# taz.de -- Gärtnern an der Stadtautobahn: „Das war wie im Paradies“
       
       > Autobahnneubau ist in Berlin kein Thema von gestern. Sebastian B., 36
       > Jahre alt, hat beobachtet, wie die A100 durch Neukölln gesprengt worden
       > ist.
       
 (IMG) Bild: Fast fertig: die nagelneue Autobahn unter der Sonnenallee
       
       BERLIN taz | Das war wie im Paradies. Von hier, von diesem Zaun aus, bis da
       drüben, bis zum Estrel-Hotel waren überall Schrebergärten. Und sie waren
       alle verlassen, weil die Pächter gehen mussten oder besser: gegangen
       wurden. Manche haben zwar Ausgleichszahlungen erhalten, andere bekamen
       Ersatz-Schrebergärten, aber glücklich waren sicher die wenigsten.
       
       Es hat mich unglaublich glücklich gemacht, dort durch die verwaisten Gärten
       zu streifen. Alles war so üppig und grün und schon nach einem Jahr völlig
       zugewachsen. Einmal bin ich durch diese verlassenen Gärten gestreift und
       plötzlich war da ein Mann, der Trompete gespielt hat. Ich habe ihn erst
       gehört, als ich schon ganz nah war, so verwildert war das alles. Das war
       ein schöner Moment.
       
       Von Protesten weiß ich nichts, ich glaube, die damalige Generation der
       Schrebergärtner hat nicht wirklich protestiert, die waren eher spießig,
       vermute ich, obwohl ich auch nicht sagen will, dass sie obrigkeitshörig
       waren. Wenn das heute passieren würde, vor dem Hintergrund der jetzigen
       Klimadebatte, und mit uns jüngeren, klimabewussten Pächtern in den
       Kleingärten, hätte es ganz sicher viel mehr Widerstand gegeben. Klar, da
       waren auch ein paar Künstler, die die verwaisten Schrebergärten ein
       bisschen besetzt haben; aber das war eher zum Genießen, den Sommer über,
       zum Trompetespielen.
       
       Ich weiß noch, wie ich dort ganz lange auf einer Wiese lag und einfach in
       den Himmel geschaut habe. Einmal bin ich auch in einer verlassenen Laube
       gewesen, dort standen noch die Biergläser und Kaffeetassen auf dem Tisch
       und Regale und Schränke mit Küchengeräten, so als hätten die Menschen alles
       stehen und liegen gelassen. Das war merkwürdig, ein bisschen wie 1990, als
       es im Osten Wohnungen gab, deren Besitzer die Tür hinter sich zugezogen
       haben und nie wieder aufgetaucht sind. Es gab da auch Momente, in denen das
       gruselig war.
       
       ## Der große Schock
       
       Dann kam dieses Weihnachten. Das war 2012 oder 2013. Ich war bei meiner
       Familie in Westdeutschland gewesen, und wie immer – ich glaube, das geht
       allen so – war ich bei meiner Rückkehr erschöpft vom Essen, seelisch weich
       von den Konflikten in der Familie, sentimental vielleicht auch. So kam ich
       zurück nach Berlin, und das war dann ein Schock. Sie mussten riesige
       Bulldozer verwendet haben, extra über die Feiertage, weil sich da niemand
       darum scherte.
       
       Mir ging es nicht so sehr um die Datschen, obwohl die mit viel Liebe und
       Sorgfalt über Jahrzehnte in Eigeninitiative entstanden sind, sondern es
       waren die uralten, wunderschönen Obstbäume, Hunderte, die dort überall
       standen und die diese paradiesische Stimmung geprägt haben, die im Frühling
       geduftet und geblüht haben. Und dann war das alles plötzlich weg!
       
       Alles war plattgemacht und ausgelöscht. In der Zeit davor kam ich mir
       manchmal wie ein Einsiedler vor, der in der Wildnis unterwegs war, und als
       ich direkt nach Weihnachten auf diese riesige gerodete Fläche schaute, habe
       ich mich gefühlt, als hätte mir jemand meinen Lebensraum weggenommen. Ich
       stand hier, genau hier, wo wir jetzt stehen und … das ging mir sehr, sehr
       nah. Dann begannen die Bauvorbereitungen. Die Giftmüllbeseitigung hatte
       schon zuvor stattgefunden, denn überall im Boden waren Asbest- und
       Eternit-Wurzelsperren. Da waren sie über einen längeren Zeitraum mit
       Schutzanzügen beschäftigt, um das fachgerecht zu entsorgen.
       
       ## Als die Archäologen kommen
       
       Danach kamen die Archäolog*innen mit Baucontainern und dem ganzen
       Werkzeug. Ich habe mich mit denen angefreundet und ihnen im Sommer Kirschen
       von dem Baum hier gegeben. Sie haben mich zu ihrem Abschlussfest auf ein
       Bier eingeladen. Aber wirklich was gefunden haben sie bei ihren
       Ausgrabungen, soweit ich weiß, nicht.
       
