# taz.de -- Nachruf auf Benedikt XVI.: Ratzingers Erbe
       
       > Er war strenger Getreuer der Glaubenskongregation, der liberale Ideen in
       > der Kirche bekämpfte. Nun ist der emeritierte Papst Benedikt XVI.
       > gestorben.
       
 (IMG) Bild: Papst Benedikt XVI. bei einer Sonntagsmesse im Petersdom im Mai 2010
       
       So hatte er sich das nicht vorgestellt – und wer ihm nicht gewogen ist, mag
       urteilen: In gewisser Weise hat er das auch verdient. Joseph Ratzinger ist
       gestorben. Als Papst Benedikt XVI. war er von 2005 bis 2013 das Oberhaupt
       von über einer Milliarde katholischer Menschen auf der ganzen Welt. Der
       bayerische Intellektuelle, geboren 1927 in Marktl am Inn und 2005 der erste
       „deutsche Papst“ seit mehreren hundert Jahren, hat Kirchengeschichte
       geschrieben. Das wird von ihm bleiben.
       
       Denn er trat ungezwungen, freiwillig und im [1][vollen Besitz seiner
       geistigen Kräfte] völlig überraschend vor bald zehn Jahren zurück, ein
       ungeheurer Akt, den vor ihm seit rund 720 Jahren kein Pontifex maximus
       gewagt hatte. Ratzinger trat als Papst zurück, weil er sah, dass er seiner
       Aufgabe, eine Weltkirche absolutistisch und mit einem eher
       frühneuzeitlichen Apparat zu führen, nicht mehr gewachsen war, wie er etwas
       verschlüsselt bei seiner Rücktrittserklärung auf Latein erklärte. Der
       konservative Kirchenfürst hoffte damals, er würde seine letzten Jahre sehr
       zurückgezogen wohl noch etwas schreiben, viel beten und vor allem sehr
       wohlwollend als demütiger und mutiger Kirchenmann in einem Kloster in den
       Gärten des Vatikans leben.
       
       Aber diese Gnade war ihm nicht vergönnt. Denn die Sünden seiner
       Vergangenheit holten ihn ein, das lange und bewusst Verdrängte, das
       Ratzinger und seine konservativ-reaktionären Fans in aller Welt und in der
       Kirche so gern weiter [2][unter dem Teppich gehalten] hätten. Der Papa
       emeritus (ein Titel, den er sich selbst anmaßte – ebenso wie sein weiterhin
       weißer Talar) wurde verfolgt von den Meldungen des weltweiten Skandals um
       sexualisierte Gewalt, die in den vergangenen Jahren einfach nicht stoppen
       wollten, und das zu Recht. Joseph Ratzinger hat als Papst und zuvor als
       jahrzehntelang amtierender Präfekt der Glaubenskongregation in Rom sehr
       genau gewusst, welche [3][Verbrechen von seinen Priestern überall auf der
       Welt an Kindern und Jugendlichen] begangen wurden, zehntausendfach und seit
       Jahrzehnten.
       
       [4][Seine Reaktion darauf aber blieb, alles in allem, verhalten.] Bis auf
       Ausnahmen griff er eben nicht konsequent durch, obwohl er dies hätte tun
       können, spätestens als Papst ab 2005. Ratzinger war eben zu sehr ein Sohn
       seiner Mutter Kirche, der er als Institution sein ganzes Leben geschenkt,
       ja, die er von Kindesbeinen an geliebt hat, wie man ohne Übertreibung sagen
       kann. Sein auch theologisch veraltetes Kirchenbild einer „societas
       perfecta“, einer perfekten Gemeinschaft, war zu sehr in seinem Denken
       eingeschrieben, schon in seinen Zeiten als Messdiener im bayerischen
       Katholizismus der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965),
       das die römisch-katholische Kirche in die Moderne zu katapultieren
       versuchte.
       
       ## Männerbünde, Wagenburgmentalität, Klerikalismus
       
       In das vormoderne Kirchenbild Ratzingers passte der strukturell mindestens
       begünstigte Skandal um sexualisierte Gewalt durch geweihte Männer nicht
       hinein. Ratzinger wollte und konnte nicht sehen, dass dieser Berg an
       Verbrechen etwas mit der Struktur der römisch-katholischen Weltkirche zu
       tun hat: mit Männerbünden, mit Wagenburgmentalität, mit Klerikalismus, mit
       verdrängter Sexualität, mit fehlenden checks and balances, mit einer
       absolutistischen Hierarchie und so weiter.
       
       Selbst in seinen wenigen Jahren als Erzbischof von München und Freising
       (1977–1982) versagte er beim Missbrauchsskandal, der sich da vor seiner
       Haustür schon andeutete, um es vorsichtig zu sagen. Verdrängung der
       Verantwortung, Verleugnung der Schuld und Versetzung der Verbrecher im
       Priesterrock waren die Mittel der Stunde, nicht nur bei ihm, bei vielen
       Bischöfen dieser Zeit. Es konnte eben nicht sein, was nicht sein durfte.
       Das funktionierte über Jahrzehnte so – bis es eben nicht mehr
       funktionierte, Gott sei Dank.
       
