# taz.de -- Streiks in Großbritannien: Die Briten sind not amused
       
       > Eine halbe Million Beschäftigte in Großbritannien streiken. Sie
       > protestieren gegen niedrige Löhne und für ihr Streikrecht.
       
 (IMG) Bild: Bitte alle aussteigen: streikende Lehrer:innen am 1. Februar in einem Londoner Bus zu einer Demo
       
       LONDON taz | Eine Gruppe Lehrer:innen steht vor der Regent High School
       in Sommers Town, einer der ärmeren Gegenden Londons, umgeben von einer
       uralten Sozialbausiedlung. Die Schule hat heute zu, weil hier die
       Lehrer:innen streiken.
       
       Sie sind Teil von geschätzt einer halben Million Menschen, die am Mittwoch
       in verschiedenen Berufssparten der öffentlichen Dienste streiken,
       Lehrkräfte, Zugfahrer:innen, Universitätsangestellte, Busfahrer:innen
       und an die 100.0000 Beamt:innen. Nächste Woche wird auch wieder
       Krankenhauspersonal streiken, neben Grenzschutzangestellten und
       Angestellten in den Rettungsdiensten. Auch die Feuerwehr könnte sich bald
       mit anschließen,
       
       Der gemeinsame Grund für die Streiks sind fehlende oder nicht ausreichende
       Gehaltserhöhungen bei steigender Inflation. Fragt man genauer nach, geht es
       aber auch um sich über die letzten Jahre immer mehr verschlechternde
       Arbeitsbedingungen.
       
       Die konservative Regierung von Rishi Sunak, der am Donnerstag 100 Tage im
       Amt ist, gerät zunehmend unter Druck, die wirtschaftliche Lage ist
       angespannt: Die Inflation lag zuletzt bei mehr als 10 Prozent, der
       [1][Brexit schwächt die Wirtschaft]. Laut Umfragen d[2][es Politikmagazins
       Politico] liegen die Tories in der Wählergunst 20 Prozentpunkte hinter
       Labour.
       
       ## Zu hohe Arbeitsbelastung
       
       Für die Englischlehrerin und Gewerkschaftvertreterin T. C. de Roche, 28,
       und Englischlehrer Ben Coulson-Gilmore, 33, ist dieser Mittwoch das erste
       Mal überhaupt, dass sie streiken. „In den letzten zehn Jahren ist unser
       Gehalt um 23 Prozent gesunken. Ein Drittel aller Lehrer:innen steigt
       nach fünf Jahren aus und wird nicht ersetzt“, erklärt Coulson-Gilmore. La
       Roche sagt, dass sie zwar eine Gehaltserhöhung von 5 Prozent erhalten
       sollen, aber dass diese nicht durch mehr Unterstützung von der Regierung
       zustande kam, sondern aus dem Budget der Schule finanziert werden musste,
       was Kürzungen für anderes bedeute. So wollte es die Regierung. Überstunden
       und zu viel Arbeit und Stress für alle sei das Resultat.
       
       Eltern, die heute nicht zur Arbeit gehen können, weil ihre Kinder
       unerwartet zu Hause bleiben mussten, unterstützen jedoch weitgehend die
       Streiks. Katherine, 54, Mutter einer Zehnjährigen, kann heute nicht
       arbeiten und ist auf dem Weg in ein Museum. „Solange es nicht zu viele
       Streiks werden, können wir das verkraften“, sagt sie. Sie vertraue
       Lehrer:innen bei ihrer Entscheidung, zu streiken. Fahima Sahina, 41, die
       selbst Lehrerin ist, muss sich heute statt der Arbeit um ihre eigenen drei
       Kinder kümmern. „Der Streik ist richtig, weil das Leben sehr viel teurer
       geworden ist“, findet sie.
       
       Chris McGovern, der Vorsitzende der Denkfabrik der Campaign for Education
       ist einer der wenigen, die glauben, dass zumindest der Streik der
       Lehrer:innen falsch sei. „Ich halte ihre Arbeitsniederlegung für
       verwerflich, eigennützig und kurzsichtig“, erzählt er der taz. Das
       Vereinigte Königreich gäbe bei der Bildung mehr pro Kopf aus als die
       meisten anderen Länder der Welt. „Was wir uns wirklich fragen müssen, ist:
       Wieso das Erziehungsystem hier so teuer und im Vergleich mit anderen
       durchschnittlich ist.“ McGovern setzt den Vergleich mit Singapur an, wo
       Kinder in der Grundschule nicht wie hier um einen Tisch mit weiteren
       Hilfslehrer:innen sitzen würden, sondern auf eine einzige Lehrkraft
       fokussiert seien, was billiger und effektiver sei.
       
       Vor der Fakultät für Urbanistik des University College London streiken zum
       ersten Mal seit sechs Jahren auch Angestellte der Universität, darunter
       Professor Claire Colombe, 44. Auch ihnen ginge es hier um
       Gehaltserhöhungen, die mit der Inflation mithalten könnten, sagt sie. Doch
       es ginge auch um befristete Arbeitsverträge ohne Stabilität und eine stetig
       steigende Anzahl von Student:innen, ohne dass sich das Personal erhöhe,
       da Universitäten sich größtenteils aus den Studiengebühren finanziere.
       Diese Gemengelage führe zu Arbeitswochen mit 60 bis 70 Stunden.
       
