# taz.de -- Geflüchtete in Belgien: Letztes Mittel Hausbesetzung
       
       > Weil Brüssel mit Asylsuchenden überfordert ist, landen viele auf der
       > Straße. Jetzt soll auch ein von Geflüchteten besetztes Bürogebäude
       > geräumt werden.
       
 (IMG) Bild: Provisorische Bleibe: Im besetzten Bürogebäude in der Rue des Palais in Brüssel
       
       BRÜSSEL taz | „Alle auf diesem Bild sind von den Taliban ermordet worden,
       nur ich nicht“, sagt Ahmad, dessen Name eigentlich anders lautet, und zeigt
       das Foto einer Gruppe uniformierter Männer auf seinem Smartphone. Er wischt
       weiter, deutet auf Personen: „Er ist auch tot, er auch.“ Wie Ahmad hätten
       sie für den Inlandsgeheimdienst der afghanischen Republikregierung
       gearbeitet, die Taliban hätten nach ihrer [1][Machtergreifung im August
       2021] gezielt nach ihnen gesucht. Sein Bruder und Vater flohen nach Iran,
       er selbst kam nach Brüssel.
       
       Hier hoffte Ahmad auf einen Aufenthaltsstatus, um seine Familie nachholen
       zu können, die weiterhin in Afghanistan lebt – dort sei es auch für sie
       nicht sicher. Doch weil sich Belgien überfordert mit der Menge an
       Asylanträgen zeigt und Tausende Schutzsuchende auf der Straße leben, haben
       rund 1.000 Menschen in ihrer Not ein Bürogebäude an der Rue des Palais in
       der Brüsseler Nordstadt besetzt.
       
       Die Bewohner schlafen in ehemaligen Aufenthalts-, Keller- und Büroräumen
       eines 50er-Jahre-Baus. Wer Glück hat, liegt auf einer Matratze. Andere
       müssen mit dem blanken Kellerboden vorlieb nehmen, notdürftig mit
       Pappkartons ausgelegt. Von außen wirkt das Provisorium durch Container des
       Roten Kreuzes und den Sicherheitsdienst wie eine offizielle Unterkunft.
       Doch im Grunde ist sie eine Baustelle, die eigentlich für ukrainische
       Geflüchtete saniert werden sollte, ohne ausreichend Sanitäranlagen und
       echte Wohnräume.
       
       Doch die Bewohner sind froh um diese Bleibe, denn sonst würde ihnen nur die
       Straße bleiben. Seit die belgische Regierung Ende 2022 die Räumung
       verordnet hat, fürchten sie um ihr Dach über dem Kopf.
       
       ## Warten auf einen Schlafplatz im Trockenen
       
       Auf Nachfrage der taz räumt die belgische Aufnahmebehörde für Asylsuchende
       (Fedasil) ein, dass sie nicht allen Asylbewerbern – im November 2022 waren
       es rund 2.000 – einen Schlafplatz anbieten kann. Fedasil versuche, die
       Asylsuchenden in ihrem Zuständigkeitsbereich „so schnell wie möglich“
       unterzubringen. Frauen und Kinder würden dabei priorisiert.
       
       Clothilde Bodson vom Hub Humanitaire berichtet, dass im Oktober 2022 sogar
       minderjährige Flüchtlinge und Familien auf der Straße leben mussten. Mit
       bis zu 1.000 Mahlzeiten pro Tag, medizinischer Betreuung, Sachspenden und
       Aufenthaltsräumen unterstützt das Gemeinschaftsprojekt von fünf
       Nichtregierungsorganisationen Flüchtlinge.
       
       Ein komplexes Gefüge an Zuständigkeiten und Entscheidungsprozessen in
       Belgien erschwere schnelle Lösungen zulasten der Asylsuchenden, sagt
       Bodson. Der fortdauernde Fokus auf die vulnerablen Gruppen bedeute für die
       Männer zudem einen Teufelskreis. „Wir sollten nicht vergessen, dass es
       Tausende Männer gibt. Auch sie benötigen eine Unterbringung“, sagt sie.
       
       Auf einen Schlafplatz im Trockenen und Warmen warten unter anderem rund 50
       Asylbewerber aus Afghanistan, die auf einer Brücke zelten. Eine Plane soll
       vor dem Regen schützen, sie flattert laut im Wind. „Man wird verrückt, wenn
       man so lebt“, sagt einer der Afghanen. Es sei immerzu laut hier draußen.
       Wie zum Beweis fährt ein Krankenwagen mit Sirene vorbei. Er selbst harrt
       hier schon seit mehreren Monaten aus. Zwischenzeitlich habe seine Gruppe
       Unterschlupf in dem besetzten Haus in der Rue des Palais gesucht, den sie
       für eine offizielle Unterkunft gehalten habe, sei jedoch von anderen
       Bewohnern rausgeworfen worden.
       
       Die Frage, wieso es gerade Afghanen nach Belgien zieht, beantwortet die
       Gruppe mit Hilfe eines Übersetzers am Telefon: „Wir hatten gehört, dass die
       belgische Regierung ehemaligen Soldaten hilft.“ Tatsächlich gibt Belgien
       seit März 2022 [2][allen Afghanen den Flüchtlingsstatus] – sofern sie nicht
       wegen des Dublin-Verfahrens in das EU-Land ihrer Erstregistrierung
       zurückgeschickt werden.
       
       ## 3.000 obdachlose Asylsuchende
       
       Mit fast 5.400 Erstanträgen stellen Menschen aus Afghanistan die größte
       Gruppe der mehr als 30.000 Erstasylanträge in Belgien im Vorjahr. Danach
       folgen die Herkunftsländer Syrien (3.000), Burundi (2.600) und Palästina
       (2.300).
       
       Das Staatssekretariat für Asyl und Migration weist darauf hin, dass Belgien
       mit seinen 11,5 Millionen Einwohnern im Vorjahr die sechsthöchste Zahl an
       Asylsuchenden im EU-Vergleich aufgenommen habe, hinzu kämen mehr als 60.000
       Ukrainer. „Aber nur mehr Aufnahmeeinrichtungen sind nicht die alleinige
       Antwort“, sagt Sprecherin Sieghild Lacoere. Die EU müsse Asylsuchende über
       die gesamte Fläche verteilen, Länder wie die Slowakei zeigten sich hier
       jedoch wenig solidarisch. Die Kapazitäten Belgiens aber hätten ihr Limit
       erreicht.
       
       In ganz Belgien gibt es derzeit mehr als 3.000 obdachlose Schutz suchende
       Menschen, berichtet Marie Doutrepont, eine der Anwältinnen, die die
       Menschen im besetzten Haus und auf der Straße unterstützen. Die
       Rechtsvertreter haben bereits mehr als 7.000 Gerichtsurteile erstritten,
       die die belgische Regierung zu [3][menschenwürdiger Behandlung von
       Asylsuchenden] auffordern – zuletzt [4][urteilte der Europäische
       Menschenrechtsgerichtshof] zur Unterbringung von Asylbewerbern eine Woche
       vor Weihnachten.
       
       Doch vergeblich: „Es hat sich rein gar nichts verbessert“, sagt Doutrepont.
       
       20 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Ein-Jahr-Afghanistan-unter-den-Taliban/!5871682
 (DIR) [2] https://www.cgrs.be/en/news/afghanistan-new-policy
 (DIR) [3] /Hungerstreik-in-Belgien/!5781092
 (DIR) [4] https://www.coe.int/de/web/portal/home#
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lena Reiner
       
       ## TAGS
       
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