# taz.de -- Auftauende Permafrostböden: „Ein gewaltiger Unterschied“
       
       > Auf der Nordhalbkugel taut der Klimawandel Böden auf, die eigentlich
       > dauergefroren sind. Forscher:innen untersuchen, was der Verlust
       > bedeutet.
       
 (IMG) Bild: Die Klimastation am Bayelv
       
       BERLIN taz | Es sieht aus wie in einem Coronalabor: Zwei Menschen, dick
       eingepackt in Schutzkleidung, werkeln an einem Tisch mit Pipetten und
       Petrischalen. Durch ein Fenster beobachtet Moritz Langer das Treiben. Der
       promovierte Geograf trägt einen grauen Strickpulli, Kurzhaarschnitt und ein
       Lächeln auf den Lippen. „Anders als bei Corona schützt hier die Vollmontur
       die Probe vor dem Menschen, nicht umgekehrt“, sagt Langer.
       
       Die Probe, das ist ein Bohrkern, dessen Inhaltsstoffe ermittelt werden
       sollen: „Der stammt aus dem Norden Kanadas, dort, wo es so kalt ist, dass
       die tieferen Bodenschichten niemals auftauen“, erklärt Langer. Eine der
       Personen im Labor greift zur Säge. „Jetzt wird der Kern geschlachtet“,
       kommentiert der Forscher vom Alfred-Wegener-Institut in Potsdam das
       Geschehen. Schlachten sei das Zerlegen des Bohrkerns in einzelne Proben.
       Diese untersuche man anschließend genauer.
       
       Etwa 15 Prozent der Landfläche auf der Nordhalbkugel ist permanent
       gefroren. Das sind über 21 Millionen Quadratkilometer in Alaska,
       Nordkanada, Nordskandinavien und Sibirien. Der Permafrost wirkt wie eine
       riesige Tiefkühltruhe, in der gigantische Mengen abgestorbener
       Pflanzenreste eingefroren sind.
       
       Taut aber das Eis, zersetzen Mikroben die Pflanzenreste und setzen dabei
       Treibhausgase wie Methan, Lachgas oder Kohlendioxid frei. Allein im oberen
       Bereich der Permafrostböden stecken bis zu [1][1.600 Milliarden Tonnen
       Kohlenstoff] – also fast doppelt so viel, wie sich derzeit in der
       Erdatmosphäre befindet.
       
       ## Tauende Permafrostböden haben Dominoeffekt
       
       Je mehr Permafrost auftaut, desto mehr Treibhausgase gelangen in die
       Atmosphäre. Das führt zu höheren Temperaturen. Wegen der Hitze taut
       wiederum mehr Permafrost auf. Es ist ein sich selbst verstärkender Effekt,
       [2][ein Teufelskreis des Klimawandels].
       
       Der setzt dem Permafrostboden schon heute ordentlich zu. „Im Vergleich zur
       vorindustriellen Zeit ist die Grenze in einigen Regionen schon über mehrere
       Hundert Kilometer Richtung Norden gewandert“, sagt Langer. Das heißt, dass
       der darunter versteckte Kohlenstoff sich bereits zersetzt.
       
       Der 42-Jährige kennt die Auswirkungen des Tauens nicht nur aus dem Labor.
       Langer reiste für die Forschung zum Beispiel schon in das über 5.000
       Kilometer entfernte Tiksi, das in der autonomen Republik Sacha in Russland
       liegt.
       
       „In Sibirien wurden die Häuser direkt auf die gefrorene Erde gebaut. Durch
       das Tauen brechen sie jetzt förmlich auseinander“, sagt Langer. Doch nicht
       nur Häuser, sondern auch Straßen, Pipelines, Bohrinseln und Tanks für
       Treibstoff sind in Gefahr. Langer: „Wir untersuchen, ab welchem Punkt es
       kritisch wird.“
       
       ## Viele neue Treibhausgase in der Atmosphäre
       
       Dafür nutzt sein Team Messdaten [3][aus den Permafrostgebieten]. Acht
       Wissenschaftler:innen arbeiten in der Forschungsgruppe „Permarisk“,
       deren Büro auf dem Telegrafenberg in Potsdam liegt. In fast jedem Zimmer
       liegen hier verschlossene Taschen mit dem Hinweis „persönliche
       Ausrüstungsgegenstände“ und Polarkleidung.
       
       „Wir entwickeln physikalische Modelle, die das Auftauen des Permafrostes
       und die Veränderungen in der Landschaft abbilden“, sagt Langer. Um die
       Modelle mit eigenen Daten zu füttern, reise die Forschungsgruppe aber auch
       selbst in die Permafrostgebiete wie das russische Tiksi.
       
