# taz.de -- Anti-Atom-Radtour: Kein Zurück in die Zukunft
       
       > Auf einer Tour entlang der letzten Atomkraftwerke feiern
       > Umweltschützer den Ausstieg. Von Brokdorf bis Wyhl besuchen sie
       > Schauplätze alter Kämpfe.
       
 (IMG) Bild: Auf der Anti-Atom-Radtour auf dem Weg nach Brokdorf
       
       Udo Buchholz fühlt sich durch die [1][aktuellen Debatten um verlängerte
       AKW-Laufzeiten] an ein schottisches Seeungeheuer erinnert. „Früher wurde in
       den Sommermonaten immer über Nessie oder mysteriöse Kornkreise spekuliert“,
       sagt der Sprecher des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU).
       
       In diesem Jahr werde stattdessen versucht, „längere AKW-Laufzeiten aus der
       Mottenkiste der Nuklear-Geschichte zu holen.“ Es handele sich um eine
       unsachliche Diskussion. Sie blende aus, „dass jeder weitere Tag
       AKW-Laufzeit das Risiko eines Atomunfalls und den Atommüllberg vergrößert“.
       
       Die Diskussion ist aber da, und sie fällt zeitlich zusammen mit der – von
       der Dauer her – längsten Anti-Atom-Demonstration aller Zeiten. Mit zwei
       jeweils mehrwöchigen Radtouren, die durch Deutschland und mehrere
       Nachbarländer führen, wollen Anti-AKW-Bewegte in diesem Sommer die
       bevorstehende Abschaltung der letzten Atomkraftwerke in Deutschland feiern.
       „Dem Ausstieg entgegen“, lautet das Motto der beiden von der
       Anti-Atom-Organisation „.ausgestrahlt“ organisierten Aktion.
       
       Am 9. Juli waren Dutzende Radlerinnen und Radler am belgischen AKW Tihange
       zur sogenannten Nordtour aufgebrochen. Im Block 2 dieses Kraftwerks müssen
       wegen Tausender feiner Risse im Reaktordruckbehälter mehrere Millionen
       Liter Notkühlwasser permanent auf 40 Grad erwärmt werden. Anderenfalls
       könnte bei einem Störfall der Temperaturschock so groß werden, dass der
       Reaktor birst.
       
       ## Überall protestieren Menschen auf dem Rad
       
       Über Aachen – in der „heimlichen Anti-Atom-Hauptstadt“ kickt der örtliche
       Fußballklub Alemannia zugunsten des Widerstands, initiierte der Präsident
       der Städteregion Anti-AKW-Klagen von mehr als 100 Kommunen, demonstrierten
       schon mehrere zehntausend Menschen gegen Atomenergie – und das
       Forschungszentrum Jülich mit seinem Kugelhaufenreaktor radelten die
       Demonstrant:innen nach Keyenberg. Das Dorf soll dem Braunkohletagebau
       Garzweiler weichen.
       
       Als weitere Stationen folgten Krefeld, wo die Stempelkamp Behältertechnik
       GmbH Transport- und Lagerbehälter für radioaktive Stoffe fertigt, das
       Schnelle-Brüter-Grab Kalkar und die Atomkraftstandorte Ahaus, Gronau und
       Lingen. Die Urananreicherungsanlage im westfälischen Gronau und die
       Brennelementefabrik im niedersächsischen Lingen sind bekanntlich vom
       Ausstieg ausgenommen und haben unbefristete Betriebsgenehmigungen.
       
       In Esenshamm an der Unterweser und in Stade ließen sich die
       Radler:innen über die Probleme beim [2][Abriss von Atomkraftwerken]
       informieren. Am Mittwoch vergangener Woche erreichte der Konvoi Bremen. Die
       Stadt zählte über Jahre zu den Hochburgen des Anti-AKW-Widerstands, in
       nahezu jedem Ortsteil war eine Bürgerinitiative aktiv.
       
       ## Das Timing hätte nicht besser sein können
       
       Über das symbolträchtige AKW Brokdorf und über Hamburg, wo am vergangenen
       Sonntag auf dem Altonaer Balkon oberhalb der Elbe eine Protestkundgebung
       gegen die Versuche einer Wiederbelebung nuklearer Kraftwerke stattfand,
       erreichten der Konvoi am Donnerstag das Wendland. Auf der
       Castor-Transportstrecke führt die Route am heutigen Samstag nach Gorleben.
       Das Finale der Nordtour mit Kaffee und Kuchen und Strategiediskussion über
       künftige Proteste ist für heute Nachmittag auf dem Grundstück der
       Widerstandskneipe Gasthaus Wiese in Gedelitz geplant.
       
