# taz.de -- Zeitenwende im Bundestag: Wie das „Monster Putin“ stoppen
       
       > Ein Jahr nach der Zeitenwende-Rede erläutert Olaf Scholz seinen Kurs. Er
       > versucht Kritiker mitzunehmen. Das gelingt dem SPD-Fraktionschef besser.
       
 (IMG) Bild: Olaf Scholz im Bundestag, ein Jahr nach seiner Rede zur „Zeitenwende“
       
       BERLIN taz |. Ein Jahr Krieg zehrt. Nicht nur an den Menschen in der
       Ukraine, auch der Bundestag wirkt ein Jahr nach dem Angriff Russlands auf
       die Ukraine etwas kriegsmüde: Der Plenarsaal war am Donnerstagmorgen nicht
       wie am 27. Februar 2022 bis in die letzte Reihe gefüllt, als der
       Bundeskanzler fast auf den Tag genau ein Jahr nach [1][seiner historischen
       Zeitenwende-Rede] erneut eine Regierungserklärung im Bundestag abgab. Eben
       zu jener Zeitenwende.
       
       Dieses und andere Triggerwörter – „Sondervermögen“, „2-Prozent-Ziel“,
       „Bundeswehr“ – tauchten bei Scholz zwar auch diesmal auf, rissen aber
       niemanden mehr von den Sitzen. Auch der ukrainische Botschafter, der ein
       Jahr später nicht mehr Melnyk, sondern Makeiev heißt, bekam zwar kräftigen
       Applaus zur Begrüßung – aber keine Standing Ovations. Und Friedrich Merz
       als Oppositionsführer verlor sich bei seiner Replik im Klein-Klein, so als
       hätte der etwas gebremste Bundeskanzler auch ihn ausgebremst. Warum Scholz,
       der am Abend noch nach Washington zu Joe Biden reist, eigentlich überhaupt
       dorthin fahre und dazu ohne Journalisten. Hach ja.
       
       Der Wind hat sich gedreht, vor allem außerhalb des Bundestages. Als Scholz
       vor einem Jahr dort sprach, zogen vor dem Reichstagsgebäude noch tausende
       Menschen vorbei und demonstrierten gegen den Krieg. „Stop Putin“ stand da
       etwa auf den Schildern. Auch am vergangenen Wochenende demonstrierten über
       zehntausend Menschen am Brandenburger Tor. Sie waren einem Aufruf der
       Publizistin Alice Schwarzer und der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht
       gefolgt, in welchem sie den Stopp von Waffenlieferungen und Verhandlungen
       mit Russland fordern. Die Botschaft an die Ukraine: Hört auf, Euch zu
       wehren, Putin ist eh stärker.
       
       Scholz wandte sich am Donnerstag im Bundestag auch an diese Menschen und
       die über 700.000 Unterzeichner:innen des sogenannten „Manifests für
       den Frieden“. Ja, solche Waffenlieferungen seien bislang ungewohnt gewesen.
       „Ich verstehe Bürgerinnen und Bürger, die nicht Hurra schreien“. Aber er
       machte auch deutlich: Man schaffe keinen Frieden, wenn man hier in Berlin
       ‚Nie wieder Krieg‘ rufe und zugleich fordere, alle Waffenlieferungen
       einzustellen. Denn: „Friedensliebe heißt nicht Unterwerfung unter einen
       größeren Nachbarn.“ Würde die Ukraine aufhören, sich zu verteidigen, dann
       wäre das kein Frieden, sondern ihr Ende.
       
       ## Keine Verhandlungen mit Waffe an der Schläfe
       
       Für einen nachhaltigen Frieden müsse die internationale Ordnung wieder
       hergestellt werden, betonte Scholz. Angriffskriege dürften nicht als Mittel
       der Politik zurückkehren. Und das bedeute, „dass Putins Imperialismus sich
       nicht durchsetzen darf.“
       
       Verhandlungsbereitschaft kann Scholz derzeit nicht bei Russlands Machthaber
       erkennen. Dass die Ukraine dennoch verhandeln soll, hält er für absurd:
       „Mit der Waffe an der Schläfe lässt sich nicht verhandeln.“ Deutschland
       wird die Ukraine also auch weiterhin mit allen Mitteln unterstützen – auch
       mit Waffen.
       
       Unions-Fraktionschef Merz, der diesen Kurs unterstützt, konnte nur an
       Details herumkritteln: Vom 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr
       seien bislang nur 600 Millionen Euro ausgegeben. Scholz zaudere und zögere
       und habe angeblich von den USA überzeugt werden müssen, der Ukraine endlich
       Leopard-Kampfpanzer zu liefern. Die mit gutem Beispiel und der Zusage von
       eigenen Abrams-Panzern vorausgegangen seien. Was ihm den Zwischenruf
       „Schreib Romane“ einbrachte. Denn es war wohl eher andersherum – Scholz hat
       mehr oder weniger erfolgreich versucht, eine Kampfpanzer-Allianz zu
       schmieden und die Amerikaner als größte Militärmacht und gegen deren
       technische Bedenken mit hineingequatscht.
       
