# taz.de -- Wladimir Putins Russland: Mission erfüllt, Putin kann gehen
       
       > Die Bilanz von Russlands Präsident Putin ist verheerend – wirtschaftlich,
       > demografisch und politisch. Das Adjektiv „russisch“ steht für Zerstörung.
       
 (IMG) Bild: Russlands Präsident Wladimir Putin bei dem Besuch einer Rüstungsfabrik am 18.01.2023 in St. Petersburg
       
       Russlands Wladimir Putin glaubt wahrscheinlich selbst, dass es seine
       Mission sei, Amerika zu besiegen, eine neue Weltordnung zu schaffen, in der
       Russland das Sagen haben wird, und so weiter und so fort. Aber er irrt
       sich. Seine Mission war es, Russland zu vernichten. Und das hat er auch
       geschafft. Er kann nun in Frieden gehen.
       
       Tatsächlich ist dies das Einzige, was er erreicht hat, sonst nichts. Die
       Wirtschaft schrumpft, die demografische Situation verschlechtert sich, die
       technologische Rückständigkeit vertieft sich, überall herrscht eine
       überwältigende Heuchelei – all dies sind Errungenschaften seiner
       Regierungszeit. Die Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen. Krieg und
       Massaker sind der Höhepunkt.
       
       Für die Welt ist ein Land verschwunden, mit dem man zusammenarbeiten und
       interagieren kann. Nun bleibt nur ein Gebiet, von dem eine Bedrohung
       ausgeht. Um diese abzuwehren, muss man sich zusammenschließen.
       
       Ein Land ist mehr als ein Gebiet. Das Territorium geht nirgendwohin, und
       die Menschen werden zumeist auch bleiben: Selbst heute ist es keine
       Mehrheit, die Russland verlässt. Ein Land ist eine Kultur, eine
       Lebensweise, eine Identität, eine Art, in der Welt gesehen zu werden. Das
       Land ist ein Bindeglied zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit –
       Kontinuität –, und die Zukunft betrifft sowohl das, was heute ist, als auch
       das, was früher war.
       
       ## Das Land nach dem Oktoberputsch 1917
       
       Unser Land ist schon einmal verschwunden – es wurde von den Bolschewiken
       zerstört. [1][Nach dem Oktoberputsch] gab es ein Territorium, auf dem
       gewisser Wahnsinn stattfand, aber zu Russland, zu seiner Kultur, zu seiner
       Geschichte hatte das keinen Bezug mehr, außer zu den pathologischsten
       Momenten – wie der Zeit der Herrschaft Iwans des Schrecklichen.
       
       Das Land wurde zu einer Negation der russischen Geschichte und Kultur, es
       tötete oder verbannte diejenigen, die das alte Land symbolisierten, und
       ließ die Erinnerung an diejenigen, die vor 1917 gestorben waren, in
       Vergessenheit geraten oder entstellte sie. Danach erlebte das Land
       jahrzehntelang eine lange und schmerzhafte Wiederbelebung – aber es gelang
       ihm nicht, jemals wieder ganz zu sich zu kommen.
       
       Jetzt ist etwas ganz Ähnliches passiert. Bis vor Kurzem wurde das Wort
       „Russland“ sowohl mit schlechten als auch mit guten Dingen in Verbindung
       gebracht – Diktatur, Stalin, Lager, aber auch russische Kultur, Aufbruch
       ins All, Sieg. Aber das ist alles Vergangenheit. So wie einst die Worte
       „Deutschland“ oder „deutsch“ nicht mit Goethe oder den großen deutschen
       Wissenschaftlern, sondern mit der SS, dem wahnsinnigen Führer und den Öfen
       von Auschwitz und Treblinka assoziiert wurden, so wird heute alles, worauf
       das Adjektiv „russisch“ angewendet wird, nur als Tod, Zerstörung,
       Aggression und Lüge wahrgenommen. Und das wird lange so bleiben!
       
       Das Land ist verschwunden. Und nicht nur das: Alles, was wir [2][seit Ende
       der achtziger Jahre] aufgebaut haben, ist zerstört worden. Es gibt keine
       russische Kultur. Ja, die Opernsaison der Mailänder Scala wurde mit Modest
       Mussorgsky eröffnet und Anton Tschechow wird an allen Theatern der Welt
       inszeniert. Aber wenn es früher hinter diesen Namen etwas gab, was man
       große russische Kultur nannte, so stehen Alexander Puschkin oder Pjotr
       Tschaikowsky heute für sich allein da, ohne Bezug zu einem kulturellen
       Kontext. Sie sind da, doch hinter ihnen gähnt nichts als Leere.
       
