# taz.de -- Nach Zugunglück in Griechenland: Explosive Stimmung
       
       > Tausende machen die Regierung weiter für das Zugunglück in Griechenland
       > verantwortlich. Am Donnerstag ist der nächste Protest geplant.
       
 (IMG) Bild: Die Wut der Menschen ebbt auch Wochen nach dem Unglück nicht ab: Massenprotest in Athen
       
       Es war ihr letzter Dialog, ihr allerletzter Funkkontakt vor der
       Katastrophe. Der Lokführer des IC 62 an den Stationsvorsteher im Bahnhof
       Larissa: „Hört mich Larissa?“ Die Antwort aus Larissa: „Er hört. Mit der
       Nummer 47 fährst du über die rote Ausfahrtsampel zur Einfahrtsampel in Neoi
       Poroi (dem nächsten Bahnhof nach Larissa).“ Lokführer: „Vassilis, fahre ich
       jetzt los?“ Stationsvorsteher: „Fahr los, fahr los.“ Lokführer: „Schönen
       Abend.“ Stationsvorsteher: „Alles Gute.“ Kurz darauf ist der Lokführer tot,
       der Bahnhofsvorsteher von Larissa wird verhaftet.
       
       Der Grund dafür: Der Intercity IC 62 war am 28. Februar um 23.21 Uhr und 19
       Sekunden auf Hellas’ mit Abstand wichtigster Zugstrecke von Athen nach
       Thessaloniki im Tempital nahe dem Berg Olymp in voller Fahrt mit einem
       Güterzug [1][frontal zusammengestoßen]. Sofort brach ein Feuer aus.
       
       Die vorderen Waggons des Intercity verschmolzen auf einen Schlag zu einer
       unförmigen Masse. 57 Menschen, darunter viele Studierende, die nach einem
       Feiertag zu ihrem Studienort in Thessaloniki zurückkehren wollten, kamen
       ums Leben.
       
       Sie starben einen grausamen, brutalen Tod. Bei Temperaturen von bis zu
       1.300 Grad blieben von ihnen nur verstümmelte, verkohlte Überreste übrig.
       Die Identifizierung der Leichenreste war nur mit DNA-Tests möglich. Die
       wohl tragischsten Figuren waren jene Eltern, die ihre eigenen Kinder
       bestatten mussten. Ein Vater, der seine Tochter verlor, stöhnte
       herzzerreißend: „Sie war unser Engel. Sie hatte ihr ganzes Leben vor sich.
       Voller Pläne, voller Träume. Wie konnte das geschehen?“
       
       ## Manuelle Steuerung – bei bis zu 200 km/h
       
       Das fragen sich fast alle Griechen. Schnell wurde klar, dass der 59-jährige
       Bahnhofvorsteher in Larissa die Weichen falsch gestellt hatte. Der IC 62
       kam so fatalerweise auf das falsche Gleis und knallte nach zwölf Minuten
       mit Karacho auf den Güterzug, der ihm entgegenkam.
       
       Der vielfach tödliche Frontalcrash brachte geradezu ungeheuerliche
       Sicherheitslücken im griechischen Zugverkehr zum Vorschein. Ohne ein
       elektronisches Leit- und Überwachungssystem und ohne funktionierende Ampeln
       erfolgte die Steuerung nur manuell und per Funk. Und dies, obschon der IC
       des Zugbetreibers Hellenic Train mit seiner Siemens-Lokomotive vom Typ
       HellasSprinter ein Tempo von bis zu 200 Kilometer pro Stunde erreicht.
       Menschliches Versagen, wie offenbar bei der Zugtragödie in Tempi, mit
       verheerenden Folgen.
       
       Szenenwechsel. Für den griechischen Regierungschef Kyriakos Mitsotakis
       hätte es eine der für ihn so typischen Routineveranstaltungen werden
       sollen. Er hätte sich an diesem 1. März mit viel Tamtam feiern lassen,
       wofür er sich seit Beginn seiner Amtszeit vor fast vier Jahren hält: als so
       eifrigen wie entschlossenen Modernisierer und Reformer seines Landes.
       
