# taz.de -- Unterwegs in der Ukraine: Eine Zeitreise zur Front
       
       > Es ist nicht lange her, da tobten nahe Kiew die erbittertsten Kämpfe.
       > Unser Korrespondent wurde zu den Schauplätzen eingeladen – mit klarem
       > Ziel.
       
 (IMG) Bild: Borodjanka im Dezember
       
       BORODJANKA, BUTSCHA, GOSTOMEL UND IRPEN taz | Der Donbass und die Front
       sind weit, denkt man in Kiew. Man meint mit dem Risiko gelegentlicher
       Einschläge leben zu können und scheint vergessen zu haben, wie nahe die
       Front im Februar und März hier noch war. Eine Tagestour durch vier Orte im
       Raum Kiew macht dies erschaudernd deutlich.
       
       Eine Familie steht vor ihrem Haus, stellt sich auf für ein Foto. Alle
       lächeln, und der Mann mit dem Handy in der Hand drückt auf die Taste. Die
       Gruppe lächelt, niemand will, dass irgendwann mal jemand auf die Idee
       kommen könnte, dass man sich noch kurz davor gestritten hatte. Denn dass
       das Foto von familienhistorischer Bedeutung ist, ist allen Beteiligten
       klar. Das Bild wird diese Familie begleiten, wird sie unglücklich machen,
       hält doch das Foto ihr Unglück für immer fest. Das Unglück ist der
       Hintergrund. Das über zehnstöckige Haus, vor dem die Familie steht, ist
       kein Haus mehr. [1][Schwarze Krater scheinen den Betrachter anzuschreien,
       ihn zu fragen, ob er denn kapiert hat, was los ist].
       
       „Früher war das mal ein Haus“, sagt ein Anwohner. „Die russische Luftwaffe
       hat das Haus in der Mitte gespalten. Jetzt kann man auf die Parallelstraße
       sehen.“
       
       Der Ort, in dem sich diese Szene abspielte, ist gerade mal eine halbe
       Autostunde von Kiew entfernt. Borodjanka heißt er, war bis vor einem Jahr
       noch Naherholungsgebiet für gestresste BewohnerInnen von Kiew. Und das
       Einzige, was diese Familie noch an Besitz hat, ist wahrscheinlich das Auto,
       mit dem sie gekommen ist. Die Szene ist gespenstisch, und mir ist es
       peinlich, dass ich ungewollt Zeuge geworden bin von diesem intimen Foto. Zu
       fragen, ob ich sie auch fotografieren darf, traue ich mich nicht.
       
       ## Das Leid von Butscha
       
       Borodjanka ist wohl der Ort im Gebiet Kiew, dessen Gebäude am meisten
       Schaden genommen haben durch die russischen Angreifer. Auch von der
       russischen Luftwaffe ist Borodjanka im Februar und März bombardiert worden.
       Dabei habe der Ort vor einigen Wochen noch wüster ausgesehen, sagt ein
       Anwohner. Doch man arbeite fieberhaft am Wiederaufbau. Gebäude, die sich
       nicht mehr renovieren lassen, seien schon gänzlich abgerissen worden.
       
       Auf den ersten Blick sieht der Nachbarort Butscha besser aus als
       Borodjanka. Kiefern mitten in der Stadt geben dem Besucher das Gefühl, dass
       der Wald die Stadt zurückerobere. Doch Butscha hat, wie kaum eine andere
       Stadt, erheblich unter der russischen Besatzung in den ersten Wochen des
       Krieges gelitten. „Die Russen haben ihre Wut über ihre militärische
       Niederlage an der Bevölkerung ausgelassen“, berichtet ein Anwohner. Er
       befindet sich gerade auf der „Apfelstraße“. Und gerade hier hatten die
       Besatzer besonders gewütet.
       
       „Sie durchkämmten Häuser und Keller auf der Suche nach jungen Männern. Und
       junge Männer, die in olivgrüner Kleidung oder mit ukrainischer Symbolik
       angetroffen wurden, wurden sofort erschossen.“ Als eine der Ersten hatte
       Amnesty International die Folterungen, Vergewaltigungen und Morde von
       Butscha dokumentiert.
       
       Und dass die Russen hier vor den Toren von Kiew eine militärische
       Niederlage erlitten hatten, ist inzwischen eindeutig. „Gerade einmal für
       eine Woche haben die Russen Verpflegung, Munition und Benzin dabei“,
       berichtet Jan, Tourguide von „Visit Ukraine“. Die Firma hat die Tour durch
       die vier Orte organisiert. Die Russen seien sicher gewesen, dass sie in
       einer Woche bis ins Zentrum der ukrainischen Hauptstadt vordringen können.
       Doch acht Kilometer vor der Stadtgrenze von Kiew war Schicht für die
       Angreifer.
       
