# taz.de -- Freiwillige für den Klimaentscheid: Letzte Chance zu mobilisieren
       
       > Am Sonntag wird über „Berlin 2030 Klimaneutral“ abgestimmt. Davor haben
       > Aktivist:innen wochenlang für „Ja“-Stimmen geworben.
       
 (IMG) Bild: Freiwillige der Initiative „Klimaneustart Berlin“ auf dem Nollendorfplatz
       
       BERLIN taz | Markttag im gut betuchten Berlin-Friedenau. An den
       Gemüseständen drängen sich die Menschen in der Frühlingssonne und packen
       Einkäufe in Jutebeutel. Die Ersten holen die Sonnenbrillen raus.
       
       Am Rande des Wochenendmarkts auf dem Brenslauer Platz steht Christopher
       Brinkmann. Er ist mit seinem Fahrrad im Einsatz, um Menschen [1][für den
       Volksentscheid „Berlin 2030 Klimaneutral“ zu mobilisieren]. Das Rad hat er
       an einem Ständer in der Sonne angelehnt. Aus den großen, grünen
       Fahrradtaschen ragt ein Plakat heraus. „26.03. Ja!“ ist darauf zu lesen, am
       Sonntag ist die Abstimmung. In beiden Händen hält er einen dicken Stapel
       Flyer, die er den vorbeiziehenden Menschen entgegenstreckt. Eine Rentnerin,
       knapp einen Kopf kleiner als er, bleibt stehen. Zehn Minuten später will
       sie am Sonntag mit „Ja“ stimmen. Eine Stimme geholt, 608.999 fehlen noch.
       
       Es ist die letzte Woche [2][vor dem Volksentscheid in Berlin]. Endspurt für
       die Freiwilligen. Die letzte Chance, noch einmal so viele
       Berliner:innen wie möglich für eine Ja-Stimme zu mobilisieren. Fällt
       die Abstimmung positiv aus, verpflichtet sich Berlin dazu, bereits im Jahr
       2030 klimaneutral zu werden. Und das sogar per Gesetz.
       
       Dafür müssen mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten in Berlin mit „Ja“
       stimmen, das sind rund 609.000 Menschen. Und die müssen erst einmal
       überzeugt werden.
       
       Dass die Ziele des Volksentscheids ambitioniert sind, gesteht auch
       Christopher Brinkmann. „Aber es ist wichtig, Druck zu machen, damit es
       überhaupt schneller geht.“ Die Entscheidung hier in Berlin sei der größte
       Hebel, etwas für den Klimaschutz zu tun, sagt er. Dreimal ist er an diesem
       Samstag an verschiedenen Orten im Einsatz.
       
       ## Einer von 2.000
       
       Und er ist nur einer von knapp 2.000 Freiwilligen, die laut Initiative
       Klimaneustart Berlin im Vorfeld unterwegs sind. Sie verteilen Flyer,
       plakatieren die Stadt, beantworten offene Fragen, stellen sich
       Konfrontationen. Es gibt sieben Helfer:innenteams, die sich in
       Telegramgruppen organisieren. „Diese Menschen stecken viel Energie in die
       Kampagne. Und das alles neben der Lohn- und neben der Care-Arbeit“, sagt
       Initiativen-Sprecherin Jessamine Davis.
       
       Marit Schatzmann zum Beispiel hat immer ihren Sohn Mattis dabei. So laufe
       das eben in einem Familienteam, sagt die angehende Lehrerin. Noch keine
       drei Jahre alt, verteilt Mattis in seiner hellgrünen Regenjacke fleißig
       Volksentscheid-Sticker an einem Geländer entlang. „Es ist toll, ihn in der
       Klimabewegung aufwachsen zu sehen.“ Marit Schatzmann ist aufgeregt, kommt
       aus dem Erzählen gar nicht mehr raus. Gerade habe sie eine Diskussion mit
       einer älteren Frau geführt, die entschlossen war, am Sonntag mit „Nein“ zu
       stimmen. Im Gespräch ließ sie sich dann doch noch überzeugen, berichtet sie
       voller Stolz. „Deswegen mag ich flyern so gerne, weil ich Menschen mag.“ Es
       falle ihr leicht, Verständnis für Bedenken und Ängste der Menschen zu
       zeigen.
       
       Anna Gille aus Pankow ist heute zum Flyerverteilen nach Berlin Schöneberg
       gefahren. „Denken Sie an den Volksentscheid?“, ruft hier eine Helferin auf
       dem Rathausplatz einer Dame in langem Mantel entgegen. Diese trägt eine
       kleine KaDeWe-Einkaufstasche in der Hand und geht einfach weiter.
       
       ## Hutperson des Kiezteams Pankow
       
       Wenn sie nicht gerade Flyer verteilt, organisiert Anna Gille das Kiezteam
       Pankow. „Hutperson“ wird das innerhalb der Gruppe genannt. “Ich komme mit
       vielen Leuten ins Gespräch, auch um Fragen zu klären.“ Viele Informationen
       seien bei den Berliner:innen noch gar nicht angekommen, sagt sie.
       
       Die Sorge vor steigenden Kosten und die Frage der Umsetzbarkeit lässt
       manchen am Vorhaben der Initiative zweifeln. „Es gibt Bedenken, dass es in
       Folge von Klimaschutzmaßnahmen zu höheren Mieten kommt“, sagt Anna Gille.
       Eigentlich ist das ausgeschlossen. Denn der Gesetzentwurf sieht vor, dass
       Anstiege der Energiekosten, die durch klimafreundlichere
       Sanierungsmaßnahmen in Gebäuden entstehen, durch monatliche Zuschüsse des
       Landes abgefedert werden sollen.
       