       Doch es kam alles ganz anders: Der Regierungschef blies kurzfristig einen
       Besuch ausgerechnet in der Zentrale des Leitsystems für das nordgriechische
       Eisenbahnnetz ab. Stattdessen ordnete er in seinem Athener Amtssitz Megaron
       Maximou eine dreitägige Staatstrauer an. Die Fahnen wurden bei allen
       öffentlichen Gebäuden auf halbmast gesetzt. Hellas trauerte. Eine stumme
       Wut hatte sich plötzlich über das Land gelegt.
       
       ## Der Unmut wächst
       
       Die ist inzwischen einer breiten, offenen Empörung gewichen. Am vorigen
       Mittwoch, genau eine Woche nach dem Frontalzusammenstoß in Tempi, legte ein
       Generalstreik das öffentliche Leben in Griechenland lahm. Rund 65.000
       Menschen kamen laut Polizeiangaben zu Massenkundgebungen in Athen,
       Thessaloniki, Larissa, Patras und weiteren Orten zusammen.
       
       Es waren die größten Proteste in Griechenland seit Jahren. Es kam zu
       Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei. Rund 30 Personen
       bewarfen am Freitagabend die Büros von Hellenic Train mit Steinen. Die
       Polizei sprach von einem Überfall.
       
       Unklarheit herrscht derzeit darüber, ob sich die heftigen Proteste zu einem
       handfesten Aufstand zu Füßen der Akropolis auswachsen. Am Sonntag gab es
       erneut Massenproteste in Athen, Thessaloniki, Larissa und Patras. Und nun
       soll ein weiterer 24-stündiger Generalstreik am Donnerstag stattfinden.
       Sicher ist: Der Unmut über die Regierung Mitsotakis ist gewaltig. Und er
       wächst. Tag für Tag.
       
       Befeuert wird die explosive Stimmung unter den Griechen durch den Umstand,
       dass der Transportminister Kostas A. Karamanlis nur acht Tage vor der
       Tragödie in Tempi im Athener Parlament einen Abgeordneten vom
       oppositionellen Bündnis der Radikalen Linken (Syriza) rüde zurechtgewiesen
       hatte. Der hatte es gewagt, ihn mit der mangelhaften Sicherheit im
       Zugverkehr seines Wahlkreises zu konfrontieren.
       
       ## Wer ist hier verantwortungslos?
       
       Wörtlich sagte Minister Karamanlis von der Regierungsbank mit erhobenem
       Zeigefinger in Richtung des seiner Ansicht nach zu frechen
       Oppositionspolitikers: „Das ist eine Schande. Ich schäme mich dafür, dass
       Sie die Zugsicherheit infrage stellen. Ich will, dass Sie das sofort
       widerrufen! Eine Schande ist das! Wir sind diejenigen, die die Sicherheit
       gewährleisten. Folglich gibt es gar kein Problem mit der Sicherheit.“
       
       Geradezu in pathetischer Überhöhung fuhr Karamanlis fort, man sei sich wohl
       darüber einig, dass „ein verantwortlicher Staat nicht mit der Sicherheit
       der Passagiere verantwortungslos umgehen“ könne. Kann er doch, wie die
       Griechen nun verbittert feststellen müssen. Sie sehen in der Zugtragödie in
       Tempi keinen Unfall, sondern ein Verbrechen mit Todesfolge.
       
       Der Frontalcrash in Tempi geschah für die Regierung Mitsotakis zur
       ultimativen Unzeit. Karamanlis, 48-jähriger Spross einer Politdynastie in
       Griechenland, die bereits zwei Premierminister mit insgesamt gut 13 Jahren
       Amtszeit stellte, trat zwar kleinlaut von seinem Ministerposten zurück.
       Seinen Sitz im Parlament behält er aber und bleibt damit im Fadenkreuz.
       Gäbe Karamanlis sein Mandat ab, verlöre er seine Immunität.
       
