# taz.de -- Pflegende Jugendliche in den USA: Hausaufgaben auf dem Heim-Parkplatz
       
       > Maggie Ornstein pflegt seit 27 Jahren ihre Mutter – keine leichte
       > Aufgabe. In den USA gibt es keine staatliche Pflegeversicherung wie in
       > Deutschland.
       
 (IMG) Bild: Der demenzkranke Herbert Winokur mit Tochter Julie, die mit ihrer Familie umzog, um ihn zu pflegen
       
       NEW YORK taz | Es war ein Aneurysma im Gehirn ihrer Mutter, das auch das
       Leben ihrer Tochter Maggie Ornstein schlagartig veränderte. Damals war
       Ornstein 17 Jahre alt, Schülerin, ihr High-School-Abschluss stand nicht in
       allzu weiter Ferne. Nun lag ihre Mutter Janet im Koma im Krankenhaus. Noch
       monatelang sollte sie bei minimalem Bewusstsein bleiben.
       
       Auf einmal war die 17-Jährige in ihrer Familie die Hauptverantwortliche:
       Ihre Großmutter sei zwar noch recht selbständig gewesen, aber nicht mehr
       viel aus dem Haus gegangen, sagt sie. „Ich war nicht nur für [1][die Pflege
       meiner Mutter] in der Einrichtung zuständig, sondern auch für meine
       Großmutter und den Haushalt.“
       
       Heute ist Maggie Ornstein 44 Jahre alt und pflegt [2][ihre Mutter weiter zu
       Hause]: „Ich mache das jetzt seit 27 Jahren, ich bin also pflegende
       Jugendliche gewesen, pflegende junge Erwachsene, und nun bin ich eine
       erwachsene Pflegende – aber am jungen Ende des Spektrums.“
       
       Sie erinnere sich daran, schon damals über die mangelnden Strukturen
       gedacht zu haben: „Es müsste doch nicht so schwer sein.“ In den USA gibt es
       nach Schätzungen der [3][American Association of Caregiving Youth] (AACY)
       mehr als 5,4 Millionen pflegende Kinder und Jugendliche.
       
       ## In den USA gibt es ein, in UK 300 solcher Projekte
       
       Die jungen Menschen übernehmen die Sorgearbeit für verschiedene
       Familienmitglieder: „Die meisten sind Großeltern, gefolgt von Eltern,
       gefolgt von Geschwistern und von anderen Haushaltsmitgliedern“, sagt Connie
       Sikowski, Gründerin von AACY.
       
       Sikowskis Organisation hilft pflegenden Kindern und Jugendlichen mit einem
       Jugendprojekt, das verschiedene Dienste anbietet – um sie beim Lernen in
       der Schule zu unterstützen oder zu Hause mit Laptops, Schulbedarf sowie der
       Möglichkeit, Hilfe durch Pfleger*innen zu finanzieren.
       
       Sie ist Pionierin. In Großbritannien, wo auch die rechtliche Situation von
       pflegenden Kindern und Jugendlichen eine bessere sei, gebe es zum Beispiel
       etwa 300 solcher Projekte, sagt Sikowski. „Im Moment sind wir in den USA
       die Einzigen.“
       
       Kinder und Jugendliche, die sich um Angehörige kümmern, gibt es überall.
       Doch in den Vereinigten Staaten sind die Härten andere: Eine staatliche
       Pflegeversicherung, ähnlich wie in Deutschland, gibt es nicht. Wer nicht
       privat vorsorgen konnte, dem greift das Gesundheitsfürsorgeprogramm
       Medicaid in einigen Fällen unter die Arme, allerdings müssen
       US-Amerikaner*innen dafür nachweisen, dass sie bedürftig sind.
       
       Ab 65 Jahren können die Betroffenen [4][Medicare] für viele Leistungen in
       Anspruch nehmen, jedoch zahlt das Programm nicht jede Hilfe im Alltag.
       Veteran*innen und ihre Angehörigen bekommen noch einmal andere
       Unterstützung. Die Ornsteins fielen bei vielem durchs Raster: Sie habe als
       junge Pflegende nicht viel Hilfe bekommen, so Maggie Ornstein.
       
