# taz.de -- Abitur in der Pandemie: Wertloses Abi?
       
       > Die Abischnitte wurden trotz Pandemie besser. Ein Skandal ist das nicht.
       > Problematisch sind die unterschiedlichen Anforderungen in den
       > Bundesländern.
       
 (IMG) Bild: Abi 2020 in der Fichtenberg-Oberschule in Berlin-Steglitz
       
       [1][Pandemie und Schule], das weckt keine guten Erinnerungen. Über Monate
       lernten Jugendliche in geteilten Klassen oder zu Hause im Kinderzimmer.
       Wenn sie Glück hatten, waren ihre Lehrer:innen auf Zack und bekamen so
       eine Art digitalen Unterricht hin. Oft genug sah der so aus: Arbeitsblätter
       ausdrucken und bearbeiten. Heute ist gut dokumentiert, wie groß die
       Lernrückstände wegen Corona sind und wie schlecht junge Menschen die
       soziale Isolation ertragen. Nie wieder Homeschooling, beten die
       Bildungsminster:innen deshalb bei jeder Gelegenheit rauf und runter.
       
       Den Abiturient:innen scheint die ganze Misere jedoch nicht geschadet
       zu haben. Zumindest auf dem Papier. Obwohl sie die ganze Oberstufenzeit
       unter Pandemiebedingungen abgeleistet haben, schneiden sie im Abi besser ab
       als frühere Jahrgänge. Deutlich besser, wie nun zwei Regionalzeitungen
       bemerken. [2][Die Stuttgarter Nachrichten] und die Stuttgarter Zeitung
       haben sich die Notenstatistik der Länder genauer angeguckt und mit den
       Vorjahren abgeglichen.
       
       Ihr Fazit fällt so aus, wie man es normalerweise nur von den ewig besorgten
       Lehrerverbänden kennt: „Eine Eins im Abi ist nichts Besonderes mehr, erst
       recht nicht seit Corona“, lamentiert der Artikel. Die Autorin beobachtet
       eine regelrechte „Einser-Inflation beim Abitur“. Eine Formulierung, die –
       das nur am Rande – so regelmäßig verwendet wird, dass auch sie ziemlich
       entwertet ist. Was aber stimmt: Die Zahl der Einser-Abis im Jahr 2022 hat
       sich im Vergleich zu 2019 in fast allen Bundesländern mehr oder weniger
       verdoppelt. Und in Thüringen und Sachsen hat mittlerweile fast jede:r
       Zweite eine eins vor dem Komma.
       
       Beides ist wenig überraschend. So what?! Die Ministerien haben seit Beginn
       der Pandemie klar gemacht, dass den Schüler:innen wegen des ganzen Hin
       und Hers keine Nachteile entstehen dürfen. Viele [3][Länder haben die
       Prüfungen nach hinten verschoben], damit die angehenden
       Abiturient:innen mehr Zeit für die Vorbereitung haben, und andere
       Klausuren auf dem Weg zum Abi gestrichen.
       
       Ob es dazu noch einen „Coronabonus“ gegeben hat oder nicht: Es wird wohl
       niemand ernsthaft bezweifeln, dass dieser Jahrgang Strapazen ausgesetzt war
       wie keiner je zuvor. Das zu honorieren ist das Mindeste. Die Zeit war für
       die Schüler:innen ohnehin schon – pardon – scheiße genug. Da muss man
       ihnen jetzt nicht noch die Zukunft verbauen. Zumal das Problem ganz
       woanders liegt als in der mutmaßlichen Einserschwemme.
       
       ## Ungerechte Unterschiede
       
       Der wahre Skandal ist nicht, dass Schüler:innen heute (angeblich) ihr
       Abi nachgeschmissen bekämen, sondern dass die Anforderungen an das Abi
       immer noch so unterschiedlich sind. Seit Jahren wollen die Länder die
       Standards angleichen. Viel passiert ist noch nicht, mehr als ein –
       optionaler! – gemeinsamer Aufgabenpool für ein paar Abiturfächer ist bisher
       nicht dabei herausgekommen. Die Folge: Seit Jahren erzielen
       Abiturient:innen aus Thüringen die mit Abstand besten Schnitte. Auch
       2022 lag der Freistaat mit seinem Spitzenschnitt von 2,0 fast eine halbe
       Schulnote besser als Schleswig-Holstein oder Rheinland-Pfalz. Und das ist
       doppelt ungerecht.
       
       Schließlich entscheidet der Abischnitt bis heute auch, wer Arzt oder
       Psychologe wird. Und nicht nur bei den prestigereichen Berufen sind die
       Abinoten wichtig. Zum aktuellen Wintersemester war bundesweit fast jeder
       zweite Studiengang zulassungsbeschränkt. Da reicht es nicht, dass die
       Hochschulen mittlerweile auch weitere Kriterien bei der Studienplatzvergabe
       berücksichtigen. Die Abinote ist nach wie vor das Maß aller Dinge.
       
       Wenn das so sein soll, dann müssen die Länder endlich verbindlich werden –
       und gemeinsame Aufgaben nicht nur anbieten, sondern vorschreiben. Wenn dann
       immer noch überdurchschnittliche viele Einser rauskommen, dann wenigstens
       nicht nur in Thüringen und Sachsen.
       
       16 Feb 2023
       
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 (DIR) [3] /Abipruefungen-in-Berlin/!5744025
       
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