       Angesichts der anrollenden Klage- und Anzeigenwelle im Fall Tempi würde er
       somit juristisch eine Angriffsfläche bieten. Strafverfahren haben die
       griechischen Behörden bisher nur gegen vier Bahnangestellte eingeleitet,
       den Bahnhofsvorsteher in Larissa inklusive.
       
       ## Interessenkollision pur
       
       Karamanlis kommt bisher hingegen ungeschoren davon. Das könnte auch so
       bleiben. Wie verwoben Politik und Justiz sowie Oligarchen, Medien und
       Meinungsforschungsinstitute in Griechenland sind, hierzulande als ominöse
       „Diaploki“ (Interessenverflechtung) bezeichnet, offenbart sich mit
       Nachdruck in der Causa Karamanlis:
       
       Evangelos Dogiakos, von Beruf Rechtsanwalt, Sohn von Isidoros Dogiakos,
       Griechenlands oberstem Staatsanwalt, wurde von Minister Karamanlis in
       seinem Büro angestellt. Wer leitet die Ermittlungen im Fall Tempi? Isidoros
       Dogiakos, der oberste Staatsanwalt in Griechenland, Vater von Evangelos
       Dogiakos. Interessenkollision pur.
       
       Karamanlis hüllt sich derweil in Schweigen. Gefühlt ist er untergetaucht.
       Richtig auf die Palme bringt er die Griechen indes damit, dass er bei den
       bevorstehenden Parlamentswahlen offenbar abermals für die konservative
       Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) antreten will. Ein Unding, wie viele
       Griechen finden.
       
       Hunderte Protestler fanden sich vor seinem Wahlkreisbüro in der Stadt
       Serres ein. Sie skandierten: „Keine Stimme für Karamanlis, sein Platz ist
       im Gefängnis!“ Für den einflussreichen Karamanlis-Clan ist das ein wahrer
       Schock. Schließlich stammt die Familie aus Serres mit einer ihr bislang
       treuen Stammwählerschaft.
       
       ## Generation „K“ wie Krise
       
       Die Wut, gar der Hass richtet sich derweil nicht nur gegen den
       überheblichen Karamanlis. Bei den Massenprotesten am vorigen Mittwoch waren
       Transparente und Schilder zu sehen mit der Aufschrift „Mörder“ oder
       schlicht „12 Minuten“, in Anlehnung an die Zeit, in der die beiden Züge
       aufeinander zurasten.
       
       Aufgebracht sind Griechen aus allen sozialen Schichten aller Altersgruppen.
       Tief ins Mark getroffen hat der Frontalcrash jedoch besonders die
       einkommensschwächeren Hellenen. Ob Arbeiter, Kleinangestellte oder
       Studenten: Sie haben oftmals keine andere Wahl, als mit dem Zug zu fahren.
       Denn die teureren Alternativen Auto, Fernbus oder Flug können sie sich
       nicht leisten. Ihr flammender Zorn richtet sich so gegen „die Politiker da
       oben“, zumal diese ohnehin nicht den Zug benutzen.
       
       Entsetzt über die Tragödie in Tempi ist zudem die Generation Z, die
       hierzulande der Generation K entspricht: „K“ für Krise. Sie wird seit
       Griechenlands faktischem Staatsbankrott im Frühjahr 2010 mit seinen
       immensen ökonomischen und sozialen Verwerfungen von schweren Krisen
       gebeutelt.
       
       Junge Demonstranten hielten daher Zugtickets in die Höhe mit der Aufschrift
       „Ohne Rückkehr“ oder Transparente mit der Parole „Die junge Generation
       verzeiht euch nicht!“. Schon ist in Athen von einer „Generation Tempi“ die
       Rede. Das Durchschnittsalter aller 57 Tempiopfer ist 35 Jahre. Das
       Durchschnittsalter der griechischen Gesamtbevölkerung ist 45 Jahre.
       