       Anfang 2022 kam [4][eine Studie] zu dem Ergebnis, dass der Permafrost in
       Skandinavien bereits in den 2040er Jahren verschwindet. Davor ging man
       davon aus, dass Permafrost [5][zu Skandinavien gehört wie Fjorde] und
       Norwegerpullover. „Das heißt zwar nicht, dass Permafrost in Europa dann gar
       nicht mehr vorkommt“, sagt Langer, denn es könne sehr tief im Boden doch
       noch ein Restchen Permafrost geben. Es zeige aber, wie dramatisch die
       Entwicklung sein werde. Denn kein Permafrost mehr bedeutet: „Es entsteht
       eine zusätzliche Treibhausfracht.“
       
       Damit meint der Forscher, dass das Auftauen der Permafrostböden für viele
       neue Treibhausgase in der Atmosphäre sorgt. Bis Ende des Jahrhunderts
       könnten allein dadurch mindestens 0,1 Grad Erderwärmung zum
       menschengemachten Klimawandel hinzukommen. Wenn kein Klimaschutz betrieben
       wird, sogar 0,3 Grad, meint Langer. Und: „Hört sich wenig an, macht aber
       einen gewaltigen Unterschied.“
       
       ## Treibhausgase und Viren eingeschlossen
       
       Eine der großen noch unbeantworteten Fragen zum Permafrost ist, wie viele
       der Treibhausgase, die in der gefrorenen Erde stecken, tatsächlich auch
       frei werden. Deswegen auch die Laborversuche. Dort simulieren die
       Wissenschaftler:innen das Auftauen. Sie möchten verstehen, welche
       Prozesse dabei ablaufen.
       
       „Wie viele Teile Methan entstehen dabei, und wie viel Kohlendioxid“, fragt
       sich etwa Langer. Das sei wichtig, denn [6][Methan erhitze die Erde]
       stärker als Kohlendioxid. „Der Unterschied im Erwärmungspotential liegt bei
       dem Faktor 24“, erklärt Langer. Bedeutet: Methan trägt vierundzwanzig Mal
       so stark zum Treibhauseffekt bei.
       
       Im Permafrost sind nicht nur Treibhausgase eingeschlossen, sondern auch
       sogenannte Pandoraviren. 2015 gelang es einem französischen Team,
       [7][30.000 Jahre alte Exemplare der Viren], die in der Wissenschaft als
       Nucleocytoviricota bekannt sind, aus dem Eis zu bergen und im Labor zu
       erwecken. Nur ein Jahr später zeigte sich, wie wichtig das war. Im Juli
       2016 kletterten die Temperaturen am Polarkreis auf bis zu 35 Grad Celsius.
       Plötzlich erkrankten Menschen an Milzbrand, einer hochansteckenden
       Krankheit, die in Sibirien seit 1941 als ausgerottet galt.
       
       Russische Experten gehen davon aus, dass Sporen des Bacillus anthracis
       jahrzehntelang gefroren in vergrabenen Rentierkadavern überlebten, nun aber
       durch die ungewöhnlich hohen Temperaturen „erweckt“ wurden. Eine Epidemie
       konnte verhindert werden, weil die dünn besiedelte Region schnell
       abgeriegelt wurde und die Behörden mehr als 40.000 Rentiere impften. So
       gelang es, den Übertragungsweg vom Tier zum Mensch zu kappen.
       
       Moritz Langer glaubt jedoch nicht, dass durch Viren oder [8][andere
       Krankheitserreger im Permafrost] neue Probleme für die Menschheit
       entstehen. Das Milzbrandbakterium sei „in großen Rentierherden schon immer
       ein Problem gewesen“, sagt der Forscher. Die notgeschlachteten Tiere habe
       man häufig im Permafrost vergraben. Normalerweise sei aber allen vor Ort
       bekannt, wo die verseuchten Kadaver begraben seien. Deshalb schätzt Langer
       die neue Gefahr durch Milzbrand als kontrollierbar ein – ganz im Gegensatz
       zu der, die durch den Klimawandel entsteht.
       
       15 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://agupubs.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1029/2008GB003327
 (DIR) [2] /Klimaforscherin-ueber-Kipppunkte/!5904202
 (DIR) [3] /Permafrostboeden-tauen-auf/!5898206
 (DIR) [4] https://www.nature.com/articles/s41558-022-01296-7
 (DIR) [5] /Geplanter-Rutilabbau-in-Norwegen/!5836555
 (DIR) [6] /Forschung-zu-Methan/!5901590
 (DIR) [7] https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.1510795112
 (DIR) [8] /Bilanz-des-arktischen-Sommers/!5712903
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nick Reimer
       
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