       Es gab um Ratzinger immer eine Gruppe von Fans, Speichelleckern und
       Ja-Sagern, die ihm halfen, sein Kirchenbild und diese Politik der
       Verdrängung zu verteidigen. Denn der alte Mann im römischen Kloster
       verteidigte gerade in den letzten Jahren seines Lebens bis zur Absurdität
       und Komik hinein verbissen sein Erbe. Er wollte in Erinnerung bleiben als
       der brillante Theologieprofessor, der er in den sechziger und siebziger
       Jahren des 20. Jahrhunderts in Bonn, Tübingen und Regensburg durchaus war,
       als gerade die Theologie in Deutschland unbestritten noch Weltgeltung
       genoss.
       
       Die ungezählten Bücher Ratzingers, geschrieben mit einem eleganten, wenn
       auch leicht schnöseligen Stil, sind in vielen Fällen kleine Meisterwerke
       der Theologie – wenn man darüber hinwegzulesen bereit ist, dass ihr Inhalt
       im Laufe der Jahrzehnte immer konservativer und rückwärtsgewandter wurde.
       Als hätte es zum Beispiel die historisch-kritische Methode etwa bei der
       Exegese irgendwie nicht gegeben oder als habe sie uns heute nur noch wenig
       zu sagen.
       
       Nein, der nun gestorbene Kirchenmann war eben [5][kein Anhänger einer
       modernen Theologie und des Zweiten Vatikanischen Konzils], das war er
       bestenfalls in den Anfangsjahren dieses großen Reformprozesses, der etwa ab
       1978 de facto gestoppt wurde, als der „polnische Papst“ Johannes Paul II.
       den Petrusthron erklomm. Ratzinger wurde wenige Jahre später als Präfekt
       der Glaubenskongregation sein williger Exekutor, und da macht er alles
       platt, was ihm und seinem Herrn nicht in den Kram passte: liberale
       Theologen in aller Welt, die Befreiungstheologie in Lateinamerika,
       [6][Frauenrechtlerinnen innerhalb der Kirche], um nur einige Opfergruppen
       zu nennen. Der zunehmend sture Mann mit der hohen Stimme und dem leicht
       bayerischen Zungenschlag konnte mit diesem angeblich [7][zeitgeistlichen
       Zeug] schlicht nichts anfangen, obwohl er das so schlicht natürlich nie
       gesagt hätte.
       
       Als Johannes Paul II. in einem quälend langsamen Prozess und fast in aller
       Weltöffentlichkeit starb, war das für Ratzinger schmerzhaft, denn mit
       diesem charismatischen Karol Wojtyła verband ihn eine große Vertrautheit,
       beinahe eine Freundschaft. Johannes Paul II. hatte Ratzinger nach Rom
       geholt, die beiden waren über Jahrzehnte für die liberalen Kräfte in der
       katholischen Kirche das duo infernale, an dem man nicht vorbeikam. Und
       eines hatte sich Ratzinger nach dem Tod seines großen Mentors fest
       vorgenommen: Er wollte weder im Amt so dahinsiechen noch zum überforderten
       Spielball finsterer Mächte im Vatikanstaat werden, so nahe sie ihm auch
       kirchenpolitisch stehen sollten.
       
       So kam es zum überraschenden Rücktritt Benedikts XVI. vor bald zehn Jahren.
       Im Konklave gewählt wurde nach ihm [8][der argentinische Jesuit Jorge Mario
       Bergoglio, der den Namen Papst Franziskus] annahm. Sowohl die Herkunft des
       neuen Papstes wie auch sein Ordenshintergrund und der Name „Franziskus“
       waren kirchenpolitisch bedeutsam: endlich ein Kirchenoberer aus dem Süden
       der Welt, dankenswerterweise ein Ordensmann fern der tendenziell mafiösen
       Vatikan-Nomenklatura und wunderbarerweise ein Kirchenfürst, der sich
       erstmals den sympathischsten Heiligen der katholischen Kirche zum Vorbild
       nahm, den Heiligen Franziskus von Assisi (1181/1182–1226). Der vor allem
       durch seine Armut und seiner Solidarität mit den Ärmsten bis heute ein
       Leuchtturm des Glaubens und radikaler Christi-Nachfolge ist.
       
       ## Ratzinger hintertrieb Franziskus' Kirchenpolitik
       
       Papst Franziskus hat nach einem vielversprechenden Anfang viele liberale
       Katholikinnen und Katholiken in aller Welt enttäuscht: Zu widersprüchlich
       ist sein Kurs, der vieles verspricht, aber am Ende nur wenig an Reformen
       durchsetzt. Der Argentinier an der Spitze der katholischen Kirche bemühte
       sich seit bald zehn Jahren auch stets, den zunehmend gebrechlicher
       werdenden Ratzinger in der Öffentlichkeit zu ehren, als eine Art
       väterlichen weisen Freund und Lehrer, den er sehr schätze. Dass Ratzinger
       zugleich, auch gepusht durch die Kamarilla um ihn herum, de facto die
       Kirchenpolitik von Papst Franziskus hintertrieb, wo es nur ging, war für
       den ambivalenten Lateinamerikaner wohl so eine Art Übung in Demut – oder
       das Eingeständnis, dass es diese reaktionär-konservativen Gruppen in der
       Weltkirche eben gibt. Und man auf sie, um der Einheit willen, irgendwie
       Rücksicht nehmen muss.
       
       Wenn Ratzinger seinem Herrn im Himmel nun Auge in Auge entgegentreten darf,
       um ein Wort von Paulus aufzunehmen, wird das Erbe des bayerischen Buben aus
       Marktl am Inn auch deshalb noch lange in der Kirche wirken. Es ist, leider,
       kein gutes Erbe.
       
       31 Dec 2022
       
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