       ## Sparen kann tödlich sein
       
       Auch Jannis, 22, Politikstudent in Athen, protestiert. „Meine Freunde,
       meine Familie, alle sind geschockt. Der Staat respektiert uns nicht, er
       tötet uns sogar. Uns bleibt keine andere Wahl, als auf die Straße zu
       gehen“, sagt er.
       
       Schließlich gehen just jene Griechen auf die Barrikaden, denen der
       skandalöse Ausverkauf der griechischen Bahnen von Anfang an ein Dorn im
       Auge gewesen war: Auf Geheiß von Griechenlands öffentlichen Gläubigern EU,
       EZB und IWF wurde die hiesige Bahngesellschaft im Jahr 2017 für läppische
       45 Millionen Euro an die italienischen Staatsbahnen verhökert und in
       Hellenic Train umbenannt. Dabei war dies genau genommen eine
       Pseudoprivatisierung.
       
       Obendrein blieb das Schienennetz in griechischer öffentlicher Hand.
       Brisanterweise verläuft seither die Kooperation zwischen italienischem
       Zugbetreiber und griechischem Schienennetzbetreiber gelinde gesagt alles
       andere als harmonisch. Die Probleme im hiesigen Zugverkehr häuften sich,
       diverse Zugentgleisungen inbegriffen.
       
       Der bereits im Zuge des rigorosen Sparkurses zuvor eingeleitete
       Personalabbau in großem Stil setzte sich zudem fort, vakante Stellen auch
       in sicherheitsrelevanten Bereichen blieben unbesetzt, eklatante Lücken in
       der Elektronik und Digitaltechnik zur Lenkung und Überwachung des
       Zugverkehrs musste der Faktor Mensch kompensieren. Notgedrungen. Mit
       fatalen Folgen, wie sich jetzt offenbart.
       
       ## Kassandrarufe der Gewerkschaften
       
       Wiederholt hatten die Gewerkschafter Alarm geschlagen, zuletzt wenige Tage
       vor der Tragödie in Tempi. Mit Arbeitsniederlegungen, Streikaktionen,
       Pressemitteilungen und außergerichtlichen Schreiben legten die Arbeitnehmer
       den Finger in die Wunde. Scharf im Ton. Gebetsmühlenartig. Öffentlich.
       Alles vergeblich. Höhnisch wurden ihre Warnungen von der Regierung
       Mitsotakis in den Wind geschlagen.
       
       Das rächte sich. Premier Mitsotakis steht vor dem Scherbenhaufen seiner
       Politik. Vier Tage nach dem Frontalcrash im Tempital, am 4. März, beging er
       seinen 55. Geburtstag. Still und leise. Der notorische Selbstdarsteller,
       der sonst vollmundig im Stakkato ein neues, modernes Griechenland
       propagiert, wirkt plötzlich verunsichert, orientierungslos, verloren.
       Krampfhaft darum bemüht, sich aus der politischen Sackgasse zu bewegen.
       
       Schob er zunächst in einer Fernsehansprache dem offenkundig heillos
       überforderten Bahnhofsvorsteher die Schuld für die Tragödie zu, bat er
       hernach um Verzeihung, jedoch erst nachdem sich in der griechischen
       Öffentlichkeit ein wahrer Shitstorm über ihn ergossen hatte.
       
       Schon sein desaströses Pandemiemanagement, die systematische Bevorteilung
       von Oligarchen, der Absturz Griechenlands auf Platz 108 in der
       Weltrangliste der Pressefreiheit, die Korruptionsvorwürfe gegen eine Reihe
       von ND-Politikern sowie der jüngste Athener Abhörskandal:
       
       Bereits vor der Tragödie in Tempi hatte sich abgezeichnet, dass Mitsotakis
       mit seiner allein regierenden ND beim kommenden Urnengang deutlich hinter
       dem Ergebnis von 39,85 Prozent bei ihrem Wahltriumph vom 7. Juli 2019
       zurückbleiben wird. Umfragen gaben Mitsotakis’ ND dennoch bis zuletzt bis
       zu 35 Prozent der Stimmen, etwa 5 bis 7 Prozentpunkte vor Syriza unter
       Ex-Premier Alexis Tsipras.
       
