# taz.de -- Visionäre schottische Dudelsackspielerin: Sackpfeifen for Future
       
       > Die Schottin Brìghde Chaimbeul haucht dem Dudelsack Avantgarde ein. Das
       > beweist ihr neues Drone-Album „Carry Them With Us“.
       
 (IMG) Bild: Brìghde Chaimbeul ist Mitte zwanzig und stammt aus der gälischsprachigen Community der Isle of Skye
       
       Auf der Liste der Mittel und Substanzen, die einen Rauschzustand auslösen
       können, hat ein Gegenstand bislang gefehlt: der Dudelsack – zumindest, wenn
       er von Brìghde Chaimbeul gespielt wird. Dann entströmen der Sackpfeife
       endlos erscheinende Töne, die sich umschlängeln, antanzen und zu einem
       Sound zusammenfinden, der jeden Raum in Hypnose versetzt.
       
       Brìghde Chaimbeul ist Mitte zwanzig und stammt aus der gälischsprachigen
       Community der Isle of Skye, weit im Norden Schottlands. Im Alter von sieben
       Jahren hat sie begonnen, den Dudelsack zu spielen, mit siebzehn trat sie
       beim großen Zapfenstreich, der Edinburgh Military Tattoo, in der
       schottischen Hauptstadt auf.
       
       Damals spielte sie noch die Highland Bagpipes, bekannt von Militärparaden
       und dem privaten Dudelsackspieler von Queen Elizabeth II. Mittlerweile
       spielt Chaimbeul die Smallpipes, die wegen ihres kleineren Volumens auch in
       Pubs gespielt werden können.
       
       Es ist ein Zeichen: Der Dudelsack gehört nicht dem Militär, er ist ein
       Folkinstrument und zu Hause dort, wo Musik nicht große Erzählungen, sondern
       kleine Geschichten transportieren soll. Mit eben so einem kleinen Dudelsack
       saß Brìghde Chaimbeul im Herbst letzten Jahres auf einem kleinen Stuhl im
       Kölner Stadtgarten, neben ihr der irische Multiinstrumentalist Jamie
       Murchadh, um sie herum im Publikum andächtige Stille. Die beiden greifen
       traditionelle Melodien auf und variieren sie. Improvisation sei eine Art,
       die Tradition lebendig zu halten, hat Chaimbeul einmal in einem Interview
       erzählt.
       
       Ein klein wenig ist es schon auch ihr Verdienst, dass der Dudelsack
       überhaupt abseits der traditionalistischen Folkszene wahrgenommen wird. Im
       Jahr 2021 spielte sie auf der Eröffnung des Weltklimagipfels in Glasgow und
       zuletzt veredelte ihr Dudelsack [1][den Hyperpop von US-Sängerin Caroline
       Polachek].
       
       Auf ihrem neuen Album „Carry Them With Us“ hat Chaimbeul nun aber den
       perfekten Partner für ihre Musik gefunden: den kanadischen Jazzsaxofonisten
       Colin Stetson. Stetson spielt sein Instrument mit der Zirkularatmung. Er
       atmet so ein, dass er dazu nicht das Saxofon vom Mund nehmen muss. So
       entlockt er ihm gedehnte, schwebende Töne, die er mithilfe von Effekten zu
       einem Grollen anschwellen lässt.
       
       Auf „Carry Them With Us“ ist Stetsons Saxofon ein ständiger Begleiter. Mal
       breitet es einen Teppich aus tieffrequenten Drones aus, auf den Chaimbeul
       ihren Dudelsack betten kann. Ein anderes Mal begeben sich die beiden in ein
       Duett und schrauben den Sound ihrer Instrumente in Spiralform in Richtung
       Freakout.
       
       ## Wie ein zwitschernder Vogel
       
       Und in manchen Momenten erklingt Chaimbeuls Stimme auf Gälisch oder als
       purer Laut – so wie ein Vogel, der zu dieser Musik selbstvergessen
       zwitschert. Folk ist auf „Carry Them With Us“ nicht die Wiederkehr des
       Immergleichen, sondern die Suche nach Transzendenz, einer Flucht vor dem
       Irdischen, die am ehesten durch das Zusammenspiel von Instrumenten gelingen
       kann.
       
       Auch das hat Tradition. Die Folkmusik der britischen Inseln ist
       gekennzeichnet von der visionären Suche nach einer Existenzweise jenseits
       von Little England. Im 19. Jahrhundert wurden die ländliche Folkmusik und
       ihre Tänze zur Antithese der Verelendung in den Industriestädten
       stilisiert, in den 1960ern wurde sie zum Träger utopischer Sehnsüchte und
       des Experiments mit neuen Bewusstseins- und Lebensformen.
       
       Als dieses Weird New Britain in den Nullerjahren von archäologischen
       Pop-Nerds wiederentdeckt wurde, geschah dies oft in der Form von Pastiche:
       Die Musik klang wie aus den 1960ern, aber die Suche nach dem
       Grenzüberschreitenden war einer Stilsicherheit gewichen, die keine
       Abweichung tolerierte.
       
       Brìghde Chaimbeul interessiert sich nun dafür, was passiert, wenn man diese
       Suchbewegung wieder aufgreift. Wie bei dem bretonischen Dudelsackpfeiffer
       [2][Erwan Keravec] ist das Mittel ihrer Wahl Minimal Music. Deren
       kompositorische Strenge erreicht in den besten Momenten einen
       psychedelischen Zustand des Fließens. Auch die Muster in ihrem
       Dudelsackspiel kehren wieder, verschieben und umkreisen sich. Zur Ruhe
       kommen sie jedoch nie. Ihrer Musik zuzuhören, ist ein Trip, eine Erfahrung:
       ein Blasinstrument als psychotrope Substanz.
       
       18 Apr 2023
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Werthschulte
       
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