# taz.de -- Vor den Wahlen in Italien: Kalkulierter Einsatz
       
       > Rechtspopulistin Meloni verbreitet ein mutmaßliches Vergewaltigungsvideo.
       > Um das Opfer geht es ihr nicht – sondern um Hetze gegen Migranten.
       
 (IMG) Bild: Giorgia Melona bei Coronaprotesten im Oktober 2020
       
       ROM taz | Sonntag in der Frühe, sechs Uhr. Keine Menschenseele ist auf den
       Straßen von Piacenza unterwegs, einer 100.000-Einwohner-Stadt im Norden
       Italiens. Doch zwei Personen laufen sich über den Weg, eine Frau und ein
       junger Mann. Der fällt über sie her und vergewaltigt sie auf offener
       Straße. Doch er wird gefilmt von einem Anwohner, der zuvor die Polizei
       alarmiert hat.
       
       Wie üblich in Italien findet das Video sofort seinen Weg auf die Websites
       diverser Zeitungen. Auch „Qualitätsmedien“ wie der römische Messaggero
       haben kein Problem mit der Veröffentlichung der Bilder, auf denen zwar
       wegen der Verpixelung nicht viel zu sehen ist – doch die markerschütternden
       Schreie des Opfers sind überdeutlich zu hören.
       
       Für sich genommen wäre das die unschöne Mediennormalität Italiens. Doch die
       Zeiten im Land sind gerade nicht normal. Es steht mitten im Wahlkampf, am
       [1][25. September wird das neue Parlament gewählt]. [2][Giorgia Meloni],
       der Frontfrau des bei den Wahlen klar favorisierten rechten Lagers, ist
       nicht entgangen, was alle Websites sofort gemeldet hatten: Das Opfer soll
       aus der Ukraine stammen, während der mutmaßliche Täter ein Asylbewerber aus
       Guinea sein soll. Und Meloni postet das Video umgehend auf ihrem
       Facebook-Account.
       
       „Man kann nicht schweigen angesichts dieses grausamen Akts sexueller
       Gewalt, begangen am helllichten Tag“, schreibt sie dazu, dann hat sie noch
       „eine Umarmung für das Opfer“ in ihrem Repertoire, vor allem aber das
       Versprechen: „Ich werde alles mir Mögliche tun, um unseren Städten die
       Sicherheit zurückzugeben.“
       
       ## Angriff gegen Linke
       
       „Das von Giorgia Meloni gepostete Vergewaltigungsvideo ist unanständig und
       würdelos“, befand wiederum Enrico Letta, Chef der größten Partei des
       Mitte-links-Lagers, des Partito Democratico, und damit Hauptwidersacher
       Melonis bei den Wahlen. Doch die 45-jährige Vorsitzende der
       postfaschistischen Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) legte nach: Letta
       sei doch derjenige, der „schmutzige Propaganda“ treibe und „Lügen
       verbreitet“, das sei „charakteristisch für die abgewirtschaftete Linke“.
       
       Und dann rückt sie mit ihrer ganz eigenen Wahrheit heraus: [3][Es sei die
       Linke], die „sich der Tatsache stellen muss, dass die öffentliche
       Sicherheit außer Kontrolle ist, auch dank der surrealen
       Einwanderungspolitik der letzten Jahre“. Darum geht es ihr; dafür sind die
       Schreie des Opfers auf dem Video gut, die nur deshalb auf Melonis
       Facebook-Seite zu hören sind, weil der Täter aus Guinea kommt.
       
       Was ihre Linie beim Thema Flucht und Einwanderung ist, hatte sie schon
       einige Tage zuvor auf Facebook mit einer Gegenüberstellung „Wir –
       sie“dargelegt. „Wir“: „Verteidigung der Grenzen, Seeblockade, um den
       Menschenschmuggel und die Toten im Meer zu verhindern.“ „Sie“: Lettas PD,
       „sperrangelweit geöffnete Häfen und Massenanlandungen“ von Migrant*innen.
       
       ## Sicherheit auf Italiens Straßen
       
       Noch vor zwei Wochen dagegen hatte Meloni sich dem internationalen Publikum
       auf Samtpfoten präsentiert: in einer auf Englisch, Französisch und Spanisch
       aufgenommenen Videobotschaft, in der sie dem europäischen Publikum
       versicherte, die Fratelli d’Italia hätten den Faschismus hinter sich
       gelassen, ihn „der Geschichte überantwortet“, sie seien eine fest im
       atlantischen Bündnis und in Europa verankerte Kraft.
       