       ## Geschönte Umfragen
       
       Doch das war vor der Zäsur, vor Tempi. Vor allem bei den jungen Wählern
       dürften Mitsotakis und Co bei der bald anstehenden Wahl ein historisches
       Debakel erleben, zumal erstmals auch 17-Jährige daran teilnehmen dürfen.
       Auch ND-Stammwähler sind nach dem Frontalcrash in Tempi innerlich
       aufgewühlt.
       
       Eine mit gewisser Vorsicht zu genießende Umfrage des regierungsnahen
       Meinungsforschungsinstituts Marc (der Chef von Marc fungiert dem Vernehmen
       nach als Berater von Premier Mitsotakis), jedenfalls die erste
       veröffentlichte Umfrage nach der Zugtragödie, sieht die ND in der
       Sonntagsfrage aktuell bei 29,6 Prozent der Stimmen.
       
       Das sind 2,9 Prozentpunkte weniger als in der Marc-Umfrage vor der
       Zugkatastrophe. Das ND-Ergebnis dürfte ob der unstrittig
       regierungsfeindlichen Grundstimmung in der Bevölkerung eher geschönt sein,
       schränken Beobachter mit Blick auf den Marc-Chef prompt ein.
       
       Ein Syriza-Stratege beschwerte sich sogar über die gezielte
       „Schadensbegrenzung“, die die Regierung Mitsotakis durch die Publikation
       von Umfragen ihr nahestehender Demoskopen betreiben wolle. Den Syriza-Mann
       ärgert, dass seine Partei laut Marc-Umfrage bei 25 Prozent der Stimmen
       stagniert, immer noch knapp 5 Prozent hinter der ND.
       
       ## Mitsotakis, Tsipras oder die rechtsextremen „Griechen“
       
       Auf 25,6 Prozent kommt Syriza in einer unterdessen veröffentlichten Umfrage
       des Meinungsforschungsinstituts GPO. Die regierende ND würde laut GPO 29,5
       Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Doch auch hier sollte man Vorsicht
       walten lassen: Denn der langjährige GPO-Chef, Takis Theodorikakos, ist im
       Kabinett Mitsotakis Minister für Bürgerschutz und einer seiner engsten
       Vertrauten. Stichwort: „Diaploki“.
       
       Nichtsdestotrotz: Ex-Premier Alexis Tsipras könnte in der Wählergunst
       gerade nach der Zugkatastrophe gewaltig zulegen, wären nicht ausgerechnet
       in seiner Amtszeit die griechischen Bahnen an die Italiener veräußert
       worden.
       
       Was wohl noch schwerer auf Tsipras lastet: Im Juli 2018 kamen bei einem
       verheerenden Feuerinferno im Küstenort Mati nahe Athen 103 Menschen ums
       Leben. Das wurde allenthalben als Staatsversagen eingestuft und war einer
       der wesentlichen Gründe dafür, dass sein Widersacher Mitsotakis es
       schaffte, Tsipras ein Jahr später aus dem Amt zu jagen. Die nüchterne Logik
       in den Augen der Wähler lautet: Mati stellte Tsipras bloß, Tempi nun
       Mitsotakis.
       
       Übereinstimmenden Umfragen zufolge könnten zudem sieben statt heute sechs
       Parteien den Einzug ins Athener Parlament schaffen. Die neue rechtsextreme
       Partei „Griechen“ würde demnach die Dreiprozenthürde überwinden. Ihr
       Gründer ist Ilias Kasidiaris, ein Ex-Mitglied der Führungsriege [2][der
       berühmt-berüchtigten Goldenen Morgenröte], die bei den letzten Wahlen knapp
       am Einzug ins Parlament scheiterte. Kasidiaris sitzt nach dem Mord an einem
       linken Hip-Hop-Sänger gegenwärtig im Gefängnis.
       
