# taz.de -- Sky-Doku über Claas Relotius: Der ideale Untergebene
       
       > Eine Doku über den Relotius-Skandal zeigt Defizite bei der Aufklärung.
       > Der Journalismus wäre die Affäre gerne los, aber so einfach ist das
       > nicht.
       
 (IMG) Bild: Relotius, eine Art menschliche ChatGPT, die beständig lieferte, was seine Führungskräfte wollten
       
       Es gibt ein [1][Buch des Enthüllers Juan Moreno] und einen [2][Spielfilm
       von Michael „Bully“ Herbig], es gibt vom Spiegel einen [3][150 Seiten
       starken Abschlussbericht] der internen „Aufklärungskommission“ und es gibt
       ein 200 Seiten starkes PDF mit den Texten und dem nachgeholten
       Fact-Checking. Und selbst das ist nur ein Ausschnitt der Aufarbeitung. Sind
       wir also nicht durch mit der Darstellung der Sache Claas Relotius, dem
       neben den „Hitlertagebüchern“ größten Skandal des deutschen Journalismus
       seit 1945? Sind die richtigen Fragen gestellt und die angemessenen
       Antworten gegeben worden, haben die Verantwortlichen den Preis für ihre
       Verfehlungen gezahlt?
       
       Eine neue Doku („Erfundene Wahrheit – die Relotius-Affäre“, Sky) zeigt im
       Abspann eine beeindruckende Liste von Größen des deutschen Journalismus –
       darunter Claas Relotius selbst –, die das offensichtlich genauso sehen: Sie
       wurden angefragt, waren aber nicht bereit, vor die Kamera zu treten.
       
       Und auch in einer, im Vergleich zu einer Sky-Doku, weniger populären Sparte
       des Medienbusiness, der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Text+Kritik zum
       Thema „Literarischer Journalismus“, ist die Sache klar. Im einleitenden
       Aufsatz heißt es, es sei „verfehlt“, Relotius’ „fingierte Reportagen“ mit
       der aus den USA stammenden und von Autorinnen wie Wolfgang Welt, Rainald
       Goetz oder Stefanie Sargnagel nach Deutschland übersetzten Tradition des
       „New Journalism“ in Verbindung zu bringen; und zwar nicht zuletzt deswegen,
       weil seinen Texten „die subtile Reflexion auf ihre eigene Gemachtheit
       fehle“, die „Fiktionalitätsmarker“. Nach dieser ausschließenden Einordnung
       kommt Relotius in dem gut 200 Seiten starken Heft nicht mehr vor.
       
       ## Über literarischen Journalismus
       
       Es gibt ein paar Gründe, warum diese Verbannung aus dem Reich des
       literarischen wie ganz realen Journalismus nicht befriedigt. So lassen sich
       etwa die angemahnten „Fiktionalitätsmarker“ in Relotius’ Texten durchaus
       finden. In seiner im Wesentlichen erfundenen Geschichte über die USA nach
       der Wahl Trumps, mit dem literarisch Anspruch und Anspielung setzenden
       Titel „In einer kleinen Stadt“ (Der Spiegel, 13/2017), schreibt er: „Meine
       Chefs in Hamburg hätten gern eine grundsätzliche Erkenntnis über das
       heutige Amerika, ein paar schöne Thesen zur Zerrissenheit des Landes, eine
       Erklärung, warum Menschen, die überzeugte Demokraten waren, Donald Trump
       gewählt haben. (…) Die Wirklichkeit ist komplizierter (..) widersprüchlich,
       rätselhaft.“ Wenigstens im Nachhinein lässt sich hier durchaus Hohn
       herauslesen über das vorab gewünschte Ergebnis einer Recherche.
       
       Ein zweiter Grund: Bei den Preisreden auf und den Erinnerungen an Relotius,
       wie sie die Sky-Doku gesammelt hat, spielt eben das „Literarische“ eine
       entscheidende Rolle. „Was denken Sie“, fragt der Moderator bei der
       Verleihung des CNN-Preises „Journalist of the year“ 2014, „warum waren wir
       so angetan von Ihrer Arbeit?“, um die Frage gleich selbst zu beantworten:
       „Es war schon so, dass es eigentlich Literatur ist, was Sie da geschrieben
       haben.“ Schon bei der Verleihung des Reporterpreises 2013 – dem ersten von
       vier Reporterpreisen für Relotius – für dieselbe, großenteils erfundene
       beziehungsweise aus der New York Times abgeschriebene Geschichte „Wenn
       Mörder zu Pflegern werden“, war das Prädikat der Jury „eine perfekte
       Erzählung“ gewesen.
       
       Das lässt doch die Frage dringlich erscheinen, wie ein Betrüger
       ausgerechnet auf der Folie des literarischen Journalismus erfolgreich sein
       konnte. Welchen Minderwertigkeitskomplex einer sonst doch oft abstoßend
       arroganten Branche wusste Relotius mit seinem Besteck zu bedienen? Das
       hätte man gern in einer literaturwissenschaftlichen Zeitschrift untersucht
       gesehen.
       