       ## Langzeitpflegeeinrichtung sind schreckliche Orte
       
       Mutter Janet Ornstein konnte zwar Unterstützung von Medicaid in Anspruch
       nehmen, war aber erst 49 Jahre alt und damit zu jung, um viele Leistungen
       für ältere Menschen zu bekommen. Ihre Großmutter, die ein Haus im New
       Yorker Stadtteil Queens besaß, wurde nicht als bedürftig genug für Medicaid
       eingestuft, erzählt Maggie Ornstein.
       
       „Ich erinnere mich, gedacht zu haben: Aber was ist mit mir? Ich bekomme
       nichts, weil die eine zwar alt genug ist, aber zu viel Geld hat und die
       andere zwar arm genug, aber zu jung ist.“
       
       Janet Ornstein blieb insgesamt fünf Jahre lang in verschiedenen
       Pflegeeinrichtungen. „Wenn man auf Medicaid angewiesen ist und dann in
       einer Langzeitpflegeeinrichtung ist – obwohl die Regierung so viel dafür
       bezahlt, sind das immer noch ziemlich schreckliche Orte“, sagt Maggie
       Ornstein.
       
       Viele Menschen hätten zudem die Vorstellung, dass die Familienmitglieder
       der Pflegebedürftigen dann entlastet seien – doch auch in diesen Heimen
       übernähmen die Angehörigen viele Arbeiten, wie [5][eine Studie vom Januar
       2022] gezeigt habe.
       
       Diese spricht von Familienmitgliedern als „unsichtbare Arbeitskräfte“ in
       Pflegeeinrichtungen. Auch Maggie Ornstein verbrachte viel Zeit in diesen
       Einrichtungen.
       
       ## Viel Arbeit in der Nacht
       
       Ihre Hausaufgaben machte sie etwa im Auto, wartend auf einen Parkplatz vor
       dem Pflegeheim, in dem ihre Mutter lebte. „Ich erinnere mich auch, dass ich
       im ersten Krankenhaus immer auf einer sehr großen Fensterbank saß und meine
       Hausaufgaben gemacht habe. In den ersten Tagen bestand viel nur daraus,
       einfach dort zu sein, weil meine Mutter nicht bei Bewusstsein war“, sagt
       sie. „Und ich habe viel spät nachts gearbeitet.“
       
       Maggie Ornstein machte ihren Schulabschluss und fand ein nahe gelegenes
       College. Sie hätte gar keinen Job annehmen können zu diesem Zeitpunkt, sagt
       sie. „Man kann nicht einen Job haben und nicht auftauchen, richtig? Wenn
       etwas im Krankenhaus passiert ist, konnte ich dagegen meinen Kurs ausfallen
       lassen und die Lehrer*innen hatten Verständnis.“ Die Schulen könnten die
       Schüler*innen oft nicht ausreichend unterstützen, sagt auch
       AACY-Gründerin Sikowski.
       
       Sie litten unter Personalmangel, viele Lehrende hätten während der Pandemie
       ihren Job aufgegeben. Es komme auch sehr darauf an, wie viel die Schulen
       über die persönliche Situation des Kindes wüssten.“ Es kann sein, dass die
       Kinder für etwas bestraft werden, dass in ihrer Situation genau richtig
       ist“, erklärt sie.
       
       So habe ein Kind einer AACY-Mitarbeiterin erzählt, wegen Verspätung
       Nachsitzen aufgebrummt bekommen zu haben – weil es der Mutter am Morgen
       geholfen hatte und es länger dauerte.
       
       Die Lehrer*innen, mit denen AACY zusammenarbeite, seien sehr unterstützend,
       so Sikowski. Die Organisation hat ihren Sitz in Boca Raton in Florida und
       hat eine formelles Abkommen mit dem örtlichen Schulbezirk von Palm Beach
       County, es ist der zehntgrößte Schuldistrikt der USA.
       
       ## Die Pandemie hat alles erschwert
       
       Wenn die Eltern zustimmen, füllen die Schüler*innen ab der Middle
       School, also mit 11 Jahren, einen Fragebogen der Organisation aus, mit dem
       bestimmt wird, ob und welche Pflegelast sie an Schul- und schulfreien Tagen
       tragen.
       