       ## Heilt die Zeit auch schlechte Umfragewerte?
       
       Analysten in Athen weisen darauf hin, eine derartige Zersplitterung der
       hellenischen Parteienlandschaft erschwere die Regierungsbildung in Athen,
       zumal bei den nächsten Wahlen erstmals ein Verhältniswahlrecht nach
       deutschem Vorbild gilt. Mitsotakis’ erklärtes Ziel ist es, wie er
       wiederholt klargestellt hat, weiter alleine zu regieren.
       
       Dies strebt er mehr denn je durch einen Wahlsieg im zweiten Anlauf an.
       Falls eine Regierungsbildung nach den ersten Wahlen scheitert, erhielte bei
       den übernächsten Wahlen der Erstplatzierte wieder einen Bonus an Mandaten.
       Genau darin sieht Mitsotakis seine Chance – der Tragödie in Tempi zum
       Trotz.
       
       Der genaue Termin für die kommenden Wahlen steht noch nicht fest.
       Ursprünglich wollte Mitsotakis, der als Premier das alleinige Recht hat,
       den Termin festzulegen, vorgezogene Neuwahlen für den 9. April ausrufen, so
       wurde es in Athen kolportiert. Das Datum ist jetzt definitiv vom Tisch. Auf
       die lange Bank kann er das nicht schieben. Der Urnengang hat turnusgemäß
       bis spätestens Sommer dieses Jahres stattzufinden.
       
       Mitsotakis und Co kommt jetzt ein möglichst später Wahltermin entgegen.
       Getreu dem Motto: „Je später, desto besser. Die Zeit heilt alle Wunden.“
       Mitsotakis’ Kalkül dürfte ferner sein, möglichst viele Jungwähler von ihrer
       Stimmabgabe abzuhalten.
       
       ## Es Jungwählern so schwer wie möglich machen
       
       Das geht so: Mitte April startet in Griechenland die Tourismussaison.
       Zehntausende junge Griechen verlassen dann ihre Heimatorte vor allem im
       wirtschaftlich unterentwickelten Norden Griechenlands, um weit entfernt auf
       den bei Urlaubern aus aller Welt beliebten Inseln als Saisonarbeiter in
       Hotels, Restaurants, Cafés, Bistros, Nachtclubs oder sonst wo ihre Brötchen
       zu verdienen. An Wochenenden haben sie in der Reisesaison besonders viel zu
       tun.
       
       In Griechenland, das sich in der Ära Mitsotakis gerne als Europas digitaler
       Vorreiter sieht, existiert bei Wahlen weder die Option Briefwahl noch das
       E-Voting. Die griechischen Wähler haben am Wahlsonntag wie eh und je von
       sieben Uhr in der Früh bis sieben Uhr am Abend in ihrem Wahllokal
       persönlich zu erscheinen.
       
       Einen Abstecher in ihren Heimatort können sich die meisten der Saisonkräfte
       bei einem Wahltermin in der Reisesaison weder zeitlich noch finanziell
       leisten, falls die Regierung in Athen dies nicht begünstigt. Diesen
       Gefallen dürfte ihnen die schwer angeschlagene Regierung Mitsotakis nicht
       tun, schon gar nicht nach den derzeitigen Massenprotesten.
       
       Auf der jüngsten Kabinettssitzung am Donnerstag gab Mitsotakis folgerichtig
       keinen Wahltermin bekannt. Die Tragödie in Tempi sei „mit seiner Regierung
       am Ruder des Landes passiert“, räumte Mitsotakis ein. Er bitte erneut um
       Entschuldigung, „im Namen aller bisherigen Regierungen sowie persönlich“.
       „Wir alle sind schuld“, sagte Mitsotakis. Ein Offenbarungseid. Denn bisher
       wollte er den Griechen weismachen: „Wir sind besser als alle vor uns.“
       
       ## Die Mär vom „tiefen Staat“
       
       Mitsotakis unterließ es zugleich nicht, unverblümt die Gewerkschaften für
       die Tragödie an den Pranger zu stellen und damit ausgerechnet diejenigen,
       die seine Regierung eindringlich vor einem möglichen Unglück gewarnt
       hatten. [3][Mitsotakis griff dabei den „tiefen Staat“ an] und meinte damit
       einen seiner Meinung nach aufgeblähten und von den Gewerkschaften
       dominierten Staat. Ihn zu bekämpfen sei „seine vordringlichste Aufgabe“.
       
