# taz.de -- Sechs Monate Krieg in der Ukraine: Die Welt ist eine andere
       
       > Erst Blitz-, dann Stellungs-, nun Psychokrieg: Der gewaltsame Konflikt in
       > der Ukraine hat bislang drei Phasen durchlaufen. Der Ausgang? Völlig
       > offen.
       
 (IMG) Bild: Eine angerostete russische Missile Rakete im Zoo von Mykolaiw
       
       BERLIN taz | Die [1][ganze Welt war fassungslos], als in den frühen
       Morgenstunden des 24. Februar [2][Russland die Ukraine überfiel]. Als
       Panzerkolonnen vorstießen und es Raketen hagelte, Russland aber lediglich
       von einer „Spezialoperation“ sprach, geriet das Putin-Regime in die
       Isolation. Bei der Verurteilung des Krieges [3][durch die
       UN-Vollversammlung am 2. März] stellten sich nur Belarus, Eritrea,
       Nordkorea und Syrien, deren Regime ebenfalls auf Gewalt und Lüge gründen,
       auf die Seite Russlands. Die Solidarität mit der Ukraine als Opfer eines
       illegalen Angriffskriegs äußerte sich in einer immensen Solidarität
       angesichts der größten Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg.
       
       Kaum jemand, außer der Ukraine selbst, glaubte da an erfolgreichen
       Widerstand. In Moskau wurde davon ausgegangen, dass Kiew innerhalb von 72
       Stunden fällt und ein Marionettenregime die Ukraine zurück in die
       „russische Welt“ führt. Der Einmarsch war aus Moskauer Sicht kein Krieg
       gegen einen souveränen Staat, sondern eine Polizeiaktion im eigenen
       Hinterhof. Entsprechend waren die russischen Streitkräfte auf reguläre
       Kampfhandlungen mit einer feindlichen Armee unvorbereitet. Die Ukraine
       nutzte dies.
       
       So endete diese erste Phase des Kriegs mit einer russischen Niederlage:
       [4][dem kompletten Rückzug von den Fronten um Kiew und aus dem gesamten
       Norden der Ukraine] Ende März und Anfang April. Lediglich der Süden fiel
       weitgehend kampflos an Russland – [5][mit Ausnahme von Mariupol], um das
       sich die blutigste Schlacht des Kriegs entwickelte, und Mykolajiw, vor
       dessen Toren Russlands Offensive zur Eroberung der ukrainischen
       Schwarzmeerküste zum Stillstand gebracht wurde.
       
       Der Horror von Mariupol, das um den Preis seiner fast kompletten Zerstörung
       erobert wurde, bot einen Vorgeschmack auf die zweite Phase des Kriegs.
       [6][Mitte April startete Russland seine Großoffensive zur kompletten
       Eroberung des Donbass] – also jener Teile, die sich 2014/15 den russisch
       geführten Separatisten entzogen hatten. Jetzt wurde hier ganz regulär Krieg
       geführt, nach sowjetischer Militärdoktrin: massiver Artillerieeinsatz, um
       Feindesland frei zu bomben und dann zu besetzen.
       
       ## Mehrere Hundert Tote am Tag
       
       Während der intensivsten Kämpfe im Juni fielen mehrere Hundert Soldaten auf
       beiden Seiten täglich. In zähem Ringen kämpfte sich Russland meterweise vor
       und [7][machte aus Industriestädten wie Sjewerodonezk Ruinenfelder]. Der
       Widerstand der Ukraine war und blieb hartnäckig.
       
       Dem festgefahrenen Stellungskrieg entsprach eine globale Lagerbildung. „Der
       Westen“ schloss die Reihen mit dem Beginn der [8][Nato-Norderweiterung um
       Schweden und Finnland] und mit dem [9][EU-Beitrittskandidatenstatus für die
       Ukraine] und [10][Moldau]. Auf der Gegenseite umwarb Russland den Globalen
       Süden von Indien über China und Iran bis Südafrika mit seinem Narrativ
       eines Kampfs der Kulturen und Traditionen gegen westliche liberale
       Hegemonie. Die ökonomische Entkoppelung von Ost und West ist seit dem
       Versiegen der russischen Öl- und Gaslieferungen nach Europa
       vorangeschritten.
       
