# taz.de -- Die Wahrheit: Genosse für die Ewigkeit
       
       > Besuch bei einem schwierigen Sozialdemokraten, den seine Partei trotz
       > aller Mühen partout nicht loswerden und erst recht nicht hinauswerfen
       > will.
       
 (IMG) Bild: Noch ein nicht leicht aus der SPD zu entfernender Genosse der ersten Stunde: Karl Marx
       
       Joachim Klemm wirkt wie ein gebrochener Mann. Eingesunken sitzt der
       67-jährige Dortmunder auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer und blickt aus dem
       Fenster müde auf den Verkehr in der Brackeler Straße. Äußerlich scheint es
       dem Wirtschaftsingenieur im Ruhestand gut zu gehen: An der Wand prangt ein
       neuer Flachbildfernseher, auf dem quadratischen Glastisch stehen Likör und
       Gebäck bereit. Klemm ist kein Medienprofi, hat journalistische Besucher
       wohl noch nie empfangen. Doch in dem schüchternen Mann rumort eine
       Empörung, die ihm keine Wahl lässt, als den Weg an die Öffentlichkeit zu
       gehen.
       
       „Ich versuche seit 17 Jahren vergeblich, aus der SPD ausgeschlossen zu
       werden!“, bricht es aus Klemm endlich hervor. Auf eine irritierte Nachfrage
       reagiert er mit bitterem Lachen: „Ja, ich weiß, das werde ich immer zuerst
       gefragt, wenn ich jemandem meine Geschichte erzähle: Warum trittst du denn
       nicht einfach aus? Pah! Außenstehende wissen nicht, dass man die SPD gar
       nicht auf eigenen Wunsch verlassen kann. In ihr gilt die gleiche Regel wie
       in der katholischen Kirche oder in der italienischen Mafia: Wer einmal drin
       ist, ist auf Lebenszeit dabei – ob er will oder nicht.“
       
       Kopfschüttelnd fährt er fort: „Ich wurde bei meiner Aufnahme direkt nach
       dem Abitur vom Ortsverbandsvorsitzenden mit einem Glas Dortmunder Union
       Siegel Pils getauft. Ich fand das damals amüsant, nie hätte ich vermutet,
       dass dieser Akt mehr als symbolische Bedeutung haben könnte. Der einzige
       Weg aus der Sozialdemokratie ist die Exkommunikation. Oder wie das hier in
       Dortmund heißt: Ausgenossung.“
       
       Klemm schweift ab und erzählt von seiner langen und entbehrungsreichen
       Parteikarriere. Bis zum stellvertretenden Beauftragten für die
       Hundekotproblematik im Stadtbezirk Brackel habe er es gebracht, dann aber
       resigniert. „Der Konkurrenzkampf, die Intrigen, diese Machtgier – all das
       hat mich immer mehr abgestoßen, bis ich irgendwann nur noch raus wollte“,
       sagt Klemm. „Doch damit bin ich gegen eine Wand gerannt, zuerst vor Ort,
       dann auf Landesebene und am Ende bei der Bundespartei. Man könne für mich
       nicht die Regeln ändern, hieß es überall. Schließlich blieben meine Briefe
       unbeantwortet.“
       
       ## Zorniges Urgestein
       
       Der Zorn des sozialdemokratischen Urgesteins ist noch immer nicht
       verraucht. „Ich habe mir dann 2005 gedacht: Wenn es erlaubt ist, dass
       Gerhard Schröder eine Vertrauensabstimmung absichtlich verliert, dann kann
       ich auch versuchen, mich aus der SPD werfen zu lassen, woll!“
       
       Was Klemm nun erzählt, klingt mehr als sonderbar, fast unglaublich. Gezielt
       sammelte der verhinderte Parteiflüchtling Thesen, die seiner Meinung nach
       den sozialdemokratischen Grundwerten völlig widersprachen – und posaunte
       sie ungefragt bei Parteitagen, an Wahlkampfständen und in
       Bürgerversammlungen in die Öffentlichkeit.
       
       „Ich habe zum Beispiel laut gesagt: Arme Menschen sind arm, weil sie fauler
       und dümmer sind als andere. Oder: Wir müssen die Sozialleistungen des
       Staates kürzen und die Steuern auf Kapitalgewinne senken. Oder: Arbeitslose
       können getrost mit weniger Geld auskommen, eine gesunde Ernährung ist auch
       mit 4,25 Euro am Tag möglich.“
       
       Klemm muss unwillkürlich schmunzeln, während er sich an seine
       Narrenstreiche erinnert. „Aber glauben Sie, ich wäre bei den Genossen auf
       Empörung gestoßen? Sie haben mich nicht rausgeschmissen, sondern meine
       Ansichten als bedenkenswert gepriesen! Von Ausschluss keine Rede!“
       
       Das nächste Kapitel seiner Geschichte ist Joachim Klemm erkennbar
       unangenehm. „Ich schäme mich ein bisschen. Ich habe es dann nämlich mit
       Rassismus probiert. Ich habe verkündet, Türken und Araber seien genetisch
       minderwertig, deshalb für Deutschland nutzlos, weshalb man ihrer Vermehrung
       hier bei uns Einhalt gebieten müsse. Ich habe das auch schriftlich an
       rechte Postillen geschickt, die es prompt abdruckten.“
       
       ## Ratloser Meinungsmacher
       
       Auf die Frage, wie die Sozialdemokraten darauf reagiert hätten, druckst er
       ein wenig herum. „Tja, öffentlich haben Sie gesagt, dass man meine Sorgen
       ernst nehmen müsse. Privat haben Sie mir zugezwinkert und meinten,
       insgeheim sei das auch schon längst ihre Meinung. Das war der Punkt, an dem
       ich nicht mehr weiterwusste. Kurz hatte ich noch den Einfall, mir ein
       Hakenkreuz auf die Stirn tätowieren zu lassen. Aber ich bin mir inzwischen
       nicht mehr sicher, ob das ausreichen würde, um aus der SPD zu fliegen.“
       Nach diesen Worten lassen wir den ratlosen Mann mit ungutem Gefühl zurück.
       
       Anderthalb Wochen nach unserem Besuch dann die überraschende Wendung:
       Morgens um halb sieben Uhr ein Anruf. „Ich habe es geschafft“, brüllt ein
       beinahe rasender Joachim Klemm aus dem Lautsprecher. „Die SPD hat mich
       rausgeschmissen!“
       
       Auf die verschlafene Frage, wie ihm das denn gelungen sei, zittert das
       Glück des lange so verzweifelten Mannes in seiner Stimme: „Ich habe in
       einem Leserbrief an die Ruhr Nachrichten geschrieben, die Lehre von Karl
       Marx könnte möglicherweise doch einige Körner Wahrheit enthalten. Der
       Bundesvorstand der SPD hat daraufhin gestern eine Notfallkonferenz
       einberufen. Auf Antrag der SPD-Ortsgruppe Hamburg-Blankenese hat das
       Bundesschiedsgericht mich in einer Dringlichkeitssitzung um 4:27 Uhr
       einstimmig aus der SPD ausgeschlossen!“
       
       Wir gratulieren Joachim Klemm von Herzen. Wir alle aber müssen wohl das
       falsche Bild, das wir von der SPD haben, ernsthaft korrigieren: Sie lässt
       Menschen, die sich redlich bemühen, am Ende doch Gerechtigkeit widerfahren.
       
       15 Aug 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Bittner
       
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