# taz.de -- Ausstellung zur Ruhrbesetzung von 1923: Zwischen Hass und Versöhnung
       
       > Das Ruhr Museum in Essen widmet sich der Besetzung des Ruhrgebiets durch
       > belgische und französische Truppen, die vor 100 Jahren begann.
       
 (IMG) Bild: Französischer Soldat hält deutschen Pfeifenraucher in Schach, 1923
       
       Momentan scheint jede Woche ein neues Sachbuch herauszukommen, [1][das 1923
       zu einem zentralen Jahr der deutschen Geschichte] erklärt. Die Titel
       versprechen Sensationelles: „Im Rausch des Aufruhrs“ von Christian
       Bummarius, „Das Jahr am Abgrund“ von Volker Ulrich, „Totentanz“ von Jutta
       Hoffritz.
       
       Der Historiker Theo Grütter, Leiter des Ruhr Museums in Essen, hat sie
       gezählt: Derzeit sollen 23 Publikationen über dieses Schlüsseljahr auf dem
       Markt sein. Kaum vorstellbar, dass Grütter und sein Team zu Beginn der
       Konzeption von „Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhrbesetzung 1923 – 1925“
       daran zweifelten, ob sie überhaupt eine Schau zum Thema zusammenstellen
       sollten.
       
       Von der Geschichte der „Ruhrbesetzung“, die nun 100 Jahre zurückliegt,
       lassen sich viele Parallelen zur gegenwärtigen Situation ziehen: Die Sorge
       um Energiesicherheit, fehlende Infrastruktur, Verkehrs- und Lieferwege, die
       Inflation – Schlagworte, die jetzt im Zusammenhang mit [2][dem Krieg in der
       Ukraine] auftauchen, bestimmten auch fünf Jahre nach Ende des Ersten
       Weltkriegs den Alltag der Menschen.
       
       ## Direkte Folgen des Ersten Weltkriegs
       
       Nicht zuletzt ist die Ruhrbesetzung ein Schlüsselereignis, anhand dessen
       sich die politische Entwicklung in Deutschland wie auch ganz Europas zu
       einem bald folgenden Zweiten Weltkrieg besser verstehen lässt. Die über
       zwei Jahre währende französisch-belgische Besatzung zeigt auch den Stand
       der Waffen- und Medientechnik, mit der um 1923 Konflikte militärisch
       geführt und gelenkt werden konnten.
       
       Das erste, besonders augenfällig inszenierte Exponat im
       Sonderausstellungsraum des Ruhr Museums ist denn auch ein Maschinengewehr
       der Marke „Hotchkiss“. Es kam bereits im Ersten Weltkrieg zum Einsatz und
       wurde mit dem Einmarsch der Besatzungstruppen im Ruhrgebiet zur
       Abschreckung aufgebaut.
       
       Auf einem Bildschirm sehen Besucher*innen erstaunlich gute
       Filmaufzeichnungen von den französisch-belgischen Soldaten in Essen.
       Zwischen ihnen fahren auch tanks, jene Panzer also, die erst während des
       Ersten Weltkriegs entwickelt wurden und den Stellungskrieg damals schnell
       beenden konnten.
       
       ## Zentrum der Kohleförderung
       
       Bei der Ruhrbesetzung wurde mit (bewegten) Bildern, Flugblättern und
       Plakaten Politik wie auch Propaganda gemacht. Ikonisch ist das Foto eines
       französischen Soldaten mit Gewehr auf einem Eisenbahnwagon voller
       Kohlebriketts, deren Ausfuhr er überwacht. Genau deshalb haben die Truppen
       aus Belgien und Frankreich die Region von Moers bis Dortmund und Kamen
       besetzt: Weil hier die Kohle gefördert wurde, das größte industrielle
       Zentrum des Landes lag, auch die Zentrale der Eisenbahn.
       
       Kontrolle über das Gebiet, das damals übrigens noch nicht als Ruhrgebiet
       bekannt war und sich als zusammenhängende Region mit gemeinsamer Identität
       begriff, wollten sie erlangen, weil die deutsche Reichsregierung die im
       Versailler Vertrag geregelten Reparationszahlungen verschleppte.
       
       Bis heute hält sich in Deutschland die Meinung, die Reparationsforderungen
       der Entente seien zu hart gewesen, aber Museumsdirektor Theo Grütter sieht
       sie als gerechtfertigt an: „Die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs lagen
       alle in Belgien und Nordfrankreich, große Gebiete davon sind teilweise bis
       heute verseucht und voller Kampfmittel.“ Die vereinbarten Zahlungen zu
       leisten, die sich über Jahrzehnte erstreckten, sei durchaus „machbar“
       gewesen.
       