       Fest steht: Bis auf Weiteres bleibt in Griechenland der Güter- und
       Personenverkehr auf der Schiene eingestellt. „Fahr los“, die tödliche
       Anweisung des Bahnhofsvorstehers in Larissa an den Lokführer des IC 62,
       wird den Griechen noch sehr lange im Gedächtnis haften bleiben. Für die
       Regierung Mitsotakis vielleicht zu lange.
       
       15 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Toedliches-Unglueck-in-Griechenland/!5919411
 (DIR) [2] /Vor-Wahlen-in-Griechenland/!5910772
 (DIR) [3] /Vetternwirtschaft-in-Griechenland/!5824654
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ferry Batzoglou
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Griechenland
 (DIR) Zugunglück
 (DIR) Kyriakos Mitsotakis
 (DIR) Massenproteste
 (DIR) Zug
 (DIR) Infrastruktur
 (DIR) GNS
 (DIR) Zugunglück
 (DIR) Zugunglück
 (DIR) Türkei
 (DIR) Griechenland
 (DIR) Griechenland
 (DIR) Athen
 (DIR) Kyriakos Mitsotakis
 (DIR) Griechenland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Intercity bei Köln: Zwei Tote nach Zugunfall
       
       In Hürth ist ein Intercity in eine Gruppe von Bahn-Arbeitern gefahren. Zwei
       von ihnen starben, fünf haben Schocks erlitten.
       
 (DIR) Zugunglück in den Niederlanden: „Schwarzer Tag für Schienenverkehr“
       
       Beim schwersten Zugunglück seit Jahren gibt es einen Toten und 19
       Verletzte. Unklar ist, warum das Gleis trotz Wartungsarbeiten befahren
       wurde.
       
 (DIR) Flucht und Migration nach Europa: Griechenland baut Grenzzaun aus
       
       Der griechische Premier hat einen Vertrag unterzeichnet, der eine
       Verlängerung des Zauns zur Türkei vorsieht. Die Grenze solle so
       „versiegelt“ werden.
       
 (DIR) Vorgezogene Wahlen in Griechenland: Mitsotakis hat sich entschieden
       
       Griechenlands konservativer Premierminister kündigt vorgezogene Neuwahlen
       im Mai an. Ursprünglich waren sie für Juli geplant.
       
 (DIR) Nach Zug-Tragödie mit 57 Toten: Griechenland droht politisches Patt
       
       Das Zugunglück setzt die Regierung von Mitsotakis vor der Parlamentswahl
       unter Druck. Oppositionschef und Ex-Premier Tsipras profitiert nicht davon.
       
 (DIR) Tödliches Unglück in Griechenland: Die Zug-Tragödie von Tempi
       
       Beim Zusammenstoß zweier Züge sterben mindestens 36 Menschen. Griechenlands
       Bahnen hatten schon lange Probleme, doch Athen sah wohl weg.
       
 (DIR) Vor Wahlen in Griechenland: Comeback der Neonazis?
       
       Mit einer Gesetzesreform will die Regierung Mitsotakis verhindern, dass
       Ilias Kasidiaris ins Parlament einzieht. Doch alle Linksparteien sind
       dagegen.
       
 (DIR) Misstrauensvotum in Griechenland: Eine Sache der Demokratie
       
       Die linke Opposition hat ein Misstrauensvotum gegen Griechenlands
       Ministerpräsidenten beantragt. Es gilt als sicher, dass die Mehrheit
       verfehlt wird.