       Dazu käme auch die Tatsache, dass Rentenfonds, in die viele Leute seit
       Jahrzehnten eingezahlt hätten, später einmal 30 bis 50 Prozent weniger wert
       sein werden. Colombe und die anderen geben dafür sowohl der Universität als
       auch der Regierung die Verantwortung. Ihre Kritik richtet sich aber nicht
       nur an die Konservativen. „Die Studiengebühren wurden zuallererst unter
       Labour-Premier Tony Blair eingeführt“, bemerkt sie.
       
       Nicht weit von der Fakultät ist ein weiterer Streikauflauf. Vor dem Bahnhof
       Euston Station posieren Bahnfahrer mit Bannern, es sind alles Männer, von
       denen sich keiner von der taz interviewen lässt, sie verweisen auf ihren
       Generalsekretär Mick Whelan. „Es ist ganz einfach“, beginnt dieser, „wir
       haben seit vier Jahren keine Lohnerhöhung erhalten!“ Große Firmen wie
       Arriva Transavia, First Group, Stagecoach, aber auch die deutsche DB hätten
       einen korrupten und unmoralischen Deal mit der britischen Regierung
       geschmiedet, der den Zugfahrern die steigenden Lebenshaltungskosten nicht
       abdecke. Anders als in Deutschland gäbe es im Vereinigten Königreich in den
       Verhandlungen keinen sozialen Dialog.
       
       Außerdem sei das Modell der Streckenfranchise gescheitert, bei dem die
       unterschiedlichsten Unternehmen für verschiedene Zugstrecken zuständig
       sind. „Die Unternehmen zahlen Dividenden an ihre Teilhaber, aber bei der
       Gehaltserhöhung für Angestellte wird gespart“, schimpft er. Nur die
       Regierung könne die Engpässe aus der Welt schaffen, damit die Unternehmen
       mit der Gewerkschaft richtig verhandeln.
       
       Er schimpft auf die Tories und ihren wirtschaftlichen Analphabetismus der
       letzten 12 Jahre, ihren Glauben, dass die einzigen Leute, die mehr Geld
       verdienen sollen, Banker seien, während normale Arbeiter ruhig hungern
       könnten. Er kritisiert aber auch die oppositionelle Labour-Partei, deren
       Chef Keir Starmer beschlossen hat, dass keine Abgeordneten der
       Schattenregierung zu den Streiks dürften. Diese Entscheidung sei falsch,
       denn Labour sei die Partei der Gewerkschaften. Immerhin seien an die 120
       Labourabgeordnete, die nicht Teil der Schattenregierung sind, zu Streiks
       gekommen. Whelan glaubt, die Tories seien eine Regierung im Zerfall.
       
       ## Gegen neoliberales Modell
       
       Viele der Stimmen bei den Streiks am Mittwoch, aber auch im letzten Jahr,
       vermitteln den Eindruck einer generellen Müdigkeit mit konservativ
       geführten Regierungen. Alle fordern neben höheren Löhnen grundlegende
       Veränderungen, die Abstand nehmen sollen vom neoliberalen Modell der
       letzten Jahrzehnte.
       
       Bei der Bevölkerung stoßen die Streikenden auf viel Verständnis. Ein Vater,
       der mit seinem kranken Sohn heute nicht zu Opa und Oma an die südenglische
       Küste kann, sowie Fred Smith, 33, der Geschäftsinhaber eines Unternehmens,
       der heute nicht nach Bedford in seine Firma kann, glauben beide, dass der
       Steik vertretbar sei. Selbst die oft eher zynischen Black-Cab-Taxifahrer
       sind an Bord. „Nein, wenn die streiken und mehr Geld brauchen, ist das
       okay, selbst wenn es uns behindert“, sagen drei Taxifahrer der taz. Diese
       Einschätzung scheint von vielen geteilt zu werden. Laut Meinungsumfragen
       von Ipsos sind nur 31 Prozent der Befragten gegen die Streiks des
       Krankenpersonals und 33 Prozent gegen die Streiks der Lehrkräfte.
       
       Die Regierung von Rishi Sunak gibt sich wenig kompromissbereit. So gab
       beispielsweise die Erziehungsministerin Gillian Keegan an, dass es nicht
       wahr sei, dass es Lehrer:innen so schlecht gehe oder dass sie regelmäßig
       auf Lebensmitteltafeln angewiesen seien, wie oft berichtet werde. Auf
       Twitter behauptete sie, dass sie auf Lehrkräfte höre und die Gewerkschaften
       getroffen hätte, sie sei zu Verhandlungen bereit und die Streiks wären zu
       diesem Zeitpunkt deswegen nicht gerechtfertigt.
       
       Viele der Streikenden richten sich auch gegen geplante Änderungen im
       Streikrecht. Die britische Regierung versucht mit einem neuen Gesetz, das
       Recht auf Streiks einzuschränken und systemrelevante Dienste dazu zu
       zwingen, ein Mindestversorgungslevel zu gewährleisten. Zwar ging der
       Regierungsentwurf durch das Unterhaus, doch im Oberhaus wird es auf
       Widerstand stoßen. Smith, den gestrandeten Unternehmer, beeindruckte dieses
       Vorgehen ganz und gar nicht. „Ich glaube nicht, dass ich mich bei so einem
       Angebot in einen übervollen Zug drängeln möchte.“
       
       1 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
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