       ## Viel Kritik an Linkspartei und Wagenknecht
       
       Ein lohnenderes Ziel als Scholz war für Merz da schon die Linkspartei und
       deren prominenteste Politikerin Wagenknecht. Die im Übrigen nicht anwesend
       war, was Merz denn auch auffiel und aufspießte – „Wäre doch ganz schön,
       wenn diese Kollegin an dieser Debatte teilgenommen hätte.“ Wagenknecht und
       der Linken warf Merz in „bizarrer Gemeinsamkeit“ mit der Fraktion
       Rechtsaußen im Bundestag vor, Täter und Opfer in diesem Krieg zu
       verwechseln und Kriegsverbrechen wie Vergewaltigungen zu relativieren.
       „Zynisch und menschenverachtend“ sei das. Merz spielte auf Äußerungen
       Wagenknechts in der Sendung „Hart aber fair“ zwei Tage zuvor an.
       
       Der Vorwurf war nicht ganz von der Hand zu weisen. Als AfD-Fraktionschef
       Tino Chrupalla später betonte, man befürworte zwar nicht die russische
       Kriegsstrategie, aber beide Seiten – die Ukraine und Russland – müssten
       sich auf einen Waffenstillstand einigen, argumentierte er im Grunde genauso
       wie Wagenknecht und Co.
       
       Auch Redner:innen von Grünen und FDP schossen sich auf die Linke ein.
       Grünen-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann warf der Linken vor,
       Diplomatie und Waffenlieferungen als Gegensätze zu konstruieren. „141
       Staaten haben Putin aufgefordert, den Krieg zu beenden, warum bringen Sie
       das nicht fertig?“ Und FDP-Fraktionschef Christian Dürr forderte die
       Linken-Fraktion auf, sich von Wagenknecht zu trennen.
       
       Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch konterte: „Wer Frieden fordert, ist
       kein Putin-Versteher“. Und forderte Merz auf, sich um den eigenen Laden zu
       kümmern – immerhin habe auch der sächsische Ministerpräsident Michael
       Kretschmer gefordert, den Krieg in der Ukraine einzufrieren. Einerseits
       nahm Bartsch seine Fraktionskollegin Wagenknecht in Schutz, indem er dazu
       aufrief, nicht jene zu diffamieren, die den Kurs der Bundesregierung
       kritisierten. Andererseits zitierte er nicht sie, sondern den Philosophen
       Jürgen Habermas, der auf die moralische Verpflichtung hingewiesen hatte,
       die mit der Lieferung von Waffen einhergehe.
       
       ## Zeit der Monster
       
       Und anders als andere Mitglieder seiner Partei forderte Bartsch am Mittwoch
       auch keinen Stopp von Waffenlieferungen – sondern lobte die
       „Nachdenklichkeit des Bundeskanzlers“ in dieser Frage. Die Linkspartei ist
       also keineswegs so monolithisch, wie es ihre Kritiker gern darstellen.
       
       Vor einem Schwarz-Weiß-Denken und einem Rückfall in die Muster und
       Begrifflichkeiten des Kalten Krieges warnte SPD-Fraktionschef Rolf
       Mützenich – und kritisiert auch Sweatshirts mit Leopardenmuster als nicht
       angemessen. Ein Seitenhieb auf die Grünen.
       
       Anders als zu Zeiten des Kalten Krieges gebe es heute keine bipolare Welt
       mit einem einzigen Macht- und Ideologiekonflikt, der auf dem Rücken anderer
       Länger ausgetragen worden sei. Die Welt sei heute „zerklüftet“, zitierte
       Mützenich den Friedensforscher Dieter Senghaas. Nur 16 Prozent der
       Weltbevölkerung lebten in „unserer Welt“, in Industrieländern, zählte
       Mützenich auf. Über ein Drittel der Menschen lebten dagegen in
       Entwicklungsländern und ein weiteres Drittel allein in China und Indien.
       Beide Länder hatten sich in der UN-Generalversammlung bei der Verurteilung
       des russischen Angriffskriegs enthalten.
       
       Mützenich lobte Scholz dafür, [2][dass er sich um diese Mächte und die
       Länder des Globalen Südens bemüht], es sei klug gewesen, nach China,
       Südafrika und Indien zu reisen, um zu reden. „Scholz will Putin
       Eskalationsmöglichkeiten nehmen.“ Er wandte sich dabei immer wieder an
       Scholz, wie um sich zu versichern: „Genau das wolltest Du doch eigentlich
       sagen, oder?“.
       
       Wie der Kanzler machte auch Mützenich klar, dass man die Ukraine
       militärisch dabei unterstützen müsse, sich zu verteidigen: „Wir müssen dem
       „Monster Putin“ entgegentreten“. Gleichzeitig gelte es, weitere Monster
       aufzuhalten. Auch mit den Mitteln des Völkerrechts. Mützenich bezog sich
       auf den italienischen Marxisten Antonio Gramsci, der 1937 schrieb: „Die
       alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren, es ist die
       Zeit der Monster.“ Da klatschte sogar der Parlamentarische Geschäftsführer
       der Linken, Jan Korte, Beifall.
       
       2 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Bundestags-Sondersitzung-zur-Ukraine/!5835039
 (DIR) [2] /Scholz-fliegt-nach-Indien/!5918008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anna Lehmann
       
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