       Die Niederlage hat einen Namen: [2][Es sind der Ort Irpen und der
       gleichnamige Fluss.] Stalin habe in den 30er Jahren am Fluss Irpen
       Befestigungsanlagen bauen lassen. Und die seien so effektiv gewesen, dass
       die deutsche Wehrmacht sich schon damals eine andere Stelle für ihren
       Einmarsch nach Kiew hatte suchen müssen. Außerdem hätte die ukrainische
       Seite im Februar dieses Jahres rechtzeitig die Sümpfe des Irpen geflutet
       und die Brücken nach Kiew zerstört. Die Angreifer seien so zur Umkehr
       gezwungen worden.
       
       ## Die Orte galten als Naherholungsgebiet für Kiewer
       
       Die Straße von Kiew nach Irpen ist gut ausgebaut. Ein geteerter Fahrradweg
       abseits der Straße machte Irpen auch für Kurzausflüge attraktiv. Und über
       diese Straße waren die Menschen Ende Februar, Anfang März nach Kiew
       geflohen. Seitdem heißt diese Straße im Volksmund „Straße des Lebens“.
       
       „Ich war in diesen Tagen an der Brücke am Stadtrand von Irpen“, berichtet
       ein Anwohner. Und in 20 Minuten seien er und die anderen Menschen an der
       Brücke zweimal aus der Luft angegriffen worden. Bei einem dieser Angriffe
       seien auch mehrere Mitglieder einer Familie ums Leben gekommen.
       
       Sofort am Morgen des 24. Februar war Gostomel vom Krieg erfasst worden. Die
       Angreifer wollten sich des Flughafens der Stadt bemächtigen. „Ich bin am
       Morgen des 24. Februar vom Gefechtslärm geweckt worden“, berichtet Olga,
       Ernährungsberaterin aus Gostomel, die nur wenige Stunden später ihre Koffer
       packte und nach Polen floh. Sie hat Glück gehabt. Auch in Gostomel wurden
       Einheimische misshandelt, vergewaltigt und ermordet.
       
       Butscha, Gostomel, Borodjanka und Irpen galten vor dem Krieg wegen ihrer
       Schönheit und Ruhe als Naherholungsgebiet. Im Flüsschen Irpen konnte man
       schwimmen, an eigenen Grillplätzen sein Essen zubereiten, sich an der
       mobilen Theke ein Bier holen.
       
       Wer es sich leisten konnte, kaufte sich in diesen Orten eine Wohnung.
       „Eigentlich könnte man nach dem Krieg den innerukrainischen Tourismus in
       diese Orte wiederbeleben“, sinniert ein Anwohner. „Doch wer will jetzt noch
       in Butscha, Irpen oder Gostomel Urlaub machen?“
       
       ## Das Ziel der Reiseveranstalter
       
       „Wir organisieren diese Touren in befreite Ortschaften in der Umgebung von
       Kiew, weil wir der ganzen Welt zeigen wollen, wie nahe der Krieg ist“,
       erklärte Anton Taranenko, Chef von „Visit Ukraine“, gegenüber der taz. „Wir
       wollten zeigen, dass die russischen Okkupanten viele Bewohner, die zuvor
       ruhig ihr Leben leben konnten, in Angst und Schrecken versetzt hatten“. Und
       man werde alle Gelder, die mit diesen Touren erwirtschaftet werden, Opfern
       dieser Aggression zugutekommen lassen.
       
       In den letzten drei Monaten habe man so 40 Personen aus den USA,
       Deutschland, den Niederlanden, der Ukraine, Frankreich, Großbritannien,
       Kanada und Spanien darstellen können, wie das Leben heute in den ehemals
       besetzten Gebieten um Kiew aussieht.
       
       Und Tourguide Jan erklärt seine Motivation für die Zusammenarbeit mit
       diesem Projekt so: „Erst nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz diese Orte hier
       besucht hatte, war es zu Ende mit der Zögerlichkeit bei der Unterstützung
       Deutschlands für die Ukraine. Sobald die Politiker, Journalisten und andere
       sehen, was hier wirklich abgeht, können sie nicht mehr so einfach Hilfe für
       die Ukraine ablehnen. Von der Ferne sieht eben alles anders aus, als wie es
       wirklich ist.“
       
       21 Dec 2022
       
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