       AACY arbeitet mit den Kindern, die in ihrer Einstufung die größte
       Pflegelast tragen – sowohl zeitlich als auch, was die Art der Aufgaben
       angeht. In der Regel seien das 25 Stunden pro Woche oder mehr, sagt
       Sikowski.
       
       Manche Aufgaben würden stärker gewichtet als andere: „Kinder, die jemandem
       beim Essen, Waschen, Anziehen oder bei der Mobilität helfen, bekommen in
       unserem Index eine höhere Gewichtung als jemand, der beispielsweise einmal
       pro Woche für die Großeltern einkauft“, erklärt sie.
       
       Die Organisation hat wegen der Zusammenarbeit mit dem Schulbezirk einen
       festen Lehrplan – von der sechsten bis zur zwölften Klasse bietet sie
       Gruppen an, die auch ihre Zukunftsplanung betreffen, in denen sie mögliche
       Karrierewege kennenlernen und von Stipendien erfahren, die ihnen
       offenstehen könnten.
       
       Die Pandemie hat diese Arbeit in vielerlei Hinsicht erschwert. Familien
       hätten aus Angst vor Ansteckung etwa seltener eine häusliche Krankenpflege
       in Anspruch genommen, für die AACY ein kleines Budget habe, sagt Sikowski.
       
       Dementsprechend landete mehr Arbeit bei den pflegenden Kindern und
       Jugendlichen. Das hatte auch Auswirkungen auf die Bildung der
       Schüler*innen, mit denen die Organisation zusammenarbeitet: In vorherigen
       Jahren haben den AACY-Daten zufolge mehr als 90 Prozent von ihnen nach der
       High School im Anschluss eine weiterführende Bildungseinrichtung wie ein
       College besucht.
       
       ## 128 Stunden pro Woche
       
       Ende 2021 waren es nur 75 Prozent – da das Coronavirus so vielen Menschen
       die Jobs genommen habe, hätten viele pflegende Jugendliche arbeiten gehen
       müssen, um ihren Familien finanziell zu helfen.
       
       Maggie Ornstein kämpft heute für bessere Bedingungen für pflegende
       Familienmitglieder und dafür, dass Arbeitskräfte in der häuslichen Pflege
       besser bezahlt werden. Selbst bekommt Ornsteins Mutter derzeit 40 Stunden
       Arbeitskraft gestellt, deren Kosten von Medicaid übernommen werden.
       
       „Wenn ich das so sage, klingt das nach viel Zeit, oder? Aber es sind immer
       noch 128 Stunden die Woche, in denen ich wortwörtlich auf Abruf bin“, sagt
       Ornstein. Ihre Mutter sei nicht selbstständig, da sie starke Probleme mit
       dem Kurzzeitgedächtnis habe. Sie könne zum Beispiel ohne Hilfe essen, aber
       das Essen weder alleine einkaufen noch zubereiten.
       
       „Sie würde sich auch nicht daran erinnern, dass sie essen muss“, sagt
       Ornstein. Generell habe ihre Mutter eine hohe Lebensqualität, da sie und
       ihr Mann sehr in ihrem Leben involviert seien. Ihre Mutter und sie
       verbrächten generell viel Zeit zusammen: „Wir gehen zusammen aus – sie
       liebt Filme, Museen, chinesisches Essen und Eis.“
       
       Ornstein warnt davor, die Belastung nur auf einer individuellen Ebene zu
       sehen, ohne die Strukturen verändern zu wollen:
       
       „Meine Mutter und ihre Behinderung ist nicht das Problem in meinem Leben.
       Das Problem ist, dass es keine Unterstützung dafür gibt.“
       
       28 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Altenpflege/!5835526
 (DIR) [2] /24-Stunden-Pflege-zu-Hause/!5783317
 (DIR) [3] https://aacy.org/
 (DIR) [4] https://www.medicare.gov/coverage/home-health-services
 (DIR) [5] https://www.healthaffairs.org/doi/abs/10.1377/hlthaff.2021.01239
       
       ## AUTOREN
       
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