       Solche Samtpfoten hat sie nun in Boxhandschuhe gesteckt. Ihr ist
       einigermaßen egal, dass jetzt die Bürgermeisterin von Piacenza,
       Journalistenverbände und Frauenvereinigungen gegen die Veröffentlichung des
       Vergewaltigungsvideos auf Medienwebsites ebenso wie auf Melonis
       Facebook-Seite protestieren. Der Skandal sei „nicht das Video, sondern die
       Vergewaltigung“, bemerkt sie trocken.
       
       Dass der vorgebliche Sicherheitsnotstand in den Städten eine pure Erfindung
       ist, ficht sie, ficht die gesamte italienische Rechte in ihrem Wahlkampf
       nicht weiter an. Am 15. August veröffentlichte das Innenministerium die
       neuen Kriminalitätsstatistiken für den Zeitraum August 2021 bis Juli 2022:
       erneut weniger Morde, weniger Raube. Die Zahlen bilden einen nunmehr seit
       drei Jahrzehnten anhaltenden Trend von immer größerer Sicherheit auf
       Italiens Straßen ab. Doch Meloni hält das nicht davon ab, Tag für Tag mit
       dem Schreckgespenst des kriminellen Ausländers Wahlkampf zu machen, mit
       Lügen und „surrealen“ Texten, um ihre Worte aufzugreifen. Am 19. August
       postete sie ein weiteres Video, worin sie aus dem Off behauptet, man sehe
       dort „eine Gruppe von Immigranten, die Panik verbreiten und die Passanten
       verschrecken“. Die Bilder allerdings zeigen etwas völlig anderes: die recht
       ruppige Festnahme eines Afrikaners durch vier Polizisten, ohne dass auch
       nur einer aus der „Gruppe der Immigranten“ mehr täte, als den Vorfall zu
       filmen.
       
       23 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Vor-den-Wahlen-in-Italien/!5872786
 (DIR) [2] /Italienische-Politikerin-Giorgia-Meloni/!5870739
 (DIR) [3] /Italiens-zerruettete-Linke/!5870388
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Braun
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Italien
 (DIR) italienische Parlamentswahlen
 (DIR) Faschismus
 (DIR) Giorgia Meloni
 (DIR) Giorgia Meloni
 (DIR) Kolumne Subtext
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Ukraine
 (DIR) Italien
 (DIR) Italien
 (DIR) Italien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Giorgia Meloni als Mutter der Nation: Girl Boss Fascism
       
       Frauen in rechten Parteien sollen menschenverachtenden Ideologien ein
       menschelndes Antlitz verleihen. Die Strategie funktioniert hervorragend.
       
 (DIR) Italiens Rechte gegen Kinderserie: Was Faschisten nervös macht
       
       Vor den Wahlen in Italien sind sogar Kinderserien hochpolitisch. Dass bei
       „Peppa Pig“ homosexuelle Elternfiguren auftreten, verkraften manche nicht.
       
 (DIR) Vor den Parlamentswahlen in Italien: Die nette Nazisse
       
       Mit dem Star Giorgia Meloni könnte die rechtsradikale italienische Partei
       Fratelli d’Italia zur stärksten in der Regierung werden. Wie schafft sie
       das?
       
 (DIR) Sechs Monate Krieg in der Ukraine: Die Welt ist eine andere
       
       Erst Blitz-, dann Stellungs-, nun Psychokrieg: Der gewaltsame Konflikt in
       der Ukraine hat bislang drei Phasen durchlaufen. Der Ausgang? Völlig offen.
       
 (DIR) Italienische Politikerin Giorgia Meloni: Die Postfaschistin
       
       Giorgia Meloni könnte bald Ministerpräsidentin Italiens werden. In einer
       Videobotschaft wendet sich die Rechtsnationale versöhnlich an die EU.
       
 (DIR) Italiens zerrüttete Linke: Einigkeit erst in der Opposition
       
       Statt sich gegen die Allianz der Rechten zu sammeln, werden sich Italiens
       Mitte-links-Kräfte bald in der Opposition treffen. Geeint in
       Machtlosigkeit.
       
 (DIR) Vor den Wahlen in Italien: Mitte-Links-Allianz zerlegt sich
       
       Das gerade entstandene Bündnis zerbricht mit dem Ausstieg der Mitte-Partei
       Azione schon wieder. Das rechte Lager hat beste Aussichten auf einen Sieg.