# taz.de -- Schule neu gedacht: Zu viel, zu alt, nicht nachhaltig!
       
       > Die Kritik am Schulsystem ist seit Jahren die Gleiche, verändert wird
       > trotzdem nichts. Es braucht andere Lernweisen und keinen 45-Minuten-Takt.
       
 (IMG) Bild: Eine 9. Klasse der Europaschule in Guben
       
       Eigentlich wissen wir doch, wie Lernen gelingt. Es soll Spaß machen, mit
       sinnvollen Inhalten gefüllt werden, deren Nutzen wir erkennen, und es soll
       zu unserem Wissensstand passen. Fortbildungen in der Arbeitswelt mögen
       diesen Prinzipien vielleicht noch folgen. Im Schulsystem lassen sie sich
       dagegen nur schwer erfüllen, sagt Anke Langner, Professorin für
       Erziehungswissenschaft an der Technischen Universität Dresden.
       
       Hier erwarten wir von den Kindern, dass sie mit gleicher Begeisterung und
       gleichem Erfolg englische Grammatik, römische Geschichte oder binomische
       Formeln lernen und wiedergeben. Und zwar im 45-Minuten-Takt, einzig
       unterbrochen von kurzen Pausen. Das geflügelte Wort vom [1][Bulimie-Lernen]
       beschreibt es wohl ganz gut. Lernen im Akkord, bereit, das Wissen für die
       Klassenarbeit auszukotzen und danach schnell wieder zu vergessen.
       
       Tatsächlich wurden die Lehrpläne in den letzten Jahren kaum entschlackt.
       Längst kommt auch Kritik aus der Lehrerschaft. Sie beklagt immer weniger
       Zeit für ein pädagogisches Miteinander, geschweige denn für eigene Projekte
       oder neugierige Umwege.
       
       Doch was ist die Alternative? Ein häufiger Reflex ist die Forderung nach
       neuen Fächern – weniger Latein und weniger Goethe, dafür mehr Lebenspraxis
       – wie funktionieren Aktien-Märkte, wie schließt man Versicherungen oder
       Mietverträge ab. Sehr beliebt ist auch das Fach Digitalisierung. Was in der
       Diskussion gern übersehen wird: Noch mehr Fächer sind der falsche Weg. Und
       mal ehrlich, [2][wer sollte denn Digitalisierung unterrichten?] Den meisten
       Lehrkräften fehlt dafür schlicht die Kompetenz. Auch in der
       Lehrerausbildung werden die nötigen Inhalte nicht gelehrt.
       
       Zum Glück gibt es auch sinnvolle Impulse, zum Beispiel eine stärkere
       Fokussierung auf wichtige Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und die
       Grundrechenarten. Das sollten junge Menschen am Ende ihrer Schullaufbahn
       sicher beherrschen. Selbstverständlich ist das nicht: So verließen 2021
       laut Bertelsmann Stiftung 47.500 junge Menschen die [3][Schule ohne
       Abschluss]. Ihre Chancen auf einen Ausbildungsplatz sind damit gering.
       Natürlich muss und soll Schule weiterhin handfestes bis theoretisches
       Wissen vermitteln. Aber wie?
       
       ## Kinder könnten bei Citizen-Science-Projekten mitmachen
       
       Das Weltwissen wächst rasant, gleichzeitig ändert sich unser Verhältnis zum
       Wissen. Nicht erst seit ChatGPT ist reines Auswendiglernen völlig unnötig.
       Unser Gehirn ist schließlich zu Höherem berufen als dem simplen Abspeichern
       von Informationen. Viel wichtiger ist die kreative Anwendung von Wissen,
       das Finden von gemeinsamen Lösungen und das Denken in größeren
       Zusammenhängen – genau darin sind wir künstlicher Intelligenz (noch)
       überlegen.
       
       Genau deshalb formulierte die Organisation für wirtschaftliche
       Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 2019 auch die sogenannten Future
       Skills – Kompetenzen also, die Schule in Zukunft vermitteln sollte. Hier
       finden sich sinnvolle Ideen wie Problemlösungskompetenz, kritisches Denken,
       Kreativität, Flexibilität, Eigeninitiative, interkulturelle und technische
       Kompetenz.
       
