkommen. Und im Vergleich
       mit anderen europäischen Städten, die dieses Protokoll auch verwenden,
       sehen wir: Die Einstufung, was alles nicht so dringend ist, unterscheidet
       sich hier nicht von anderswo. Die Statistik zeigt sogar, dass seit der
       Einführung des Protokolls mehr Anrufe an den ärztlichen Bereitschaftsdienst
       abgegeben werden als vorher. Dieses Vorgehen ist zwingende Voraussetzung
       für Rechts- und Patient:innensicherheit: Die Vorstellung, man könne aus
       einem Bauchgefühl am Telefon heraus entscheiden, was ein Notfall ist, und
       was nicht – das ist eine unmedizinische, das würde auch kein Arzt aus der
       Notaufnahme so machen. Untersuchungen aus Berlin zeigen sogar, dass der
       Rettungsdienst im Vergleich zu den Notaufnahmen die Schwere einer
       Erkrankung häufig deutlich unterschätzt. Nicht alles was schlimm ist, hört
       sich auch schlimm an oder sieht direkt schlimm aus. Vorsicht ist in der
       Medizin besser als Nachtsicht, dass gilt im Übrigen so auch in der
       Brandbekämpfung.
       
       Ist es aber nicht so: Als Mitarbeiterin in der Leitstelle gehe ich dann
       lieber auf Nummer sicher und schicke den Rettungswagen los, auch wenn es
       nur ein weniger schwerer Fall ist? 
       
       Das wird immer so gesagt, ist aber nicht richtig. Berlin gibt z.B. mehr
       Einsätze ab, als jede andere Großstadt in Deutschland. Pro Tag werden in
       Berlin rund 100 Einsätze an die Kassenärztliche Vereinigung übergeben und
       dort entweder an die telemedizinische Beratung oder den ärztlichen
       Bereitschaftsdienst weiter vermittelt. Diese Zahl ist stetig gestiegen.
       Wobei man sehen muss: Auch Haus- und Fachärzte und vor allem die
       Pflegedienste leiden unter dem Fachkräftemangel. Bis sich da jemand kümmern
       kann, ist der Rettungsdienst im Zweifelsfall in der
       Sicherstellungsverantwortung wenn es ernst wird, das ist Gefahrenabwehr.
       Für die Zukunft ist es deshalb wichtig weitere Angebote direkt an die
       Leitstelle anzubinden: Sozialarbeit, den sozialpsychatrischen Dienst,
       Notfallpflegedienste. Dafür bräuchte es insbesondere eine Reform der
       Notfallversorgung des Rettungswesens auf Bundesebene, was auch gerade
       läuft.
       
       12 Jul 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anna Klöpper
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Medizin
 (DIR) Rettungswagen
 (DIR) Notfallversorgung
 (DIR) Feuerwehr
 (DIR) Gesundheitspolitik
 (DIR) Kolumne Berliner Szenen
 (DIR) Alkoholmissbrauch
 (DIR) Blutspende
 (DIR) Feuerwehr
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Notfallversorgung in Berlin: Rettungsdienst braucht langen Atem
       
       Expertenanhörung im Innenausschuss zur Überlastung des Rettungsdienstes.
       Innensenatorin kündigt Runden Tisch an.
       
 (DIR) Dramatische Lage beim Rettungsdienst: Der Senat übt jetzt Druck aus
       
       Der Rettungsdienst der Feuerwehr befindet sich schon länger im
       Dauerausnahmezustand. Die Senatsverwaltung für Inneres will nun
       durchgreifen.
       
 (DIR) Berliner Szenen: So was gibt’s hier überall
       
       Unsere Autorin bleibt stehen, als sie auf dem Bürgersteig einen stark
       alkoholisierten Menschen liegen sieht. Die Reaktionen anderer verstören
       sie.
       
 (DIR) Pro & Contra: Ist Alkoholverbot eine Schnapsidee?
       
       Innensenatorin Iris Spranger (SPD) hat eine Debatte ausgelöst, weil sie
       nach Ausschreitungen den Alkohol aus Berliner Parks verbannen möchte.
       
 (DIR) Blutspenden in Deutschland werden knapp: Party statt Spende
       
       Ein erhöhter Bedarf an Spenden trifft aktuell auf eine geringe
       Spendenbereitschaft. Niedrigschwellige Angebote müssen dringend her.
       
 (DIR) Dienstpflicht für freiwillige Feuerwehr: „Das allerletzte Mittel“
       
       Freiwillige Feuerwehrleute in Bad Pyrmont haben aus Protest gegen den
       Verfall ihrer Wachen den Dienst quittiert. Jetzt droht die
       Zwangsverpflichtung.