# taz.de -- Debütalbum von Folkpop-Duo Jockstrap: Monster in goldenem Sternenstaub
       
       > Das Londoner Folkpop-Duo Jockstrap hat das Debütalbum „I Love You
       > Jennifer B“ veröffentlicht. Es ist exzentrisch und subtil.
       
 (IMG) Bild: Tauchen können sie auch: Georgia Ellery und Taylor Skye sind Jockstrap
       
       Ist Überdruss Leiden im Luxus? – Nein, eher ist es die Erfahrung eines
       Mangels. Ein aufrichtiges Empfinden, wenn man denn eine Ahnung hat, woran
       es eigentlich fehlt. Wie etwa waren diese Musikerfahrungen jenseits von
       nett oder interessant, jene, die als Weckruf erklangen, die verblüfften und
       bewegten? Wir finden sie auf dem Grabbeltisch, abgelöst von selbstgerechtem
       Mittelmaß oder Kopien des Gestern.
       
       Es ist längst Zeit für einen Bruch, für Musik, die funkelt und verwirrt.
       Wie könnte sie sein? Stile missachtend, würde sie mit den Scherben des
       Gestern spielen und mit allem, was Grabbeltische heute so bieten, sich (ins
       Deutsche übersetzt) vielleicht „Suspensorium“ nennen und ihren Pop in einer
       mit Stickern selbst zu beklebenden Hülle anbieten.
       
       Aber wer sollte diese Musik erfinden? Allein die Vielfalt ihrer
       musikalischen Aktivitäten erweckt bei uns die Vorstellung von der
       britischen Künstlerin Georgia Ellery als eine Suchende. Mit den Contours
       macht sie Coffeehouse-Folk. Mit dem Happy Beigel Klezmer Orkester macht
       sie, was der Name verspricht. Und mit Nervous Conditions sucht sie auf den
       Füßen des Postpunk-Revivals nach dem Neuen im Alten.
       
       Auf ähnlicher musikalischer Konzeption beruht der Erfolg von der Band
       [1][Black Country, New Road], in der Ellery Violine spielt. Die Irrwege von
       Charles Dickens’ Charakteren durch die eruptiven Soundlandschaften der Band
       illustrieren mehr das hilflose Verzagen junger Menschen als die Befreiung
       vom Überdruss in einer vorgeprägten und entleerten Welt.
       
       ## Stille Agenten der kulturellen Ödnis
       
       Anderswo predigen Stimmen den Verzicht als Rettung, sinken wir lieber ein,
       in jene Musik, die Verzicht als stillen Agenten der kulturellen Ödnis
       entlarvt. Bislang hatten Georgia Ellery und Taylor Skye in den wenigen
       Songs ihres Duoprojekts Jockstrap einen Bogen zwischen Koketterie und
       Abscheu gespannt, aber wohin will diese Musik? „I Love You Jennifer B“, das
       ersehnte Debütalbum der beiden Mittzwanziger, muss nun die Richtung weisen.
       
       Just als wir uns während der ersten Takte fragen: „Ist es wirklich dieser,
       von digitalen Klängen akzentuierte, folkige Singer-Songwriter-Pop?“,
       animiert ein subtil exzentrischer Schlenker in Ellerys Gesangsmelodie eine
       wimmelnde Horde flammend roter Videospielmonster. Überrannt von ihren
       Tönen, sucht die durch Neonfarben taumelnde Musik einen Halt, den sie
       kurzzeitig in einer tragisch, hymnischen Coda findet.
       
       Alsbald hüpfen neue Monster, nun topasblau schillernd, durch das
       Titelstück, Streicher gestalten dort die Idee eines aus einem Dance-Track
       sprießenden Songs, der, von einem Breakbeat getragen, zur Huldigung der
       Jennifer B. erblüht, bis sich Skye als grantelnder Alter in Pantoffeln
       einmischt – Slapstick mitten im Stück. Passend dazu, bemächtigt sich ein
       Hauch von Timbalands und Timberlakes „Sexy Back“ der Songidee. Die
       schlussendliche Synthese lässt einen zweifelnd zurück: Ist Jennifer B.
       außerweltlich oder ging etwas gründlich schief?
       
       Der Refrain des darauffolgenden, lakonisch „Greatest Hits“ betitelten Songs
       streut Glitter auf unser fragendes Gesicht. Von nun an erscheinen die
       kleinen Monster als goldener Sternenstaub. Georgia Ellerys lebhafter Sopran
       atmet Sehnsucht. Versonnen in nächtlicher Eleganz, finden Jockstrap, fast
       über sich selbst erstaunt, Platz an der Seite von vergessenen
       Art-déco-Werken der Glam Ära, wie David Werners „Imagination Quota“, das
       Debütalben von Metro und Rita-Jean Bodine oder Libby Titus’ zweiter LP.
       
       ## Schnipsel aus den Pop-Analen
       
       Das britische Duo reißt zudem Schnipsel aus den Annalen manch kläglich
       gescheiterter Träume der 1990er – Brit-Pop, TripHop, Retro-Disco – und
       erspäht in Norman Cooks „Funk Soul Brother“ einen Vorboten des Überdrusses.
       Jockstrap-Sound trägt uns staunend über ungestüm mutierenden Müll aus der
       Tiktok- und Instagram-Videovertonungspalette, gebändigt von einem
       kompositorischen Talent, das [2][Harry Styles]’, Beyoncés und Taylor Swifts
       jeweiligen Profisongwritern abgeht.
       
       Wo deren Opportunismus dem Lebendigen entsagt, verfolgen wir den Weg von
       gebrochenen Herzen durch Affären, Enttäuschungen und Hoffnungen. Obwohl
       Jockstrap suggerieren, jedem Stil zu entsagen, stürzen sie uns in die
       waghalsigsten Szenarien. Zittriger Hand raucht man 1974 auf einem
       samtgepolsterten Sofa in Los Angeles zusammen mit Toni Basil und dem von
       Soul-Musik und Koks erfüllten, seinem neuen Ich harrenden Bowie der
       „Gouster“-Tage, nur um im Finale tatsächlich als „Young American“ unserer
       Zeit in das Nachtleben einzutauchen. Ihr Album ist ein Cut-up-Spektakel,
       gleich der kondensierten Erfahrung eines frühen Clubabends, noch mit der
       Frage im Sinn: Wird er oder sie mich mögen?
       
       40 Jahre nach dem legendenumzuckerten Popjahr 1982 wagen sich mit Jockstrap
       zwei Absolventen der Londoner Guildhall School of Music & Drama so weit
       heraus, wie einst nur zornig-visionäre Streetkids. „I Love You Jennifer B“
       ist zwar kein „Lexicon of Love“, wie es einst die Band ABC vertonte, aber
       ein „Lexicon of Unfullfilled Desires“, das klingende Handbuch der 15- bis
       35-Jährigen? Ein Aufbruch vielleicht? – Das beste Album seit Ewigkeiten.
       
       10 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
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