       Diese Blockbildung fand statt unter dem Eindruck der grauenhaften
       Leichenfunde in Kiewer Vorstädten [11][wie Butscha Anfang April] nach
       Russlands Abzug. Für die Ukraine bestätigte dies das Ausmaß des russischen
       Vernichtungswillens. Für Russland war das alles Fake. Verhandlungen, die es
       noch in den ersten Kriegswochen gegeben hatte, brach Russland ab, sie
       wurden nicht wieder aufgenommen.
       
       Inzwischen tritt der Krieg schleichend in eine dritte Phase ein, die die
       zweite ergänzt. An den Fronten bewegt sich seit Juli wenig: Die russische
       Großoffensive im Donbass ist erlahmt, die angekündigte ukrainische
       Gegenoffensive im Süden beschränkt sich auf Nadelstiche. Der Fokus liegt
       auf gegenseitiger Destabilisierung, aus dem Stellungskrieg erwächst ein
       beweglicher Psychokrieg mit dem Ziel der Verunsicherung. Die Ukraine,
       jetzt mit Artillerie größerer Reichweite, zerstört russische
       Militärinfrastruktur weit hinter den Frontlinien, [12][sogar auf der Krim].
       Russland zerbombt ukrainische Städte – wenn man sie schon nicht einnehmen
       kann, dann wenigstens plattmachen.
       
       ## Das Spiel mit den Ängsten
       
       Dieser Tage erreicht der Psychokrieg seinen bisherigen Höhepunkt. Die
       Ukraine vermittelt den Eindruck, als stünde die russische Besatzung im
       Süden kurz vor dem Zusammenbruch; den Russen auf der Krim wird zur
       Evakuierung geraten, solange die Kertschbrücke auf das russische
       Staatsgebiet noch steht. Russland spielt mit Ängsten um die Sicherheit des
       besetzten Atomkraftwerks Saporischschja.
       
       Der Psychokrieg geht über die Kriegsgebiete hinaus. Die Ukraine jagt
       russische Agenten im Sicherheitsapparat. Russland erlebt eine Serie
       mysteriöser Sabotageakte [13][und Todesfälle]. Die Ukraine spekuliert,
       dass Russlands Machtapparat unter dem Gewicht seines militärischen Debakels
       zusammenfällt. Russland vertraut darauf, dass die Ukraine nur durch
       künstliche Beatmung aus dem Westen kampffähig gehalten und das westliche
       Interesse unter dem Eindruck von Gasknappheit und sozialer Unzufriedenheit
       erlahmen wird. Aus Moskauer Perspektive sind die Rücktritte [14][von
       Boris Johnson in Großbritannien] und [15][Mario Draghi in Italien] erste
       Erfolge; man hofft nun auf rechte Siege bei den Wahlen in Italien und denen
       zum US-Kongress.
       
       Der Rest der Welt begegnet dem Krieg mittlerweile mit einer ähnlichen
       Gleichgültigkeit, wie sie auch Europa bei Kriegen in Afrika oder Asien an
       den Tag legt. Es ist nur auf den ersten Blick verwunderlich, dass genau in
       dieser Situation die Stunde der Diplomatie wieder schlägt. Aber die
       Vereinbarungen, die Russland und die Ukraine im Juli mit der Türkei und
       der UNO zur [16][Wiederaufnahme ukrainischer Getreideexporte] über das
       russisch kontrollierte Schwarze Meer trafen, dämmen lediglich einige
       globale Folgen des Kriegs ein. Frieden bringen sie nicht.
       
       Russlands Regierung fällt in der Weltdiplomatie nach wie vor als Partner
       aus, die globale Politik verharrt im Ausnahmezustand. Solange Russland
       diesen Krieg führt, bleibt die Neuordnung der Welt, die dieser Krieg
       erzwungen hat, unvollendet.
       
       24 Aug 2022
       
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