       Fähigkeiten, deren Wichtigkeit einleuchtet, die aber trotzdem von den
       Lehrplan-Machenden weitestgehend ignoriert werden. „Mit klassischer
       Fächertrennung lassen sich solche Kompetenzen kaum vermitteln. Schließlich
       geht es darum, die Komplexität der Welt zu verstehen und verschiedene
       Perspektiven einzunehmen“, sagt Langner. Die Zukunft liege deshalb in einer
       breiten Betrachtung der Welt statt in einzelnen Fächern.
       
       Zum Beispiel könnten sich die Schülerinnen und Schüler aus ganz
       unterschiedlichen Perspektiven mit dem Klimawandel beschäftigen – mit den
       naturwissenschaftlichen Prinzipien des Temperaturanstiegs und den Folgen
       für die Artenvielfalt, Lösungen für soziale Fragen entwerfen, die aus der
       Klimakrise entstehen, oder im Fremdsprachenunterricht mit Menschen aus dem
       Globalen Süden über ihr Erleben der Klimaveränderungen sprechen.
       
       Sie könnten sich mit Verschwörungstheorien zur Klimakrise beschäftigen oder
       sich an Citizen-Science-Projekten zur Artenbeobachtung beteiligen, etwa aus
       der Ferne Fotofallen aus dem Dschungel auswerten. Diese breite
       Betrachtungsweise lässt sich auch auf andere Themen übertragen – künstliche
       Intelligenz zum Beispiel, in den Naturwissenschaften aus einer eher
       technischen Perspektive, im Politikunterricht aus einem
       ethisch-gesellschaftlichen Blickwinkel.
       
       ## Deutschland trennt besonders stark nach Leistungsniveau
       
       Doch eine Veränderung der Inhalte allein reicht nicht aus. Auch wie gelernt
       wird, muss sich drastisch verändern, findet Britta Klopsch, Professorin für
       Schulpädagogik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). „Wenn wir es
       mit der Inklusion und der Überwindung eines selektiven Schulsystems ernst
       meinen, müssen wir Lernen und den Schulalltag stärker individualisieren“,
       sagt sie.
       
       Im internationalen Vergleich trennt unser Schulsystem besonders stark nach
       Leistungsniveaus. Um das zu überwinden, hat Klopsch eine Vision: Statt mit
       30 anderen in einem Raum zu sitzen und einem durchgetakteten Stundenplan zu
       folgen, könnten die Schülerinnen und Schüler in Zukunft stärker über das
       eigene Lernen bestimmen.
       
       Logo-Kindernachrichten oder ein Kinderpodcast können genauso gut einen
       Themeneinstieg bieten wie ein Schulbuch oder das Video-Gespräch mit
       Forschenden. Ob sie einen Vortrag zu Hause ausarbeiten oder in einem
       ruhigen Raum der Schule ein Lernvideo für die anderen Kindern aufnehmen,
       bliebe ihnen überlassen.
       
       Gewonnene Erkenntnisse verschwinden dann nicht in Heften, sondern werden
       aufbereitet und mit den anderen geteilt – als Video, Kurzgeschichte oder
       Podcast. Statt mit Hausaufgaben und Frontalunterricht lernen die Kinder
       häufiger voneinander. Die Lehrkräfte vermitteln nun weniger Inhalte,
       sondern unterstützen beim Lernen.
       
       ## Wendiges Schiff statt schwerer Tanker
       
       Wie eng die Begleitung ist, hängt dabei ganz vom Kind ab. Manche brauchen
       stärkere Vorgaben und eine enge Begleitung durch die Pädagoginnen und
       Pädagogen, andere genießen Freiheiten. Gleichzeitig sorgen die Lehrkräfte
       dafür, dass die Kinder im Austausch bleiben, zusammenarbeiten und nicht zu
       lernenden Einzelkämpfern und Einzelkämpferinnen werden.
       
       Wie lassen sich Fächer und Lehrpläne neu denken, wenn das Bildungssystem an
       fehlenden Mitteln und föderalen Grabenkämpfen krankt? „Wir brauchen mehr
       Schullabore in der Breite, mehr Platz zum Ausprobieren im pädagogischen
       Alltag“, sagt Klopsch. Sie schiebt aber auch selbst einen Hinderungsgrund
       hinterher. [4][Der Berufsalltag von Lehrkräften werde immer voller, viele
       seien bereits am Limit].
       
       Auch wegen ihrer Arbeitsbelastung und Gesundheit wäre es dringend nötig,
       Ballast abzuwerfen und die Lehrpläne von schweren Tankern zu wendigeren
       Schiffen zu machen.
       
       30 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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