       Drittens: Ist die Verbannung des Claas Relotius zwar moralisch angemessen;
       und die Sky-Doku hat insbesondere dieses Verdienst, dass als Opfer seiner
       Verbrechen nicht immer nur die geplatzten Karrierepläne der
       Relotius-Förderer beim Spiegel im Vordergrund stehen, sondern die
       eigentlichen Leidtragenden: die von Relotius ausgebeuteten Mitarbeitenden
       an seinen Recherchen und die in seinen Fake-News-Produkten verleumdeten
       Protagonisten. Seine Texte aber als der Analyse nicht werten Giftmüll zu
       behandeln, entspricht dem Verhalten des Spiegel, der Relotius nie
       juristisch zur Rechenschaft gezogen hat und, folgt man der Darstellung der
       Doku, auch bei der zur Aufklärung eingesetzten Kommission sich nicht an
       Standards hielt, die in anderen Wirtschaftsbranchen gelten.
       
       ## Eine Art menschliche ChatGPT
       
       „Der Bericht wurde von drei Journalisten geschrieben, von denen zwei
       Mitarbeiter des Spiegel waren, von denen einer während der Arbeit an diesem
       Bericht befördert wurde.“ Das ist die Beschreibung der
       Spiegel-Aufklärungpersonalpolitik durch den Ermittler in
       Wirtschaftsstrafsachen Paul Milata in der Doku. Und das Ergebnis sei, „dass
       Relotius ein Einzeltäter war, dass es keine weiteren Betrüger gibt beim
       Spiegel“. Milata spricht von einer verpassten Chance, eben weil die Sache
       „die gesamte Medienindustrie“ betreffe.
       
       Stimmt. Auch an meinem kleinen Arbeitsplatz gab es 2018 aus der
       Führungsebene Zweifel am Vorgehen von Juan Moreno, ohne dessen
       Hartnäckigkeit Relotius heute eine Macht- und Vorbildfunktion im deutschen
       Journalismus inne hätte. Der Grund für diese Skepsis war schlicht: Die
       Leute, die dann – sehr sanfte – Konsequenzen aus der Affäre tragen mussten,
       waren auch Führungskräfte, und Relotius war ihr Traum eines Untergebenen,
       eine Art menschliche ChatGPT, die beständig, bescheiden und brillant
       lieferte, was sie – alles Männer by the way – sich unter großem
       Journalismus vorstellten.
       
       ## Lächerliche Duodeztitel wie „Chefreporter“
       
       Gegen diese Beharrungskräfte einer militärisch anmutenden Hierarchie – mit
       ihren wie Orden verliehenen Journalistenpreisen – würde letztlich nur eine
       Demokratisierung und Entbombastisierung endlich auch der journalistischen
       Arbeitswelt helfen. Braucht denn, um ganz zart zu beginnen, wirklich wer
       lächerliche Duodeztitel wie „Blattmacher“, „Hauptstadtkorrespondent“ oder
       „Chefreporter“?
       
       „Die Ursprungssituation ist die, dass es eine gesellschaftliche Institution
       gibt, die im Namen der Sachlichkeit gegründet ist. Das ist der
       Journalismus“, sagt Diedrich Diederichsen am Ende eines sehr schönen
       Gesprächs im Text+Kritik-Band. Der Ursprung des „New Journalism“ liegt in
       der journalistischen Notwendigkeit, diese Sachlichkeit zu verlassen: „Ein
       Journalist, der es mit Heads zu tun hat, befindet sich in einem
       eigenartigen Dilemma.
       
       Die einzige Möglichkeit, ehrlich über eine Szene zu schreiben, besteht
       darin, Teil dieser Szene zu werden“, beschrieb Hunter S. Tompson die Lage
       bei seinen Recherchen im Drogendistrikt San Franciscos in den 1960er
       Jahren. Joan Didion hat das erweitert zu der Maxime: „Erinnere dich, wie es
       war, du zu sein: nur darum geht es immer.“ Es ist nicht der übermäßige
       Einsatz des „Ich“, der den Journalismus gefährdet; sondern vielmehr das
       Geringschätzen von Individualität, ein spießbürgerliches Verlangen nach
       Bestätigung des eigenen Weltbilds, das ein Fake-Ich wie Relotius dann
       radikal zu nutzen wusste.
       
       23 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Nach-Faelscher-Skandal-beim-Spiegel/!5635848
 (DIR) [2] /Komoedie-ueber-Relotius-Skandal-im-Kino/!5880423
 (DIR) [3] https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fall-claas-relotius-abschlussbericht-der-aufklaerungskommission-a-1269110.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ambros Waibel
       
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