       Nur eine Feuerstelle aus der Bronzezeit beziehungsweise Hinweise auf eine
       Siedlungsstelle, wenn ich mich richtig erinnere. Wenn man tief unten etwas
       im märkischen Sand findet, dann kann es sich hier in dieser Gegend um
       Steinzeitfunde handeln. Darüber liegt der Schutt aus der Zeit der
       Industrialisierung und vor allem aus der Kriegszeit. Als die Archäologen
       abgezogen sind, begannen sie mit dem eigentlichen Bauen der Autobahn. Sie
       mussten diese irre Schneise in den Boden treiben.
       
       Wochen-, monate-, jahrelang haben sie den Abraum wegtransportiert und
       überall sind sie auf enorme Widerstände gestoßen. Also auf Felsen oder
       Granitsteine und gigantische Findlinge. Die haben sie nicht
       abtransportiert, sondern mit einem Spezialgerät, das so aussah wie ein
       langer Bohrer, gesprengt und zerteilt. Wie genau das funktionierte, weiß
       ich nicht; auf jeden Fall hat die Erde, genau hier, wo wir jetzt stehen,
       gebebt. An unserem Vereinsheim gab es Risse, es sind auch andere Schäden
       entstanden. Vor Kurzem hat mir jemand erzählt, dass eine der Kolonien eine
       Entschädigung von wenigen hundert Euro erhalten hat … Nach zehn Jahren!
       
       Auch diese Sprengungen der Felsen haben bestimmt dazu geführt, dass das
       einer der teuersten Autobahnabschnitte wurde, der je in Deutschland gebaut
       worden ist. Ich denke manchmal, dass sie das hier nur machen, damit sie
       später sagen können, jetzt bauen wir den [1][Autobahnring erst mal bis zum
       Treptower Park], und wenn wir schon so weit sind, dann geht’s weiter bis
       Lichtenberg und Pankow. Wobei mich mal interessieren würde, was sie mit dem
       ganzen Sand gemacht haben, der ist vermutlich wertvoll, den braucht die
       ganze Welt für die Herstellung von Beton. Normalerweise ist der Abraum für
       immense Kosten verantwortlich, aber hier war ja alles feinster märkischer
       Sand!
       
       ## Riesige Wasserbecken
       
       Auf jeden Fall haben sie dann Schote in die Schneise eingezogen, also
       Zwischenwände quer zu den Rändern; und diese haben sie bis oben hin mit
       Wasser gefüllt. So entstanden riesige Wasserbecken; das mussten sie
       angeblich so machen, um den nötigen Gegendruck zu erzeugen, damit die
       Seitenwände stehen blieben, und dann haben sie Beton verwendet, der unter
       Wasser aushärtet. Wieder etwas, was es so teuer hat werden lassen. Jetzt
       ist die Autobahn fast fertig. Hier vorne, da kommt noch ein Grünstreifen
       hin.
       
       In mir? Da war von Anfang an Gleichgültigkeit. Mal gucken, was das wird,
       habe ich mir gesagt. Ich bin froh, dass die Autos weniger Emissionen
       verursachen; denn Feinstaub ist ein großes Problem. Mir ist es wichtig,
       dass die Luft sauber bleibt, auch wegen der Beete, auf denen ich nach und
       nach immer mehr anbauen will. Ich bin überglücklich, dass ich diesen Garten
       habe. Eigentlich sehe ich mich als Gewinner der Situation. Warum der
       Vorbesitzer den Garten verlassen hat, das weiß ich nicht. Vielleicht wollte
       er seine Freizeit nicht an der Autobahn verbringen.
       
       Es hat ein bisschen gebraucht, bis ich mit den Alteingesessenen auf
       Betriebstemperatur war. Doch ich liebe Neukölln. Ich brauche das Chaos,
       auch die verschiedenen Strömungen, ich will nicht woanders leben. Das waren
       übrigens sehr schöne Momente, als es die Pferde am Richardplatz noch gab
       und ich dort Mist für meine Beete geholt habe. Mit dem Karren voller
       Pferdeäpfeln an den Cafés mit den Hipstern vorbei …
       
       Meiner Meinung nach sollte die Stadt aus mehreren Ebenen bestehen. Das wäre
       mit einer Überdachung der Autobahn möglich. [2][So wie sie es in Hamburg
       machen]. Das nennen sie Überdeckelung. Und dort kann man wieder Gärten und
       Wohnhäuser drauf bauen. Ich kann nicht verstehen, wieso sie das nicht
       gleich so geplant haben.
       
       Mein Leben? Ich bin dafür, dass alles gleichzeitig, symbiotisch und
       friedlich existiert. Soll doch jeder auf seine Weise an sein Ziel kommen.
       
       Sonnenallee, Ecke Autobahn. Ein Sonntag Ende Januar. Müll weht gegen die
       Bauzäune, Krähen hüpfen auf Baggerschaufeln herum. Menschen sind nicht zu
       sehen, dafür farbenprächtige Graffiti und unzweideutige Parolen, die den
       Neubau bereits schmücken. Genau hier hat ein alter Freund einen
       Schrebergarten, der seit mehr als zehn Jahren unmittelbar an die Baustelle
       grenzt. Wir stehen an seinem Zaun, der Grenze zwischen dem, was bleiben
       darf, und dem, was verschwunden ist.
       
       12 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
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