       ## Es gibt auch keine russische Armee
       
       Eine russische Armee gibt es nicht mehr, es gibt [3][nur eine gefährliche
       bewaffnete Gruppe], die in der Ukraine den Tod sät. Denn eine Armee
       verteidigt ihr Land und agiert nicht wie Banditen in einem benachbarten
       Land, ohne ein anderes Ziel als die Verwirklichung vager Fantasien in der
       ersten Person. Eine moderne Armee ist eine Einheit und besteht nicht aus
       sich bekriegenden Privatarmeen. Eine moderne Armee hat Disziplin. Dort
       kommt es auch zu Exzessen, aber sie bestraft Vergewaltiger und Plünderer,
       anstatt sie zu ermutigen, eine Stadt zu plündern oder Einheiten von
       Verbrechern den Titel der Garde zu verleihen. Es gibt keine Armee mehr.
       
       Mit dem Wort Russland verbindet man seit Peter dem Großen die Vorstellung
       von militärischer Macht. Jetzt hat Putin der Welt gezeigt, dass es
       überhaupt keine Macht gibt. Dies ist bereits gefährlich für die Sicherheit
       des Gebiets, das Russland bis vor Kurzem war. Stalins erfolgloser
       Winterkrieg gegen Finnland (er dauerte von November 1939 bis März 1940 und
       offenbarte Schwächen der sowjetischen Armee; d. Red.) veranlasste Hitler
       zum Einmarsch in die UdSSR – warum nicht angreifen, wenn die Rote Armee
       schwach war?
       
       Die von der Nato ausgehende Bedrohung wurde natürlich von unseren Behörden
       erfunden, wohingegen die Bedrohung durch China oder einige Taliban sehr
       real ist. Ihr entschlossenes Handeln gegenüber benachbarten Gebieten ist
       wahrscheinlicher geworden. Früher gab es (in den Augen der Welt) ein
       militärisch starkes Land und jetzt, egal wie viele Trickfilme über
       Wunderwaffen gezeigt werden, egal wie viele Paraden abgehalten werden, ist
       alles, was übrig bleibt, ein Gebiet, das für jeden Aggressor zugänglich
       ist.
       
       ## Russland hat keinen Präsidenten mehr
       
       Auch in Russland gibt es eigentlich keinen Präsidenten. Es ist nicht so,
       dass er keine Legitimität durch Wahlen hätte. Ein Präsident, König oder
       Sultan ist jemand, der die Ordnung aufrechterhält (nicht unbedingt die
       verfassungsmäßige, aber eine gewisse) und mit der Außenwelt und dem eigenen
       Land kommuniziert.
       
       Die Ordnung ist ebenso wie die Verfassung schon lange nicht mehr gegeben –
       Brände, schmutzige Abwässer, Nichteinhaltung eingegangener Verpflichtungen
       (bald wird man im Gefängnis landen, wenn man offizielle Versprechen der
       letzten Jahre veröffentlicht, denn der Staat wird diskreditiert).
       
       [4][Doch Putin verweigert die Kommunikation. Er trat zum Beispiel nicht auf
       dem letzten G20-Gipfel auf], der eine großartige Gelegenheit geboten hätte,
       der Welt zu erklären, dass sie im Unrecht sei, während Putin im Gegenteil
       in allem recht habe.
       
       Auch mit seinen eigenen Leuten will er nicht kommunizieren – [5][er hat die
       Pressekonferenz] und die verfassungsmäßig vorgeschriebene Rede vor der
       Föderationsversammlung (sie besteht aus beiden Kammern des Parlaments; d.
       Red.) abgesagt, genauso wie den Neujahrsempfang – er will nicht einmal zu
       „seinen Getreuen“ sprechen.
       
       Vor nicht allzu langer Zeit trat Putin auf dem Valdai-Forum (einem seit
       2004 jährlich im Herbst in Russland stattfindenden Treffen von
       Journalisten, Politikern, Experten/Wissenschaftlern und Personen des
       öffentlichen Lebens aus Russland und anderen Ländern; d. Red.) auf. Dort
       sagte er: „Warum brauchen wir eine Welt ohne Russland?“ Genau diese Art von
       Welt – ohne Russland –, ist dank Wladimir Putins Bemühungen im Jahr 2022
       entstanden.
       
       Aus dem Russischen [6][Gemma Terés Arilla]
       
       21 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [5] /Groessenwahn-im-Kreml/!5899029
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       ## AUTOREN
       
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