       Auch mit dem Problem des Fachkräftemangels, der die erforderlichen
       Umbaumaßnahmen behindern könnte, wird die 34-jährige Betriebs- und
       Volkswirtin häufig konfrontiert. „Das ist ein berechtigter Punkt“, sagt
       sie, „aber Aktivisten sind nicht dafür verantwortlich.“ Es sei Aufgabe der
       Politik, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.
       
       ## Aus dem Dornröschenschlaf
       
       „Das Problem, dass es heute schon zu wenige Handwerker gibt, wird sich
       in den nächsten Jahren noch weiter zuspitzen.“ Es sei daher jetzt an der
       Zeit, Gehälter für Azubis zu verbessern und auch Frauen für Handwerksberufe
       zu begeistern. Investitionen seien nötig. „Wir versuchen die Stadt aus dem
       Dornröschenschlaf zu wecken.“
       
       Den politischen Kontrast zwischen den Innen- und Außenbezirken Berlins, der
       bei den letzten Wahlen sichtbar wurde, spüren auch die Freiwilligen der
       Klimainitiative. „Prenzlauer Berg ist zum Beispiel ein relativ einfaches
       Pflaster“, sagt Anna Gille. Immer wieder wird den Freiwilligen hier
       freundlich „Nein danke, das habe ich alles schon“ zugerufen.
       
       Ganz anders sieht es in den Außenbezirken aus. Auf dem Platz vor dem
       Freizeitforum in Marzahn, gut 10 Kilometer östlich von Prenzlauer Berg
       entfernt, zeigen sich die Menschen weniger zugänglich. „Eine wirkliche
       Diskussion findet häufig gar nicht statt“, berichtet die Aktivistin Kim De
       Freitas. Damit der Volksentscheid eine Chance hat, müssten aber auch in den
       Außenbezirken Klimaschutzaktivist:innen vor Ort sein.
       
       ## Klimawandel in Neu-Hohenschönhausen
       
       Dieser Aufgabe hat sich Kim De Freitas, die seit 2009 in Berlin lebt,
       angenommen. „Ich bin hauptsächlich in Neu-Hohenschönhausen unterwegs, dort
       war vor mir niemand.“ Kim De Freitas berichtet von Menschen, die den
       Klimawandel leugnen und von Rechtsextremismus. Bei der Arbeit für
       Klimaneustart wurde sie transfeindlich angegriffen und verbal beleidigt.
       Ein großes Problem sei die Bildungsarmut. „Dabei wohnen hier die Menschen,
       die unter dem Klimawandel am meisten leiden werden, weil sie zu wenig Geld
       haben.“
       
       Die Motivation der Helfer:innen ist da, der Platz vor dem Freizeitforum
       in Marzahn allerdings leer. Nur wenige Menschen spazieren an diesem
       regnerischen Abend an den Freiwilligen der Initiative vorbei. Und doch
       gerät Helferin Janine Heße in eine angeregte Auseinandersetzung. Sie trägt
       eine rote Wintermütze, passend zur Klimaneustart-Warnweste, und
       diskutiert lautstark mit einem Paar. Die beiden seien der Auffassung
       gewesen, dass die jungen Leute sich immer nur beschweren, aber keine
       Lösungen liefern, berichtet sie wenig später.
       
       „Sie haben sich eigentlich nur darüber beschwert, dass sich alle nur
       beschweren“, Janine Heße lacht. Das Paar habe ihr auch vorgeworfen,
       Klimaneustart würde mit der Kampagne nur Angst schüren wollen. Beide
       hätten per Briefwahl schon mit „Nein“ gestimmt.
       
       ## Im Keller Plakate einkleistern
       
       Und trotzdem verteilt Janine weiter fleißig Flyer. Letztes Jahr hat sie
       ihren Job gekündigt, da wurde zu viel Papier verschwendet, sagt sie. Jetzt
       sei sie bei einem nachhaltigeren Unternehmen. Im letzten Sommer hat sie
       Plakate aufgehängt, im verschneiten Winter wieder abgehängt, im Keller die
       Plakate eingekleistert, neu überklebt, wieder aufgehängt. Den Heimweg nach
       Feierabend hat sie genutzt, um Menschen zu mobilisieren, berichtet die
       zweifache Mutter.
       
       Auf die Frage, was denn ihre Motivation ist, für den Volksentscheid hier in
       der Kälte zu stehen lacht sie: „Ach, es war schon mal kälter.“ Janine Heßes
       Kalender für die nächsten Tage ist voll. Sie will nochmal zum Tierpark und
       Flyer verteilen, auch bei der Großdemo am Brandenburger Tor will sie dabei
       sein.
       
       Wie auch immer das Ergebnis des Volksentscheids ausfällt, Klimaneustart
       werde es weiterhin als Gruppe geben, sagt Sprecherin Jessamine Davis. „Wir
       konzentrieren uns jetzt erst mal auf diese einmalige Chance für Berlin.“
       Natürlich sei die [3][Klimakrise ein globales Problem]. Aber „wir sind hier
       wahlberechtigt und können hier den Stein ins Rollen bringen“.
       
       24 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Volksentscheid-in-Berlin-am-Sonntag/!5920393
 (DIR) [2] /Volksentscheid-Berlin-2030-klimaneutral/!5919891
 (DIR) [3] /Neuer-Bericht-des-Weltklimarats-IPCC/!5920070
       
       ## AUTOREN
       
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