# taz.de -- Verschwundene Geflüchtete: Flucht auf die Bühne
       
       > Sultana Sediqis Onkel ist einer von Tausenden Mittelmeer-Geflüchteten,
       > die vermisst wurden. Hilfsangebote gibt es kaum. Sediqi will das ändern.
       
 (IMG) Bild: Floh als Kind aus Afghanistan: Sultana Sediqi, hier in Erfurt am 17. März 2023
       
       ERFURT taz Sultana Sediqi kommt lächelnd und außer Atem in das Café am
       Erfurter Domplatz. Die 18-Jährige ist im Vorabiturstress. Hinzu kommt ihre
       ehrenamtliche Arbeit, über die sie teilweise selbst den Überblick zu
       verlieren scheint. Sie ist in zahlreichen (post-)migrantischen Initiativen
       aktiv, erhält Preise für ihr Engagement. Als Kind [1][aus Afghanistan]
       geflohen, lebt sie seit knapp 10 Jahren in Erfurt und ist bestens vernetzt.
       
       Immer wieder wird das Treffen an diesem Februartag unterbrochen, weil
       Bekannte sie freudig begrüßen. In ihrer Gegenwart könne man sich fallen
       lassen, erzählen Freund*innen. Von ihrem Optimismus werde man einfach
       mitgezogen.
       
       Der Grund des Treffens ist der 5. Oktober 2022, der eine bleibende Wunde im
       Leben von Sediqi und das ihrer Familie hinterlassen hat. Sie senkt die
       Stimme, wenn sie davon erzählt: Sie war damals in der Schule, schrieb einen
       Test und hat irgendwann die Nachricht ihrer Mutter erhalten: Während
       [2][der Flucht] über das Mittelmeer sei ihre Tante gerettet worden, doch
       von ihrem Onkel Abdul Wasi Ahmadi, zu dem Sediqi seit ihrer Kindheit eine
       enge Bindung hat, fehle jede Spur.
       
       Zeitgleich gab es erste Medienmeldungen von [3][zwei Schiffswracks] vor der
       griechischen Küste. Der Optimismus, ihre hoffnungsvolle Art, „in dem Moment
       hat sich all das gelegt“, sagt Sediqi rückblickend. Danach haben sich die
       Ereignisse überschlagen: Ihr Cousin ist direkt nach Griechenland gereist
       und hat versucht, auf eigene Faust seinen Vater zu finden. Auch Sultana
       verbrachte die folgenden Tage in der Schwebe zwischen Ohnmacht und
       Hoffnung: „Niemand sagt dir, was du machen kannst in einem solchen Moment.“
       
       ## Alarmphone eine der wenigen Anlaufstellen
       
       Zwischenzeitlich machte sie sich sogar Vorwürfe, auf eine solche Meldung
       nicht vorbereitet gewesen zu sein. Sie kontaktierte Freund*innen,
       Politiker*innen, griechische Krankenhäuser und Hilfsorganisationen –
       allerdings ohne Erfolg. Ihr Onkel blieb verschwunden.
       
       Die UNO-Flüchtlingshilfe spricht allein für das Jahr 2022 von fast 2.000
       Menschen, die während ihrer Flucht über das Mittelmeer als verstorben oder
       vermisst gemeldet wurden. Die Dunkelziffer liegt deutlich höher. Eines der
       wenigen Hilfsangebote für Angehörige kommt von [4][Alarmphone].
       
       Das transnationale Netzwerk Ehrenamtlicher bietet seit acht Jahren eine
       Seenotrettungshotline an, die Menschen auf dem Mittelmeer anrufen können.
       Seitdem wird Alarmphone aber auch immer wieder von Angehörigen kontaktiert,
       die ihre Familienmitglieder vermissen.
       
       Seit 2022 bietet die Gruppe deshalb eine Checkliste an, die Suchenden bei
       der Orientierung hilft. „Wir sind teilweise in Kontakt mit Menschen, die
       uns schon seit Jahren anrufen und nach ihren Angehörigen suchen“, sagt
       Britta Rabe von Alarmphone. Sie erlebe immer wieder, dass Familien bei der
       Suche auf sich alleine gestellt seien. Auch Sultana Sediqi hat das erlebt.
       