       ## Passiver Widerstand
       
       Die deutsche Bevölkerung war sich damals allerdings vor allem in einem
       einig: dass sie den Besatzern Widerstand leisten mussten. Das geschah vor
       allem passiv, zum Beispiel durch Arbeitsniederlegungen. Zeitungsbilder von
       1923 zeigen. wie Deutsch-Nationale, Kommunisten, Arbeiter und Industrielle
       mit Zylinder beim größten Leichenzug der Essener Stadtgeschichte
       zusammenkamen. Beerdigt wurden 13 Menschen, die bei einem blutigen
       Zwischenfall in den Essener Krupp-Werken am Ostersamstag 1923 von
       französischen Soldaten getötet wurden.
       
       Sie hatten diese daran hindern wollen, sich an der Ausstattung des Werks zu
       bedienen. Insgesamt ging die Ruhrbesetzung allerdings ziemlich unblutig
       vonstatten, rund 130 Menschen kamen dabei zu Tode, teilweise bei Unfällen.
       
       Das Kuratorenteam hat die Exponate der Ausstellung aus der eigenen
       Sammlung, aus Stadtarchiven des Ruhrgebiets und Museen Frankreichs und
       Belgiens zusammengesammelt. [3][Sie setzen das Schlüsseljahr 1923 spannend
       wie auch plastisch in Szene]. Neben Filmbildern, Dokumentar-, Pressefotos
       und Zeitungsseiten wird Kriegsgerät aus der Zeit gezeigt, Helme und
       Uniformen, aber auch Stücke wie der massive Schreibtisch des damaligen
       Essener Oberbürgermeisters und späteren Reichskanzlers der Weimarer
       Republik, Hans Luther (parteilos).
       
       ## Rassistische Propaganda
       
       Von ihm ist die Anekdote überliefert, dass er nicht aus seinem Büro kommen
       wollte, um den französischen Besatzungsgeneral zu empfangen, sondern dieser
       zu ihm an den Schreibtisch zu kommen hatte. Theo Grütter: „Der Tisch ist
       irgendwann zu uns in die Sammlung gewandert und wir haben gedacht: Wat
       sollen wir mit dem riesen Teil? Aber irgendwann kommt dann die Zeit.“ Ein
       interessantes Schlaglicht wirft die Schau auf die rassistischen Elemente in
       der Propaganda der Zeit.
       
       Meltem Kücükyilmaz aus dem Kuratorenteam widmet dem Thema ein eigenes
       Kapitel im Ausstellungskatalog, der eigentlich eine weitere, fundierte
       Publikation im Kreise der Geschichtsbücher zum Jahr 1923 ist. Weil die
       französisch-belgischen Besatzer auch Schwarze Soldaten aus den
       afrikanischen Kolonialgebieten im Ruhrgebiet einsetzen, erscheinen nicht
       nur auf Propaganda-Plakaten, sondern auch in bürgerlichen, satirischen
       Magazinen wie Kladderadatsch und Simplicissimus rassistische und
       sexistische Karikaturen.
       
       Zum Beispiel unter dem Titel „Die schwarze Schmach“. Die Spottbilder
       stellen die Besatzungssoldaten als schwarze Gorillas dar. Sie halten nackte
       weiße Frauen gefangen oder bedrohen sie mit riesigen Pranken. „In allen
       Darstellungen betonte man die ‚Minderwertigkeit‘ der Rasse, indem schwarze
       Männer Gewalttaten verübten und blonde deutsche Frauen und Mädchen
       vergewaltigten. Mit Argumenten wie ‚Mulattisierung‘ und ‚Syphilitisierung‘
       schürte man Angst vor der Vermischung der Rassen und der Verbreitung von
       Geschlechtskrankheiten“, schreibt Kücükyilmaz.
       
       Die Schau in Essen wirft also ein Licht darauf, wie während der
       Ruhrbesetzung im aktiven und passiven Widerstand der Deutschen Hass
       geschürt und rassistische Narrative verbreitet wurden, wie bereits zu deren
       Gunsten Märtyrerfiguren entstanden. Diese Motive sollten dann unter den
       Nationalsozialisten vollends durchbrechen.
       
       Die Ausstellung zeigt aber auch erste symbolträchtige Gesten der Versöhnung
       zwischen Franzosen und Deutschen. Das gemeinsame „Dattelner Abendmahl“ ist
       so ein Ereignis, auf dem die später im Élysée-Vertrag besiegelte
       deutsch-französische Freundschaft fußen wird. Sie währt in diesem Jahr auch
       schon 60 Jahre.
       
       15 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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