       „Ein besseres Timing für diese Atomausstiegstour konnte es nicht geben“,
       befindet Wolfgang Ehmke von der Bürgerinitiative Umweltschutz
       Lüchow-Dannenberg mit Blick auf die Debatte um Laufzeitverlängerungen der
       letzten drei Atomkraftwerke. „Die Tour ist eine Gelegenheit, die guten
       Argumente für den Atomausstieg noch einmal zu formulieren und das absehbare
       Ende dieser Epoche jahrzehntelanger Auseinandersetzungen einzufordern.
       Dabei vergessen wir nicht, dass der Atommüll bleibt – eine unglaubliche
       Bürde des Atomzeitalters.“
       
       Das deutsche Atomgesetz schreibt fest, dass die drei noch betriebenen
       Atomkraftwerke Emsland in Niedersachsen, Isar-2 in Bayern und
       Neckarwestheim-2 in Baden-Württemberg spätestens zum Jahresende vom Netz
       gehen müssen. Eigentlich.
       
       ## Forderung zur Verlängerung werden laut
       
       Doch seit ein paar Wochen mehren sich mit Blick auf den Krieg gegen die
       Ukraine und drohende [3][Engpässe bei der Gasversorgung] Forderungen, die
       Laufzeiten der drei Meiler zu verlängern. Zu den maßgeblichen
       Befürworter:innen einer solchen Maßnahme zählen neben vielen anderen der
       CDU-Vorsitzende [4][Friedrich Merz], CSU-Chef Markus Söder, die
       „Wirtschaftsweise“ Veronika Grimm und Leitartikler von Welt und FAZ.
       
       „Für die kommenden Jahre, in denen wir noch nicht ausreichend erneuerbare
       Energien zur Verfügung haben, kann die Verlängerung der Laufzeit der
       Atomkraftwerke etwas Luft verschaffen“, sagt etwa die Ökonomin Grimm. Aus
       Sicht von Merz macht es „keinen Sinn, Kraftwerke abzuschalten, die Strom
       erzeugen und dafür Gaskraftwerke laufen zu lassen, die auch Strom
       erzeugen“.
       
       Das Thema droht auch Zwist in die Ampelkoalition zu tragen. Während sich
       FDP-Chef [5][Christian Lindner] inzwischen mehr oder weniger deutlich für
       längere AKW-Laufzeiten ausspricht, ließ Wirtschaftsminister Robert Habeck
       von den Grünen jetzt mitteilen, er wolle noch einmal nachrechnen, ob ein
       Weiterbetrieb der Atomkraftwerke eventuell doch Sinn machen könnte. Auch
       andere Grünen-Politiker:innen ließen jetzt wissen, über einen
       „Streckbetrieb“ der Meiler über den Winter noch einmal nachdenken zu
       wollen.
       
       Und sind die Klimakrise, die hohen Energiepreise und die Abhängigkeit von
       russischem Gas nicht wirklich gute Gründe für längere Laufzeiten? „Die
       Fakten sprechen dagegen“, sagt Wolfram König, Präsident des Bundesamts für
       die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE).
       
       ## AKWs sind gefährlich und auch keine Lösung
       
       Die drei verbliebenen AKWs steuerten mit rund 6 Prozent nur wenig zur
       gegenwärtigen Stromversorgung bei – und kämen als Erdgasersatz auch gar
       nicht infrage. Gas werde vor allem in der Industrie und zum Wärmen von
       Haushalten eingesetzt, Atomenergie dagegen für die Stromerzeugung. Für
       König leisten sie „keinen wesentlichen Beitrag zur Lösung für die
       Energiebedarfe im nächsten Winter.“
       
       Zudem können Atommeiler anders als Gaskraftwerke nicht flexibel hoch- und
       runtergefahren werden und auch keine [6][Fernwärme produzieren]. „Kommt der
       Gasimport aus Russland zum Erliegen, ist das eine Gaskrise – keine
       Stromkrise“, argumentiert Armin Simon von „.ausgestrahlt“ und erfährt damit
       bei den Teilnehmer:innen der Anti-Atomkraft-Radtour volle Zustimmung.
       