       „Wir sind in Griechenland auf Menschen gestoßen, die auch Angehörige
       vermissen. So konnten wir uns vernetzen und wussten: Wir sind nicht
       allein“, sagt sie über ihre eigene Reise damals zum Ort der Katastrophe
       kurz nach der schrecklichen Nachricht. Mitarbeiter*innen von
       Alarmphone hatten ihr durch lokale Kontakte geholfen, ihre Tante in einer
       Notunterbringung ausfindig zu machen.
       
       Ihr Cousin koordinierte sich vor Ort mit Überlebenden und anderen Menschen,
       die ihre Familienmitglieder vermissen. Auch sie waren deshalb nach
       Griechenland gereist – teilweise aus Deutschland, aber auch aus England und
       den USA.
       
       ## Viele wissen nichts
       
       Dabei erfuhr er auch, dass die griechische Küstenwache Tage später weitere
       Leichen bergen konnte. Unter den Toten konnte er schließlich seinen Vater
       identifizieren. „Die Gewissheit über seinen Tod war eine Erleichterung,
       weil wir dadurch endlich trauern konnten“, sagt Sultana Sediqi. „Wie viele
       wissen das nicht von ihren Angehörigen?“
       
       Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) ist eine der wenigen
       Anlaufstellen, die Vermisstenanzeigen weltweit entgegennimmt. Laut Lucile
       Marbeau vom ICRC ist dieses Hilfsangebot jedoch wenig bekannt, sodass viele
       Fälle gar nicht erfasst würden.
       
       Dabei seien die Folgen für Angehörige gravierend und würden zu wenig
       thematisiert. „Die Menschen erleben einen kaum aushaltbaren Zustand
       zwischen Hoffnung und Verzweiflung“, so Marbeau. Zudem gehe damit auch ein
       erheblich höheres Armutsrisiko einher. Vor allem Frauen seien davon
       betroffen, weil ohne Totenschein etwa keine finanziellen Hilfen ausgezahlt
       würden oder die Männer als Ernährer der Familie wegbrächen.
       
       Außerdem fehle es noch an standardisierten Verfahren, um effizientere
       Suchen zu ermöglichen. „Wir arbeiten gerade daran, mit geschultem Personal
       mit Überlebenden zu sprechen, um Passagierlisten zu erstellen und dadurch
       die Nachverfolgung zu verbessern.“
       
       ## Viel positives Feedback
       
       Zwar hat die Nachricht vom Tod des Onkels der Familie Gewissheit gebracht,
       aber die erlebte Hilflosigkeit während der Suche begleitet Sediqi bis
       heute. Dass sie darüber reden kann, ist auch einer Unterstützungsgruppe von
       Freund*innen zu verdanken, die sich seitdem regelmäßig in Erfurt trifft.
       
       Sie haben sich entschieden, Sediqis Erfahrung öffentlich zu machen und am
       17. März eine Veranstaltung im Zughafen in Erfurt organisiert, bei der über
       150 Menschen zusammenkamen – deutlich mehr als erwartet. Dort wurde die
       Bühne zum Raum für diejenigen, die von ihrer Fluchterfahrung erzählen
       wollten, von dem Überleben und auch vom Verlust und Vermissen ihrer
       Angehörigen.
       
       „Ich habe viel positives Feedback bekommen“, sagt Sediqi am Tag danach,
       „auch von Menschen, die ich zuvor nicht kannte, aber die das gleiche
       Schicksal teilen.“ Sie ist sichtlich erschöpft. Aber sie will weitermachen.
       
       Für sich, für ihren Onkel und für all diejenigen, die mit ihrem Schmerz
       allein gelassen werden und in der öffentlichen Debatte untergehen. „Ich
       glaube daran, dass unsere Geschichten etwas verändern können“, sagt sie.
       
       5 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [4] https://alarmphone.org/de/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thilo Manemann
       
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