# taz.de -- Konzert von Aida Shirazi in Berlin: Der Schatten der Gewalt
       
       > Prozesse der Natur haben die iranische Komponistin Aida Shirazi
       > inspiriert. Doch in ihrem Konzert in Berlin ging es auch um die
       > Revolution in Iran.
       
 (IMG) Bild: Aida Shirazi bei ihrem Konzert im Radialsystem
       
       So klingt die Katastrophe: „Revolution kills. Revolution births (…) Let the
       enemy know the end lurks under the throbbing sea of blood“, krächzt eine
       verzerrte Stimme aus dem Off. Vor einem Laptop und einem Mischpult sitzt
       eine schmale Frau mit dichten kurzen Haaren und schwarzer Kleidung.
       
       Mit konzentriertem Blick und schnellen Handbewegungen füllt sie den dunklen
       Raum mit dumpfem Dröhnen und Sirren. Das klingt wie fernes Donnergrollen
       oder ein nahendes Erdbeben. Ohne Zweifel: Eine Katastrophe ist im Anmarsch.
       
       Aida Shirazi heißt die Schöpferin dieser dystopischen Klangfläche. Das
       Schaffen der jungen iranischen Komponistin (*1987) bildet das Herzstück des
       Konzertes „EXT INC/ REMEMBER ME“, eine Uraufführung kurz vor Weihnachten in
       der „transtraditionalen“ Konzertreihe Outernational, die sich im Berliner
       Radialsystem mit neuen Klängen und Formaten auseinandersetzt.
       
       Opernliebhaber erahnen in dem bedeutungsschwangeren Titel die sterbende
       Königin von Karthago, die in Purcells „Dido and Aeneas“ die Worte „Remember
       me, but forget my fate“ singt, nachdem sich ein Prinz mit zweifelhaften
       Prioritäten gegen ihre Liebe und für den Krieg entschieden hat. Auch das
       Wörtchen „extinct“ – ausgestorben – versteckt sich darin und erinnert an
       das weltweite Artensterben.
       
       Wie Verlust und Verfall klingen, spürt Shirazi in einer Soloperformance für
       Elektronik nach. Den Text dafür hat sie selbst geschrieben. Die Worte für
       „distempered corpses and distilled winds“ – das Hauptwerk des Abends –
       leiht sie sich von Walt Whitman. Inspiriert von den damals neuesten
       Erkenntnissen der Biochemie schrieb der amerikanische Nationaldichter 1856
       ein Gedicht über die wundersamen Kräfte der Natur, die krankes Fleisch und
       abgestorbene Körper zu fruchtbarer Erde zersetzen und daraus frisches Leben
       keimen lassen.
       
       ## Alles verliert sich wieder
       
       Der Prozess der Verwesung klingt nicht angenehm. Quietschend erinnern
       Streicher, Perkussion, Klarinette, Klavier und Elektronik an den Sound
       kriechender Termiten und erzählen in kratzenden Glissandi von brennendem
       Schmerz. Klänge finden sich einen Atemzug lang und verlieren sich sofort
       wieder. Alles zerfällt, erstirbt und verläuft im Nichts.
       
       Dazu flüstern die Musiker mit erstickter Stimme Whitmans morbide Verse: „O
       how can it be that the ground itself does not sicken?… Are they not
       continually putting distemper’d corpses in you?“
       
       Angesichts der vielen, teils tödlichen Gewaltakte, die das iranische
       Regime dieser Tage [1][an den vielen Frauen und Männern begeht, die seit
       der Ermordung der 22-jährigen Masha Amini durch die islamistische
       Sittenpolizei für Freiheit und Selbstbestimmung] auf die Straße gehen,
       wiegen diese Sätze schwerer denn je. Der Schatten der politischen
       Ereignisse reicht bis ins Berliner Radialsystem. Auf Aida Shirazis
       schlichten Kapuzenpullover sind die Worte „Women, Life, Freedom“
       aufgedruckt – die Parole der iranischen Protestbewegung und
       unausgesprochenes Motto des heutigen Konzerts.
       
       Shirazi, die nach einem Klavierstudium in Teheran ihre musikalische
       Ausbildung in Istanbul, Kalifornien und Paris fortgesetzt hat, ist
       Mitbegründerin der Iranian Female Composers Association. Iranischen
       Komponistinnen, die in ihrer Heimat zum Schweigen gebracht werden, will das
       Netzwerk weltweit ein Gesicht und eine Stimme geben. „How do we stay
       radically hopeful?“, fragt sie in einem Instagram-Post, in dem sie die
       Berliner Uraufführung ankündigt.
       
       Eine mögliche Antwort liefert ihre Musik: Im zweiten Teil von „distempered
       corpses and distilled winds“ geht auf einmal ein Beben durch das
       siebenköpfige Ensemble. Wie eine überreiche Frucht kurz vor dem Platzen
       erzittert es in intensiven Tremoli und murmelt: „The resurrection of the
       wheat appears with pale visage out of its graves.“ Es gibt sie also doch,
       die Hoffnung, dass der blutgetränkte Boden einst im ewigen Frühling
       erblühen wird. Revolution kills. Revolution births – vielleicht sogar ein
       Versprechen?
       
       23 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anna Schors
       
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