       Einer Recherche von Greenpeace, BUND und anderen Umweltorganisationen
       zufolge sind Deutschland und Europa im Übrigen auch bei der nuklearen
       Brennstoffversorgung [7][von Russland abhängig]: In 2020 habe die EU 20,2
       Prozent ihres Urans aus Russland bezogen, weitere 19,1 Prozent von
       Russlands Verbündetem Kasachstan. In der Europäischen Union ist kein
       Uranbergwerk mehr aktiv, seit die rumänische Crucea-Mine stillgelegt wurde.
       
       ## Umwelthilfe will nun klagen
       
       Die [8][Deutsche Umwelthilfe] kündigte jetzt eine Klage an, wenn die AKWs
       über den 31. Dezember hinaus in Betrieb blieben. „Die Befürworter der
       Laufzeitverlängerung spielen russisches Roulette mit der Sicherheit der
       Menschen“, so der Geschäftsführer der Umwelthilfe, Sascha Müller-Kraenner.
       Die veralteten Anlagen seien ein täglich größer werdendes
       Sicherheitsrisiko, ihr Weiterbetrieb bedrohe das Grundrecht auf Schutz des
       Lebens und der körperlichen Unversehrtheit.
       
       Selbst die AKW-Betreiber RWE, EnBW und Eon sehen längere Laufzeiten sehr
       skeptisch. „Unser Kraftwerk in Emsland ist auf den Auslaufbetrieb zum Ende
       des Jahres ausgerichtet, zu dem Zeitpunkt wird der Brennstoff aufgebraucht
       sein“, erklärte etwa RWE. „Ein Weiterbetrieb über den 31. Dezember hinaus
       wäre mit hohen Hürden technischer als auch genehmigungsrechtlicher Natur
       verbunden.“
       
       Auch EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton schaltete sich in die deutsche
       Nukleardebatte ein: Es sei wichtig die deutschen AKWs laufen zu lassen,
       sagte er und verwies auf sein Heimatland Frankreich, wo noch 56
       Atomkraftwerke am Netz sind. Tatsächlich stehen zurzeit 30 dieser Reaktoren
       still – die meisten wegen Sicherheitsuntersuchungen und Wartungen, andere
       wegen Revisionsarbeiten. Andere mussten die Leistung wegen Hitze und
       niedrige Wasserständen drosseln.
       
       ## Aschaffenburg, Hanau und Frankfurt
       
       Seit Jahresbeginn bezieht Frankreich nahezu täglich Strom aus Deutschland
       in einer Größenordnung von bis 100 Gigawattstunden: die Leistung von drei
       konventionellen oder nuklearen Großkraftwerken. Rechnerisch laufen die
       letzten deutschen Atomkraftwerke also nur noch für den Stromexport ins
       gelobte Atomland Frankreich.
       
       Startpunkt der zweiten Fahrt, der „Südtour“, ist am 13. August Kahl im
       bayerischen Kreis Aschaffenburg. Dort ging Anfang der 1960er Jahre das
       erste kommerzielle Atomkraftwerk der BRD ans Netz. Weiter geht’s nach
       Hanau, zeitweise Europas größte Ansammlung von Nuklearfirmen, und zur
       Frankfurter „Startbahn West“, wo sich in den 1980ern Tausende Demonstranten
       heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten. An der Route liegen
       auch die AKW-Standorte Biblis, Obrigheim, Neckarwestheim, Gundremmingen
       und das Kernforschungszentrum Karlsruhe.
       
       Nach einem Abstecher in die Schweiz und zum französischen AKW Fessenheim
       erreicht die Tour am 2. September das Dorf Wyhl. Das dort geplante AKW
       wurde durch Großkundgebungen, Bauplatzbesetzungen und ein bis dahin
       ungekanntes Bündnis aus örtlichen Winzern, Hausfrauen, Honoratioren und
       Studierenden verhindert. [9][Wyhl gilt als „Wiege der Anti-AKW-Bewegung“].
       Ein familienfreundliches Anti-Atom-Fest in der „Solarhauptstadt“ Freiburg
       beschließt am 3. September die Tour.
       
       30 Jul 2022
       
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